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Wenn die Toilette zur Erlebniswelt wird

Kommen spätrömische Zustände? Kommen spätrömische Zustände?
Kommen spätrömische Zustände?
Quelle: Getty Images/Matt Cardy
Eigentlich ist der Toilettengang in unserer Gesellschaft schambehaftet. Doch in Szenerestaurants und bei Trendfrisören werden Klos zum stylischen Alleinstellungsmerkmal. Und auch anderswo werden die Schüsseln jetzt für soziale Medien fit gemacht. War es das mit dem stillen Örtchen?

Die Sonne knallt auf den Asphalt und scheucht die Besucher eines israelischen Lokals in Berlin-Neukölln nach drinnen. Die Bar ist weiß verfliest, Holzstühle erinnern an vergangene Schultage. Ich bestelle eine Gurkenlimonade (mit Trinkgeld fünf Euro). Bestellt habe ich mir das Getränk nicht, weil ich eine Erfrischung brauche – sondern einen Vorwand. Einen Vorwand, um die Toilette des Lokals aufzusuchen. Denn die bietet weit mehr als nur Klo, Waschbecken und Seife.

Der gesamte Raum ist ein einziger Traum in Lachsfarben. Noch viel interessanter aber ist der kleine CD-Player, der neben der Toilette auf einer Ablage steht. Während die Gäste hier ihre Notdurft verrichten, können sie sich statt den selbst erzeugten Plätschergeräuschen den Songs von Künstlerinnen wie Anastacia, Jennifer Lopez oder den No Angels hingeben. Fans der klassischen Musik können zu Schubert oder Beethoven greifen. Insgesamt 38 fein kuratierte CDs stellt das Restaurant seinen Gästen zur Verfügung.

Ein Trend, der auch auf TikTok zu beobachten ist: Dort finden sich aus der ganzen Welt Toiletten, die ihren Besuchern per Knopfdruck eine Lichtshow bieten oder Klos, die mit einer Aussicht auf spektakuläre Skylines aufwarten. Immer mehr Lokale gestalten ihre Toiletten aufwendig und modeln das eigentlich stille Örtchen zur Erlebniswelt um.

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Ich suche eine CD aus, lege sie in den Player und setze mich – leicht beschämt – auf die Schüssel. Sowohl gegenüber als auch seitlich von mir sind Spiegel angebracht. Praktisch, so kann ich mich von verschiedenen Perspektiven aus filmen und damit nicht nur mich, sondern gleichzeitig auch das Lokal in Szene setzen. Das Bad des Restaurants hat dafür sogar eine eigene Instagramseite. Ich möchte das Ganze verachten, banal finden, meiner nicht würdig. Denn es ist so offensichtlich, was hiermit bezweckt werden soll.

Doch der Beat von Jennifer Lopez’ (mittlerweile Jennifer Affleck) „Jenny from the Block“ geht direkt ins Ohr. Mit ein paar Zeilen hat die Sängerin mein Herz, das für poppige Trash-Musik höher schlägt, erobert. J.Los 2000er-Hit klebt sofort an mir wie Kaugummi. Anstatt diesen billigen Marketing-Gag als Sinnbild für alles Schlechte der Gegenwart zu verfluchen, wippe ich mit heruntergelassener Hose zu profanen Lyrics hin und her.

Wie die Römer

Wer mit Popmusik, Instagram und dem aktuellen Zeitgeist nur wenig anfangen kann, dürfte an dieser Stelle schnell in den Reflex verfallen, sich die guten alten Zeiten herbeizuwünschen. Nur welche? Das Mittelalter vielleicht? Damals entleerten sich die Menschen öffentlich auf den Straßen und Feldern. Selbst in den Burgen verrichteten sie ihr Geschäft einfach dort, wo es ihnen passte. Olfaktorisch war man zu dieser Zeit einiges gewohnt.

Und auch die Antike taugt nicht als Sehnsuchtszeit. Denn bereits die Römer zelebrierten den Gang zur Toilette als Event – allerdings als gesellschaftliches. Selbst Wohlhabende defäkierten damals nicht in den eigenen vier Wänden, sondern benutzten öffentliche Latrinen. Die waren zwar mitunter dekadent eingerichtet. Doch romantisieren muss man an dieser Stelle, auch sprachlich, nichts: Die Römer pinkelten und kackten munter und fröhlich nebeneinander – ohne Tür und ohne Trennwand. Dabei tauschten sie sich nicht nur über den neuesten Klatsch und Tratsch aus. Die Latrinen dienten für so manche Kaufleute als der perfekte Ort, um Geschäfte abzuschließen. Daher übrigens der Ausdruck: „Sein Geschäft verrichten“.

Diese Art des Miteinanders dürfte für den Durchschnittsmenschen der Gegenwart kaum ansprechend sein. Denn seit dem Siegeszug des Bürgertums hat sich die Toilette im Westen zum stillen und mit Scham belasteten Örtchen entwickelt. Könnte es also sein, dass unsere spätkapitalistische doch die beste aller Zeiten ist?

Um dieser Frage weiter nachzugehen, besuche ich einen Friseursalon in Berlin-Friedrichshain. Der Chef führt mich in seinen liebevoll eingerichteten Darkroom. Von den Wänden bis zum Waschbecken ist alles in Schwarz gehalten, aus Boxen an der Decke dröhnt pumpender Techno, über dem Waschbecken hängt eine rot leuchtende Lampe.

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Ich bitte den Chef, mich kurz alleine zu lassen – damit ich mich voll und ganz auf das Erlebnis einlassen kann. Und tatsächlich katapultiert mich die Toilette des Friseursalons für einen kurzen Augenblick in einen schummrigen und sexuell aufgeladenen Technoclub.

So etwas brauche es, um sich von der Konkurrenz abzuheben, erklärt mir der Besitzer später. Es scheint heutzutage wohl nicht mehr zu reichen, seinen Kunden eine Frisur zu verpassen, für die sie gerne ihr Geld da lassen und wieder kommen. Auch der Gang zum Klo soll zur erinnerungswürdigen Erfahrung werden, die im besten Fall natürlich mit der Followerschaft auf diversen Social-Media-Kanälen geteilt wird.

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Dit is’ nich nur Berlin

Dass mittlerweile selbst Toiletten fit für Social Media gemacht werden, kann als Höhepunkt eines bereits seit Jahren anhaltenden Trends verstanden werden. In einem im österreichischen „Standard“ erschienenen Artikel erklärt Laura Wiesböck, Soziologin an der Universität Wien, dass Instagram und Facebook die Eventisierung von Alltäglichem befeuert habe. Sie sprach in diesem Zusammenhang von Tätigkeiten wie dem Kochen oder einer Radtour. Doch weil all diese Bereiche des Lebens anscheinend bereits aufgerüstet wurden, um der Ästhetik von Instagram und Co. zu entsprechen, ist es nur logisch, dass auch unsere intimste und zugleich alltäglichste Tätigkeit zum Erlebnis werden musste.

Und das nicht nur im Hype-süchtigen Berlin. Auch in Wien hat die Eventisierung des Toilettengangs schon längst Einzug in Cafés, Restaurants und Bars gehalten. Dabei kann die Stadt als Gegenstück zur Spreemetropole betrachtet werden: Die öffentliche Verwaltung funktioniert, die Straßen sind sauber und Trends trudeln in der österreichischen Hauptstadt gerne mal erst mit ein paar Jahren Verspätung ein.

Doch auch dort warten Toiletten auf erlebnishungrige Besucher – wie die eines altehrwürdigen Kaffeehauses im vornehmen ersten Bezirk. Dort verwandeln sich die zunächst durchsichtigen WC-Türen in milchiges Glas, sobald die Tür abgesperrt wird. Dank dieses „Zaubertricks“ schaffte es die Toilette des Cafés sogar bereits in die britische Ausgabe der „Huffington Post“, auf der Touristik-Website TripAdvisor wird der Besuch des Cafés von einem User nur wegen der Toilette empfohlen.

Die Zukunft des Toilettengangs

Der Kult ums Klo hat bereits die Provinz erreicht, davon zeugen zahlreiche TikTok-Videos. Das verwundert nicht, denn dank Social Media haben sich die Transportzeiten der Hypes von den Metropolen zu entlegenen Teilen dieser Welt erheblich verkürzt.

Doch was bedeutet die Entwicklung eigentlich für die Zukunft des Toilettengangs? Vielleicht ja, dass wir mit jedem geteilten Klo-Foto und -Video uns mehr von den Ketten der bürgerlichen Scham befreien und das Verrichten der Notdurft bald schon wieder – ganz nach Vorbild der antiken Römer – als gesellschaftliches Ereignis zelebrieren werden und Businessmenschen wieder im doppelten Sinne gemeinsam Geschäfte machen werden.

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Oder aber, und das ist die wünschenswertere und wahrscheinlichere Prognose, bedeutet der Trend einfach nur, dass wir in einer sowieso schon durchkommerzialisierten Welt auf dem nicht mehr ganz so stillen Örtchen in Zukunft ein bisschen mehr Spaß haben werden. Und daran ist nun wahrlich nichts verkehrt.

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