WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Kultur
  3. Kinder als Trauma: Der neue Mutter-Komplex und wie man ihn überwindet

Meinung Kinder als Trauma

Der neue Mutter-Komplex und wie man ihn überwindet

Trügerisches Klischee vom Mutterglück Trügerisches Klischee vom Mutterglück
Trügerisches Klischee vom Mutterglück
Quelle: Getty Images
Hier können Sie unsere WELT-Podcasts hören
Um eingebettete Inhalte anzuzeigen, ist deine widerrufliche Einwilligung in die Übermittlung und Verarbeitung von personenbezogenen Daten notwendig, da die Anbieter der eingebetteten Inhalte als Drittanbieter diese Einwilligung verlangen [In diesem Zusammenhang können auch Nutzungsprofile (u.a. auf Basis von Cookie-IDs) gebildet und angereichert werden, auch außerhalb des EWR]. Indem du den Schalter auf „an“ stellst, stimmst du diesen (jederzeit widerruflich) zu. Dies umfasst auch deine Einwilligung in die Übermittlung bestimmter personenbezogener Daten in Drittländer, u.a. die USA, nach Art. 49 (1) (a) DSGVO. Mehr Informationen dazu findest du hier. Du kannst deine Einwilligung jederzeit über den Schalter und über Privatsphäre am Seitenende widerrufen.
Jennifer Aniston, Wolke Hegenbarth, Sheila Heti – dass viele Frauen Mutterschaft kritisch sehen, liegt nicht nur an Schlafentzug und Dauerstress. Ein Kind erscheint als Auflösung des Ichs. Doch es gibt einen Ausweg aus dem Dilemma, sich zwischen Selbstverwirklichung und Elternschaft entscheiden zu müssen.

Vor Kurzem erklärte die Schauspielerin Wolke Hegenbarth in einem „Spiegel“-Interview, das erste Jahr mit ihrem Kind sei regelrecht „traumatisch“ gewesen. Das Kind habe nie länger als zwei Stunden am Stück geschlafen, es habe wie ein Koala an ihr gehangen, Tag und Nacht. Ein zweites Kind, so Hegenbarth, wollten sie und ihr Partner auf keinen Fall bekommen.

Sie gewährte damit Einblick in eine oft ausgeblendete Realität der Mutterschaft. Der Begriff des Traumas, den wir gewöhnlich für schwerste seelische Schädigungen reservieren, ist dabei auffällig. Zunächst einmal kann vermutlich jeder nachvollziehen, dass es erschöpft, wenn man seine Nächte mit einem schreienden Säugling verbringt.

Auch bei mir war es so. Mein Sohn schlief einige Monate lang ebenfalls nie länger als eine Stunde am Stück. Ich fühlte mich wie ein Zombie. Mein Kurzzeitgedächtnis ging praktisch verloren, keine Ahnung, wie ich als Autorin in dieser Zeit gearbeitet habe. Ich weiß allerdings, dass ich sehr viele Texte schrieb, in denen ich mich frustriert über die Lage von Müttern äußerte. Ich verstehe also, warum Hegenbarth diese Erfahrung nicht noch einmal machen möchte.

Es heißt, es sei ein Tabu, über negative Aspekte von Mutterschaft zu sprechen oder gar darüber, dass nicht wenige Frauen es bereuen, überhaupt Mutter geworden zu sein. Es handelt sich allerdings um das wohl am häufigsten gebrochene Tabu der Gegenwart, wenn man sich die Zahl von Büchern, Filmen, Podcasts und Interviews ansieht, in denen es um die Schattenseiten von Mutterschaft geht.

„Regretting Motherhood“

Zuletzt etwa erschien der Film „Mutter“ von Carolin Schmitz, der aus dem Leben von acht Müttern mit allen Höhen und Tiefen erzählt. Eines der bekanntesten Mutter-Bücher der letzten Jahre stammt von der kanadischen Schriftstellerin Sheila Heti, die in „Motherhood“ von 2018 (buchstäblich) Münzen wirft, um sich der entscheidenden Frage zu nähern: Soll ich ein Kind bekommen?

Schon zwei Jahre zuvor ließ die israelische Soziologin Orna Donath in „Regretting Motherhood“ Frauen zu Wort kommen, die es bereuen, Mutter geworden zu sein, und löste damit eine heftige Debatte aus. Und gerade hat die Schauspielerin Jennifer Aniston in einem Interview über ihren unerfüllten Kinderwunsch gesprochen. Sie habe zwar jahrelang versucht, ein Kind zu bekommen – auch mittels künstlicher Befruchtung –, sei jetzt aber durchaus ganz zufrieden damit, eben nicht Mutter geworden zu sein.

