„Die Realität ist bedenklich. Also lud der Kreml alle unabhängigen Medien auf den Friedhof ein“, schreibt Chefredakteur Kirill Martynow in der „Nowaja Gaseta Europa“ (deutsch: Neue Zeitung Europa). Das „großzügige Angebot“ habe er jedoch abgelehnt und brachte die ehemals größte unabhängige Zeitung Russlands nach Europa. Am 24. November erschien die erste Ausgabe der gedruckten Zeitung in Deutschland. Geschrieben wurde sie von Redakteuren, die nach Ausbruch des Krieges ins Ausland flohen. Denn ihre Arbeit in Moskau wurde kurz nach Russlands Einmarsch in die Ukraine praktisch verboten.
Anfang März erließ Wladimir Putin ein Gesetz, das angebliche Falschnachrichten über die „Spezialoperation“, wie der Krieg in der Ukraine genannt wurde, unter Strafe stellt. Journalisten drohten für die „öffentliche Verbreitung falscher Informationen“ Geldstrafen, Freiheitsentzug oder Schlimmeres. Schon davor wurde die Pressefreiheit immer wieder attackiert: Unter der Regierung Wladimir Putins wurde die unabhängige Berichterstattung immer schwieriger, Medienhäuser kamen unter staatliche Kontrolle, Journalisten wurden als „ausländische Agenten“ betitelt und mit Repressalien belegt.
Seit der Gründung der „Nowaja Gaseta“ im Jahr 1993 berichtete die Zeitung rund um Chefredakteur und Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow kritisch über die Regierung. Sie deckten Korruptionsfälle auf und schrieben über Verbrechen der russischen Armee. In den 2000er-Jahren wurden sechs Journalisten mutmaßlich aufgrund ihrer Arbeit bei Mordanschlägen getötet.
Die Gesetze, die im März 2022 erlassen wurden, bedeuteten de facto ein Arbeitsverbot für oppositionelle Stimmen. Auch unabhängige Medien wie der Online-Fernsehkanal Doschd oder der Radiosender Echo Moskwy waren betroffen, die russische Website der Nowaja Gaseta ebenso. Die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor drohte, letzter die Lizenz zu entziehen. Am 28. März stellte die Zeitung ihre Arbeit in Russland ein, am 5. September entzog ein Moskauer Gericht der Zeitung schließlich die Drucklizenz.
Neue „Nowaja Gaseta“-Redaktion in Lettland
Um weiterhin unzensiert berichten zu können, gingen 45 der insgesamt 75 Angestellten ins Ausland – nach Lettland, Polen, Österreich oder Deutschland. In Riga formierte sich im April ein neuer Hauptsitz der „Nowaja Gaseta Europa“. Nach zwei Printausgaben in Lettland möchte die Zeitung nun die Leser hierzulande erreichen: „In Deutschland gibt es eine große russischsprachige Gemeinschaft“, sagt Michael Komin aus der Rigaer Redaktion. Viele dieser Menschen würden sich bei kremlnahen Medien oder dem russischen Staatsfernsehen informieren. „Innerhalb der russischsprachigen Gemeinschaft in Deutschland gibt es viele Putinversteher“, sagt Komin. Die Zeitung wolle sich als alternative Informationsquelle zu Russlands Propaganda positionieren.
24 Seiten umfasst die neue Ausgabe und liegt als Beilage der 1996 in Berlin gegründeten russischsprachigen Zeitung „Russkaja Germanija“ (deutsch: Russisches Deutschland) bei, die seit Beginn des Krieges „Redakzija Germanija“ (deutsch: Redaktion Deutschland) heißt. In den Artikeln wird unter anderem die Gaskrise in Deutschland thematisiert oder analysiert, welche Bedrohung von deutschen Bloggern und Journalisten ausgeht, die mit Putin sympathisieren. Doch auch ihr Markenzeichen, investigative Reportagen, werden gedruckt. In einer der Geschichten wird die russische Schulreform kritisch beleuchtet, die Kindern „Patriotismus“ im Unterricht „beibringt“. Dort würden Schüler Wladimir Putins Aussagen über die „Spezialoperation“ studieren, den „Eintritt“ der ukrainischen Gebiete zu Russland feiern und lernen, die Ukraine und die Nato zu hassen.
Über zwei Millionen Russischsprachige in Deutschland
Die Zeitung hofft, eine möglichst breite Zielgruppe in Deutschland zu erreichen. 60.000 Exemplare wurden für die erste Ausgabe gedruckt. Laut Migrationsforscher Jannis Panagiotidis lebten in Deutschland im Jahr 2020 rund 2,2 Millionen Erwachsene, die Russisch als Muttersprache haben oder es fließend sprechen. Viele von ihnen kamen ab den 1990er-Jahren als Spätaussiedler oder jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland.
Russlands Krieg löste eine weitere Migrationsbewegung nach Deutschland aus. Aus der Ukraine kam rund eine Million Geflüchteter an. Neben der ukrainischen Amtssprache beherrschen die meisten Ukrainer auch Russisch, da das Land während der Zugehörigkeit zur Sowjetunion Russisch als Amtssprache durchsetzen musste. Doch auch Russen, die gegen Wladimir Putins Regime sind oder der Teilmobilisierung entfliehen wollen, haben Zuflucht in Deutschland gefunden. Aus dem Auswärtigen Amt heißt es, dass zwischen März und Ende Oktober 2022 insgesamt rund 53.300 Visa für russische Staatsangehörige ausgestellt wurden.
Ob die Zeitung im Kreis der Ukrainer oder Exil-Russen Anklang findet oder sich eher in der russischsprachigen Diaspora durchsetzt, bleibt offen. „Dafür ist die Testphase da“, sagt Komin. Die zweite Druckausgabe soll im Dezember erscheinen.
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