Oliver Berben ist nicht nur der Sohn von Iris Berben, sondern wird diese Woche auch der neue Chef der größten deutschen Filmfirma Constantin. Er hat schon 125 Filme produziert und ist immer auf der Suche nach neuen Stoffen und Autoren.
Seit Jahren lag er dem Schriftsteller Ferdinand von Schirach in den Ohren, ein Stück über die Konflikte der Wahrheitsfindung bei Prozessen wegen angeblicher Vergewaltigung zu schreiben. Schirach hatte keine Lust.
Dann, als letzte Hoffnung, schickte Berben Schirach den Link einer englischen Fernsehserie zu dem Thema, als Herausforderung unter dem Motto „Das kannst du doch besser!“ Ein paar Tage später rief Schirach an und sagte: „Ich schreibe das Buch.“
Das Ergebnis ist „Sie sagt. Er sagt“. Und Schirach führt am Anfang sogar als unsichtbare Stimme in den Film hinein – und am Ende wieder hinaus. Dann haben wir 100 Minuten lang eine Gerichtsverhandlung gesehen, die klären sollte, ob der Topmanager Christian Thiede seine frühere Geliebte Katharina Schlüter vergewaltigt hat oder nicht.
Es gibt einen Gerichtssaal mit dem bekannten Aufbau für Angeklagten, Ankläger, Anwälte und Zeugen. Es gibt allerdings keine Rückblenden zu dem Geschehen, denn wie auch immer Regisseur Matti Geschonneck das inszeniert hätte, ein Zeigen in Bildern hätte für den Mann oder die Frau Partei ergriffen. Der Zuschauer hätte mehr gewusst als die Verhandlung im Gerichtssaal.
Das hätte aber dem widersprochen, was Schirach beabsichtigte: Auch die Zuschauer sollen keine anderen Anhaltspunkte zur Wahrheitsfindung an die Hand bekommen als das, was sie während der Verhandlung erfahren. Es ist, wie öfter bei Schirach, eine Aufforderung zur selbstständigen Entscheidung: Wir sind die Richterin und die Schöffen. Nur dürfen wir diesmal nicht über den Ausgang abstimmen, wie vor acht Jahren bei „Terror“.
Natürlich hat Schirach, praktizierender Jurist und versierter Stückeschreiber, ein paar Zuckerstückchen in „Sie sagt. Er sagt“ eingebaut, die uns 100 Minuten bei der Stange halten. Da ist vor allen der Vertreter der Nebenklage, gespielt von Matthias Brandt, und der gibt ihn wie einen dieser Anwaltsgötter mit hohem Selbstdarstellungsdrang, überheblich, selbstgerecht, spöttisch. Sein Gegenpol ist eine junge Frau – Henriette Confurius –, die einst in seiner Kanzlei angefangen hat, und man könnte in seinem Benehmen ihr gegenüber durchaus männliche Überheblichkeit entdecken; die beiden tragen ein privates „Er sagt. Sie sagt“ aus.
Bestandteil der Schirachschen Plot-Konstruktion ist auch, dass der Beschuldigte von einer Frau vertreten wird; ein geschickter Schachzug der Verteidigung, der hier allerdings keine weiteren Komplikationen zur Folge hat, anders als in vielen Reißern, wo sich im Lauf des Films noch komplizierte Beziehungsgeflechte herausschälen. „Sie sagt. Er sagt“ ist aber kein Hollywood-Reißer, sondern ein ganz nüchterner deutscher Fernsehfilm, und diese Nüchternheit, dieser Verzicht auf das große Spektakel ist seine große Stärke.
Gerichtsdramen sind spätestens seit dem Klassiker „Die zwölf Geschworenen“ ein kleines Genre für sich. Sie leben von unerwarteten Perspektiven, gut getimten Enthüllungen und in letzter Minute auftauchenden Zeugen. All das hat Schirach geschickt verbaut.
Eine Frau, die alles verloren hat
Er erweist sich auch als ausgezeichneter Steuermann der Sympathien des Publikums. Zunächst gibt er Katharina Schlüter – die hervorragende Ina Weisse – fast eine Dreiviertelstunde im Zeugenstand, und sie ist gefasst und ringt doch um Worte: exakt das Bild einer Frau, die durch eine Vergewaltigung ihre Würde und ihr Selbstbewusstsein und durch die folgenden Shitstürme ihre Karriere und ihre Familie verloren hat.
Wäre der Film nach einer Stunde zu Ende, an einer Verurteilung Thiedes bestünde kein Zweifel. Das liegt auch an einem weiteren Kniff des Geschichtenerzählers Schirach: Er lässt den Angeklagten schweigen, von der ersten bis zur (vor)letzten Minute, wozu er laut Strafprozessordnung das volle Recht hat. Aber wir, die Zuschauer-Schöffen, versuchen in seinem bis auf minimale Nuancen von Godehard Gieses Mienenspiel unbewegtem Gesicht natürlich alles Mögliche hineinzuinterpretieren. Es ist die perfekte Projektionsfläche für unsere eigenen Meinungen, Urteile, Zweifel.
„Sie sagt. Er sagt“ ist auch ein Film über den Gegensatz der Wahrheitsfindung durch Medien und der Wahrheitsfindung vor Gericht, sozusagen das Antidot zur „Vorverurteilung“. Es ist ein kleines Loblied des Juristen Ferdinand von Schirach auf seinen ersten Beruf, und durch die Zunge des Nebenklageanwalts, der sich fünf Minuten über die exakte Bedeutung des Grundsatzes „Im Zweifel für den Angeklagten“ auslässt, oder die Zunge der Psychologin, die statistisch über das Ausmaß nicht angezeigter sexueller Gewalt gegenüber Frauen referiert, schmuggelt er noch ein paar juristische Grundkurslektionen in den Plot.
Das ändert nichts daran, dass „Sie sagt. Er sagt“ ein herausragender deutscher Fernsehfilm ist, der sich vor keiner Streamer-Produktion zu verstecken braucht. Und ein weiterer ausgezeichneter Fernsehfilm des Regisseurs Matti Geschonneck (dem Ehemann von Ina Weisse, ihr sechster gemeinsamer Film) nach der überragenden „Wannseekonferenz“, der so brillant war, dass sie in Frankreich sogar in vielen Kinos gezeigt wurde.
„Sie sagt. Er sagt“ läuft in der ZDF-Mediathek und am Montag, 26. Februar, um 20:15 Uhr im ZDF.