Es ist, als sei ein Damm gebrochen. Gut, womöglich eine unschöne Metapher im Kontext von Mutterschaft – jedenfalls hat sich eine Tür geöffnet. Nein, Mutterschaft ist kein Himmelhoch-Jauchzen, kein auf Dauer gestelltes Vergnügen. Nur wer wäre je auf die Idee gekommen, dass es so sein könnte? Vielleicht bestehen verklärende Klischees über Mutterschaft auch deswegen fort, weil Muttersein, insbesondere im ersten, sehr anstrengenden Jahr, häufig mit einer gewissen häuslichen Isolation einhergeht. Nur wenige Menschen dürfen hinter die Fassade des unvorstellbar erschöpfenden Familienlebens mit Kleinstkind schauen. Den meisten Außenstehenden präsentiert man nur das zufriedene Antlitz eines pausbäckigen Babys.

Vermutlich wären aber selbst diese Herausforderungen – Monate voller Schlafentzug und Stress – verkraftbar, bedeutete Mutterschaft nicht eine totale Auflösung des modernen Subjektes. Wolke Hegenbarth bringt es auf den Punkt: „Damit, dass ich als Individuum gar nicht mehr existiere, nichts mehr machen kann, nicht mehr schlafe – damit habe ich nicht gerechnet.“

Man muss das wörtlich nehmen: Das Individuum als Unteilbares, als Wesen, das ganz für sich sein darf, wird abgeschafft. Immer schon ist da ein sabbernder Säugling, der an der Brust hängt, und mit ihm krallen sich gesellschaftliche Erwartungen an das Subjekt, das sich einmal als Frau betrachtete und nun Mutter geworden ist. Es mutet wie eine Beförderung bei gleichzeitiger Degradierung an. Mutterschaft wird Frauen als die Krönung ihres Lebens verkauft, zugleich scheint man im Moment des Mutterwerdens aufzuhören, als Frau (das heißt als sexuelles Wesen) und als Subjekt (als jemand mit individuellen Bedürfnissen) zu existieren.

Anzeige

Hegenbarth litt also nicht nur an banalem Schlafmangel, sondern, viel fundamentaler, an der Aufgabe ihres Subjektstatus: dass man, sobald man das Kind geboren hat, als Subjekt halbiert erscheint. Vielleicht liegt man auch ganz und gar in Scherben. Für dieses eine Wesen, das eigene Kind, scheint man unentbehrlich – für alle anderen ist man es nicht. Täuscht nun der Eindruck, oder leiden Mütter von heute stärker darunter als die Generation ihrer Mütter und Großmütter? Oder wagen sie es lediglich, dieses Gefühl zu artikulieren? War das Gefühl immer da – oder ist es das Produkt der Spätmoderne?

Diese fundamentale Erfahrung der Selbstauflösung jedenfalls kann man auf zweierlei Arten bearbeiten. Manche Frauen schreckt sie davon ab, weitere Kinder zu bekommen, oder bringt sie dazu, Mutterschaft insgesamt zu bereuen (was nicht heißt, dass sie ihre Kinder nicht lieben). Für mich konstituiert sich aus dieser Kränkung eine Erkenntnis: dass das spätmoderne Subjekt seinen Status als Individuum überbetont; dass diese Individualität und die daran gekoppelte Freiheit immer schon Fantasmen sind; dass im gesellschaftlichen Konstrukt das Individuum als Monade erscheint, für die das Soziale eine angenehme Option ist, aber nie eine Pflicht.

Das Soziale als Zumutung

Alles kann, nichts muss. Dieses Motto gilt heute auch für Intimbeziehungen. Der Hype um die Polyamorie (eigentlich auch nur ein Hobby für Menschen mit viel Freizeit – wer sonst kann sich multiple Beziehungen mit multiplen Persönlichkeiten emotional und zeitlich schon zumuten?), die Lockerheit, mit der Menschen heute bekunden, sie hätten sich von ihren Familien losgesagt, weil diese „toxisch“ seien, und die Einfalt, mit der Familie zur Zwangsgemeinschaft deklariert wird, in der alle nur zu leiden haben – das sind nur einige Indizien dafür, wie sehr die Verpflichtung auf das Soziale als Zumutung empfunden wird.

Diese Klage über die hyperindividualisierte Gesellschaft könnte auch von einem Konservativen vorgetragen werden. Konservative würden die Aufopferungsbereitschaft der Frau als Mutter anpreisen, ohne allerdings darauf zu sprechen zu kommen, dass Mutterschaft natürlich auch Belastung bedeutet. Und dass es alles andere als hilfreich ist, sich über die „jammernden“ Mütter zu beklagen.

Lesen Sie auch

Das war es übrigens, was erstaunlich viele Kommentatorinnen des Hegenbarth-Interviews taten: Sie zeigten sich genervt von den jammernden Müttern von heute. Ältere Generationen von Frauen hätten sich nie beklagt, obgleich sie so viel mehr Zeit in Kinderpflege und Hausarbeit investieren mussten.

