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Literatur Im Alter von 108 Jahren

Schriftsteller und KZ-Überlebender Boris Pahor gestorben

2010-03-25 Roma - The slovenian writer Boris Pahor - Boris Pahor Foto: Isabella Bonotto [ Rechtehinweis: Verwendung nur in Deutschland, Österreich und den Niederlanden, usage in Germany, Austria and the Netherlands only ] 2010-03-25 Roma - The slovenian writer Boris Pahor - Boris Pahor Foto: Isabella Bonotto [ Rechtehinweis: Verwendung nur in Deutschland, Österreich und den Niederlanden, usage in Germany, Austria and the Netherlands only ]
Boris Pahor (1913 bis 2022)
Quelle: picture alliance / dpa
Als Boris Pahor 1913 zur Welt kam, gehörte seine Heimatstadt Triest noch zu Österreich. Über seine Odyssee durch deutsche Konzentrationslager schrieb der Schriftsteller ein berühmtes Buch. Er überlebte den Tod und wurde 108 Jahre alt. Ein Nachruf.

„Der Slowene ist zuallererst Fatalist. Er ist klein und wartet deshalb ab. Er weiß, wenn er sich der Lawine widersetzt, wird ihn diese überrollen“, hat Boris Pahor einmal geschrieben. Mit dem prototypischen Fatalisten aber kann der 1913 in Triest geborene Schriftsteller sich kaum selbst gemeint haben. Er wollte nicht stillhalten, hat in seinem langen Leben gegen den grausamen und engstirnigen Nationalismus gekämpft, von dem der heimatliche Landstrich bis in die siebziger Jahre geprägt war.

Die Lawine namens Geschichte hat Boris Pahor dann auch gleich mehrfach überrollt. Seine Familie gehört zur slowenischen Minderheit in Triest. Als Kind sieht er, wie italienische Nationalisten in der Stadt die Häuser der Slowenen anzünden, im Zweiten Weltkrieg wird er in die italienische Armee eingezogen, die deutschen Besatzer bringen den Widerständler dann ins Konzentrationslager. Aber auch nach der Befreiung ist die Odyssee nicht ganz zu Ende. Im Nachkriegsjugoslawien gerät Pahor abermals zwischen die Fronten.

Ein Mensch zwischen den Fronten

Als Parteigänger des Tito-Kommunismus ist er nicht zu missbrauchen, und es dauert lange, bis es Aufmerksamkeit für ein Werk gibt, in das sich die Geschichte eingeschrieben hat wie in kaum ein anderes. Boris Pahors Bücher sind autobiografisch, auch wenn die Form des Romans den ureigenen Schmerz und den Zorn bemäntelt. Sie haben eine Sprache, in der im Slowenischen noch das Italienische mitschwingt, eine Sprache von leiser Künstlichkeit, die gegen das anzutreten hat, was unverständlich bleibt in einem Jahrhundert voller Grausamkeiten. Das Werk von Boris Pahor steht neben dem von Primo Levi, Imre Kertész und Ruth Klüger, und es erinnert daran, dass neben der Ermordung von Millionen Juden auch die Verfolgung politisch Andersdenkender und Widerständler zu den großen Verbrechen der NS-Zeit gehört.

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Es war eine leise Verbitterung zu spüren, wenn der slowenisch-triestinische Schriftsteller über die Wahrnehmungsunterschiede bei der Aufarbeitung dunkler Zeiten sprach. Dass die Archive immer noch voll sind mit bisher kaum bearbeiteten Akten politischer Häftlinge, darauf hat Pahor gerne hingewiesen. Und wenn sein Werk etwas ist, dann der monumentale Fingerzeig darauf, wie unheilvoll die Idee der Brüderlichkeit für ihre Verfechter sein kann. Bücher wie „Die Stadt in der Bucht“, „Piazza Oberdan“, „Nomaden ohne Oase“ und „Der Kampf mit dem Frühling“ geben darüber Auskunft.

Nein, es war kein gutes Jahr, dieses Geburtsjahr 1913. Europa stand am Abgrund, und auch Boris Pahors Heimatmetropole Triest, die in der Zeit davor zur glanzvollen k.u.k.-Hafenstadt aufgestiegen war, geriet in den Sog katastrophaler Jahrzehnte. Nach dem Ersten Weltkrieg war es der italienische Faschismus, der die Stadt und ihre Gesellschaft nachhaltig veränderte, während des Zweiten Weltkriegs stand die Stadt unter deutscher Besatzung, um bis Mitte der Siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts territorialer Spielball zwischen Italien und Jugoslawien zu sein.

Schauplatz Triest

Es gehörte zum Schicksal Boris Pahors, sich ethnisch und politisch gleich mehrfach auf der, milde ausgedrückt, ungünstigeren Seite zu befinden. Um gegen den Faschismus und Rassismus Mussolinis Widerstand zu leisten, schloss sich Pahor konspirativen Gruppen an, ab Ende der dreißiger Jahre gehörte er zum Kreis um den Dichter Edvard Kocbek und die Zeitschrift „Dejanje“ („Die Tat“). 1943 ist Boris Pahor mit der italienischen Armee in der Libyschen Wüste stationiert und betätigt sich nach seiner Rückkehr in die Heimat beim Widerstand. 1944, nach der Gefangennahme, beginnt die Odyssee durch deutsche Konzentrationslager.

Ausgerechnet mit dem „I“ für Italiener auf der Sträflingskleidung kommt Boris Pahor nach Dachau und später nach Dora-Mittelbau und Bergen-Belsen. Pahor ist politischer Gefangener, und er hat Glück, im Lager als Pfleger arbeiten zu dürfen, wobei schon das Wort ein bodenloser Euphemismus ist. Der Schriftsteller überlebt, während die Erfahrungen nicht zum Schweigen zu bringen sind. Ein paar Jahre nach dem Krieg fährt Boris Pahor in die elsässischen Vogesen, zum ehemaligen Lager Natzweiler-Struthof, wo er interniert gewesen war. Und er wird noch ein paar mal zurückkehren an den Ort, an dem sich Gegenwart und Erinnerung aufs Seltsamste mischen.

„Les pauvres!“ hört er eine französische Touristin bei einer Führung durchs Lager sagen, als sie vor dem Ofen steht, in dem die KZ-Insassen verbrannt wurden. Ob diese Sprache und der Umgang mit dem Geschehenen jemals angemessen sein können, fragt sich Boris Pahor, und er wird für sein Totenbuch „Nekropolis“ eine ganz eigene Form finden. Die Entmenschlichung, die das Leben im Lager bedeutet, beschreibt Pahor in ihren kollektiven Wirkungen. Individuen gibt es dort nicht mehr, nur eine Willkür, die für den Einzelnen jederzeit tödlich sein kann. Neben den nach Nationen unterschiedlichen Buchstaben auf der Lagerkleidung gibt es auch die Kennzeichnung „NN“. Das bedeutet „Nacht und Nebel“. Auf diese Insassen kann jederzeit und ohne Rechtfertigung geschossen werden, bei Nacht und Nebel. 1967 ist „Nekropolis“ auf Slowenisch erschienen, und es sind danach mehr als dreißig Jahre vergangen, bis es ins Deutsche übertragen wurde.

Der Ich-Erzähler in „Nekropolis“ kommt als Tourist und angehöriger einer Reisegruppe zwei Jahrzehnte nach Befreiung des Konzentrationslagers an die Stätte der Verbrechen. Nicht nur legt Boris Pahor in seinem Bericht mehrere Wirklichkeitsebenen übereinander, sondern er schafft auch eine Sprache, die weder Identifikationsangebot ist noch gefühlsbeladene Trauerarbeit leisten will. Vom „zebragestreiften Ameisenhaufen“ spricht Pahor angesichts der Lagerinsassen.

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Den Blick hat sein Buch in Gegenwart und Vergangenheit zugleich, und sein verstörendes Element liegt in einer ästhetisch gewagten Verbindung aus Nüchternheit und Bildreichtum. „Nekropolis“ ist Arbeit an der Vergangenheit und, im Gegensatz zu manchen literarischen Dokumenten des Holocaust, auch auf ganz explizite Weise Arbeit an der Sprache. Diese Arbeit hat mit dem Zweifel an ihren kommunikativen Möglichkeiten zu tun.

Hauptwerk „Nekropolis“

„Man kann sich über den Tod wie über die Liebe doch nur mit sich selbst unterhalten … Weder Tod noch Liebe ertragen Zeugen“, schreibt Boris Pahor in „Nekropolis“. Wenn diese Geschichte von der Abschaffung des Individuellen erzählt, dann ist sie dennoch ein Denkmal für die Menschen im Lager, die dort ihren Kampf gegen den Tod geführt haben. Biografien werden nachgetragen, um menschliche Genauigkeit bemühte Epitaphe geschrieben auf Bettnachbarn, die Konkurrenz waren beim banalsten und größten Wunsch: dem Wunsch zu Überleben.

Dass Boris Pahors literarische Karriere so aufenthaltsam war, lag am Zeiten überdauernden Widerspruch dieses Autors gegenüber den realen politischen Verhältnissen. Der Zickzack der Geschichte hat dazu geführt, dass ein Geradliniger wie er oft auf der falschen, der nicht opportunen Seite stand. Nur knapp ist der vollkommen entkräftete Häftling Boris Pahor nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager mit dem Leben davongekommen. Nun ist Pahor laut italienischen Medienberichten am 30. Mai in Triest gestorben. Er hat den Tod überlebt und wurde 108 Jahre alt.

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