„Sonne“ ist ein Film über Kopftücher, denn junge Frauen setzen darin ein Kopftuch auf. „Sonne“ ist auch das Gegenteil eines Films über Kopftücher, denn es geht ihm weder um die Unterdrückung muslimischer Frauen durch Kleidungsvorschriften noch um die bewusste Zurschaustellung muslimischer Identität durch ein Tuch.
Bella, Yesmin und Natalie sind Freundinnen in Wien, alle um die 17. Yesmin, in Österreich geborene Tochter kurdischer Flüchtlinge, trägt Haube. Eines Tages finden die drei es eine coole Idee, dass sie alle Kopftücher aufsetzen, „Losing My Religion“ von R.E.M. singen und das Video auf YouTube stellen. Die kurdisch-muslimische Gemeinde findet’s, wider Erwarten, auch ziemlich cool und lädt ihre drei „Stars“ sogar zu Auftritten ein.
Und wo ist hier der Konflikt der Zivilisationen? Eigentlich geht es der 32-jährigen Regisseurin Kurdwin Ayub, in Österreich sozialisierte Tochter kurdischer Flüchtlinge, um etwas anderes. Nennen wir es das Chaos der Zivilisationen. Des Erwachsenwerdens. Der sozialen Medien, die ihren Abhängigen einreden, sie könnten alles werden, heute dies und morgen das Gegenteil. So viele Vorbilder, so viel Geilheit, so viele Sehnsüchte. So viele Rollen, die gespielt werden wollen. Wie soll aus multiplen Alter Egos Identität entstehen?
„Sonne“ beschreibt nicht Identität, eher deren Auflösung. Genauer: die Sehnsucht, in der anderen Kultur das zu finden, was man in der eigenen vermisst – und nicht fündig zu werden. Yesmin legt irgendwann ihr Kopftuch ab. Was kann es noch bedeuten, wenn ihre besten Freundinnen es lediglich als Accessoire betrachten? Es ist für sie kein bedeutungsschwerer Akt. Bella und Natalie haben ein Beuteschema: Sie greifen sich Flüchtlingsjungs – und eines Tages folgen sie denen in den Irak, wo alles regulierter und warmherziger zu sein scheint; grenzenlose Freiheit macht auch müde. „Losing my Religion“ bedeutet nicht nur, sich von seiner Religion zu entfremden, sondern auch, „die Geduld verlieren“.
Ayubs Film kann weder mit Identitätsfetischisten noch mit Kulturwahrern etwas anfangen. Er schildert die existenzielle Verwirrung in der westlichen Welt – und ist so gut, weil er nicht Partei ergreift. Verwirrung lässt sich nicht mit Mitteln der Ordnung beschreiben, und „Sonne“ verstößt lustvoll gegen gängige Filmregeln.
„Ich besetze keine Schauspielerinnen, sondern Persönlichkeiten“, sagt Ayub. Ihre Darstellerinnen (Melina Benli, Law Wallner und Maya Wopienka) sind weder Laien noch Professionelle, Ayub hat mit ihnen bereits in Videos gearbeitet, kannte ihre Reaktionen. Sie konnte sie in eine Situation hineinstellen, ihnen ein paar Stichworte hinwerfen und dann improvisieren lassen (und manchmal wurde diese Improvisation so lange wiederholt und geschliffen, bis eine gute Szene daraus wurde; Freiheit und Disziplin, eine fruchtbare Verbindung).
Kino behauptet gern, die „Realität“ von Teenagern zu zeigen, geskriptet von Regisseuren, die ein oder zwei Generationen älter sind. „Sonne“ liegt wirklich unglaublich nahe an diesem Lebensgefühl. Dies ist kein „Coming of Age“-Film, wie die Rubrik heißt, die man für die Vermarktung erfunden hat, hier sind die Schmerzen der Identitätssuche und des Selbstständigwerdens und die entscheidende Rolle der Medien dabei aufs Engste verknüpft.
Dieses diffuse Gefühl ist unvereinbar mit „sauberen“ Bildern, ordentlich kadriert und ausgeleuchtet. Es gibt wohl sonst keinen Kinofilm, der die Handyvideo-Ästhetik so konsequent aufgreift, inklusive des Hochkantbildes, des Blicks der Smartphone-Generation in die Welt von heute, und der Textnachrichten, die sie antreiben. Es sind „schlampige“ Bilder, manchmal haben sich die Mädels selbst gefilmt, authentischer geht es nicht.
Am Ende ist man bei einer anderen Definition von „Identität“, die nichts mit Volkszugehörigkeit, Hautfarbe oder Geschichte zu tun hat. „Identität bedeutet gemeinsame Erfahrungen und Emotionen“, definiert die Regisseurin den Begriff für sich. Demnach gäbe es nur individuelle Identitäten und keine kollektiven, nur situative und keine permanenten. Ihr Name bedeutet zwar „Ich liebe die Kurden“. Aber Kurdwin wäre nicht Kurdin. Kurdwin wäre nur Kurdwin.