Ein wenig erinnerten die wütenden Reaktionen an das bekannte „Snowflake“-Argument: Die jüngere Generation sei verweichlicht und jammere zu viel. Es stimmt, die Generation meiner Mutter beklagte sich nie, auch nicht, wenn sie morgens um fünf mit einem Kind am Bus wartete, um pünktlich um sieben auf Arbeit sein zu können (ich bin ostsozialisiert). Ob es sich hierbei allerdings um „gute alte Zeiten“ handelte, sei einmal dahingestellt. Gut waren diese Zeiten wohl eher für Ehegatten und die Gesellschaft insgesamt, weniger für die Frauen, die schon deswegen nicht klagten, weil man ihnen ohnehin nicht zuhörte.

Es gab noch eine zweite Gruppe von Kommentatorinnen: Frauen, die keinen Kinderwunsch haben und den Fall Hegenbarths gewissermaßen als abschreckendes Beispiel heranziehen. Warum sollten sie ihre Zeit und Freiheit für ein schreiendes kleines Wesen opfern? Bei den Kommentaren sticht allerdings ins Auge, dass Mutterschaft ausschließlich noch als ein Konglomerat aus negativen Aspekten wahrgenommen werden kann. Das ist in gewisser Weise die Kehrseite der Mutterdiskurse der letzten Jahre: Statt die sozialen Faktoren, die Mutterschaft belasten, zu kritisieren und hoffentlich zu verbessern, wird Mutterschaft selbst als Problem wahrgenommen.

Lesen Sie auch
Anzeige

Ja, ein Kind bedeutet, dass man auf viele Jahre weniger Freizeit hat, aber das heißt noch lange nicht, dass man sich, seine Hobbys, seine Beziehungen oder beruflichen Ambitionen für immer an der Kreißsaaltür abgibt – auch wenn es in der extremsten Zeit des Selbstverlusts unmittelbar nach der Geburt so erscheinen mag. Wenn Frauen, die keinen Kinderwunsch haben, ihre Entscheidung begründen, zeichnen sie ein Zerr- und Klischeebild von Mutterschaft als blankem Horror, der nie endet.

Man verstehe mich nicht falsch. Ich gehöre nicht zu den Müttern, die kinderlosen Frauen Mutterschaft aufdrängen wollen. Ich gehöre allerdings zu den Personen, die den Terminus „kinderfrei“, der weniger pejorativ sein soll als „kinderlos“, problematisch finden. Wie so oft wird subjektive Freiheit so als die Freiheit von etwas definiert – in diesem Falle von einer belastenden, hilfsbedürftigen anderen Person, die an der Selbstverwirklichung hindert.

Überbewertung des Individuellen

Nun sind kinderlose Menschen nicht prinzipiell selbstsüchtiger als andere. Aber unsere Gesellschaft neigt insgesamt dazu, das Individuelle gegenüber den Formen des Sozialen – ob nun als Familie, Nachbarschaft, Gemeinschaft und im weitesten Sinne Gesellschaft – radikal überzubewerten. Deswegen erscheint Mutterschaft im Gegenwartsdiskurs so prekär: Nicht weil sie zeitweise Schlafmangel bedeuten mag; sondern weil die Mutter vor zwei völlig unvereinbaren Anforderungen steht: „Verschreibe dich ganz deinem Kind!“ Und: „Verwirkliche dich selbst!“ Selbstverwirklichung als Sorge für andere – das erleben nur wenige Mutter Teresas auf Erden.

Eine unauflösliche Aporie also? Keineswegs. Die Verwirklichung unseres ziemlich gewöhnlichen Selbst setzt nämlich durchaus nicht die radikale Befreiung von allen sozialen Pflichten voraus.

Marlen Hobrack, 1986 in Bautzen geboren, veröffentlichte zuletzt „Klassenbeste“ (Hanser Berlin).

An dieser Stelle finden Sie Inhalte von Drittanbietern
Um eingebettete Inhalte anzuzeigen, ist deine widerrufliche Einwilligung in die Übermittlung und Verarbeitung von personenbezogenen Daten notwendig, da die Anbieter der eingebetteten Inhalte als Drittanbieter diese Einwilligung verlangen [In diesem Zusammenhang können auch Nutzungsprofile (u.a. auf Basis von Cookie-IDs) gebildet und angereichert werden, auch außerhalb des EWR]. Indem du den Schalter auf „an“ stellst, stimmst du diesen (jederzeit widerruflich) zu. Dies umfasst auch deine Einwilligung in die Übermittlung bestimmter personenbezogener Daten in Drittländer, u.a. die USA, nach Art. 49 (1) (a) DSGVO. Mehr Informationen dazu findest du hier. Du kannst deine Einwilligung jederzeit über den Schalter und über Privatsphäre am Seitenende widerrufen.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema