Das Leben ist sinnlos, anders aber als die Weissagungen, die Sprachen, die Erkenntnis höret die Liebe nimmer auf, und wer die Apokalypse für Cormac McCarthys letztes Wort gehalten hat, der war im Irrtum. Sechzehn Jahre ist es her, dass sich McCarthy mit einem wüsten Weltuntergang namens „Die Straße“ verabschiedet hat, jetzt, in seinem 90. Jahr, stellt sich heraus, dass die Paranoiker wie immer recht hatten und der harte alte Mann noch schrieb.
Cormac McCarthy, seit jeher auf den Teufel spezialisiert, weil auf Gott versessen, hat in der Versenkung sogar einen Doppelaltar gebaut: links der neue Roman „Der Passagier“, rechts „Stella Maris“, das Schwesterbuch (das am 22. November herauskommt). Schwesterbuch ist dabei bitte wörtlich zu nehmen: „Stella Maris“ heißt das Sanatorium, in dem die an paranoider Schizophrenie erkrankte Alicia Western einsitzt; „Der Passagier“ wiederum ist im Wesentlichen der Roman ihres Bruders Bobby, eines Ex-Rennfahrers, der mittlerweile Bergungstaucher ist.
Nichts davon ist nicht von symbolischer Bedeutung. Denken Sie an die Lebensreise, den Leitstern der Seefahrer und Tauchgänge in die Tiefsee der Vergangenheit, denken Sie aber auch daran, dass Menschen, die Western heißen, aus dem (politischen) Westen sind und McCarthy mit (postmodernen) Western berühmt wurde. Was lange bloß Stoff fürs Kino war, hat er in Klassikern wie „Blood Meridian“ oder „All die schönen Pferde“ in Hochliteratur verwandelt, zu einem Zeitpunkt, als das eigentlich niemand mehr für möglich hielt.
„Die Knochen in den Leibern der anderen“
Doch von dieser Sorte Western ist nicht mehr als der Nachname geblieben – wie ein Räuspern, bevor man nach langer Rede plötzlich von etwas ganz anderem spricht. Denn in „Der Passagier“ erlebt McCarthy seinen scientific turn, statt von Cowboys (wie in der berühmten Border-Trilogie) erzählt er von Wissenschaftlern (und weiß jede Menge über sie).
Bobby ist ein gescheiterter Physiker, Alicia eine geniale Mathematikerin, die jenseits der Grenzen des Vorstellbaren operiert, ihrer beider Vater schließlich hat mit Oppenheimer und anderen die Atombombe gebaut – „eine böse Sonne“, wie es heißt, „in deren Licht die Menschen wie eine grässliche Ankündigung ihres eigenen Endes … gegenseitig die Knochen in den Leibern der anderen sehen konnten“.
Erbsünde? Darunter tut es McCarthy nicht – selbst wenn er über Feynman, Gödel und Einstein schreibt, ist er noch gut zu erkennen: am metaphysischen Bedürfnis (für das man immer auf die Fresse kriegt) genauso wie am quasi büchnerschen Versuch, sich gesprächsweise die Schädeldecken aufzubrechen und einander die Gedanken aus den Hirnfasern zu zerren.
Schall und Wahn im Wirtshaus
„Der Passagier“ ist in der Tat vor allem ein Gesprächsroman, Schall und Wahn im Wirtshaus, an der Bar oder in einem Sanatorium, das offen zugibt, eines zu sein – das alles ohne Anführung, Abführung oder ein orientierendes „sagte er“, zumal im Fall Alicias in Wahrheit auch niemand etwas sagt. Der ewig witzelnde „Contergan-Zwerg“, der Alicia mit seiner Minstrel-Show heimsucht, ist schließlich ein Produkt ihrer Schizophrenie. Bruder Bobby wiederum bekommt es mit Vietnam-Veteranen, Transfrauen, Süchtigen und einem Anwalt zu tun, der bereit wäre, ihm zu einer neuen Identität zu verhelfen.
Denn einen Plot hat „Der Passagier“ auch – und was für einen! Gleich zu Beginn des Romans taucht Bobby Western vor der Küste von New Orleans zu einem Flugzeugwrack hinab, in dem neun Leichen treiben, der zehnte Passagier aber ist spurlos verschwunden. Locked-Room-Mystery heißt so was unter Fachleuten – nur dass dieses obendrein am Meeresgrund spielt und Bobby Western in eine pynchoneske Verschwörung verstrickt, die ihn, ungefähr in dieser Reihenfolge, seine Wohnung, seinen Kater, seinen Job, seinen Maserati und sämtliche Ersparnisse kostet.
Irgendwann ist Bobby Western nur noch auf der Flucht, wobei sich allerdings die Frage stellt, wovor er eigentlich davonläuft. Vor dem FBI oder der Mafia, die JFK auf dem Gewissen hat? Vor der verbotenen Liebe zu seiner lange aus dem Leben geschiedenen Schwester? Vor der Schuld des Vaters? Oder vor der Erkenntnis, dass es auf nichts im Leben eine Antwort gibt?
Dass Cormac McCarthy weder Gefangene noch Kompromisse macht, ist keine Nachricht. Neu, wirklich neu aber ist, dass er aus der Perspektive einer Frau erzählt. O tempora, o mores!
Cormac McCarthy: „Der Passagier“. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt, 528 S., 28 Euro.