WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Kultur
  3. Kunst
  4. Gallery Weekend: Paris ist zurück an der Spitze

Kunst Gallery Weekend

Paris ist zurück an der Spitze

Korrespondentin in Paris
Galerie Mariane Ibrahim zeigt Gemälde von Amoako Boafo Galerie Mariane Ibrahim zeigt Gemälde von Amoako Boafo
Galerie Mariane Ibrahim zeigt Gemälde von Amoako Boafo
Quelle: © Fabrice Gousset, Courtesy Galerie Mariane Ibrahim © 2022 VG Bildkunst Bonn
Die französische Hauptstadt wird wieder Metropole der zeitgenössischen Kunst. So heißt es seit dem Brexit und seit viele Händler in Paris eine Filiale aufgemacht haben. Zum Gallery Weekend konnte Paris beweisen, ob da auch etwas dran ist.

Weil das Leben in der Pandemie zum Stillstand kam, hat sich der französisch-bulgarische Künstler Stefan Nikolaev in der Zeit des Ausnahmezustands entschieden, Stillleben der ganz eigenen Art zu schaffen. „Deadline“ steht in goldenen Lettern auf einem Stück Marmor, das in der Pariser Galerie Michel Rein zu sehen ist.

„Früher waren wir richtig stolz darauf, unter Druck zu stehen“, sagt der 52-jährige Frankobulgare beim Aufbau seiner Ausstellung. Aber erst seit die Pandemie so vieles veränderte, habe er begriffen, „wie lächerlich es eigentlich ist, sich von Deadline zu Deadline zu hangeln.“ Jetzt bekommt der Begriff wieder eine neue Dimension: die Todeslinie an der Front.

In seinem Atelier in Sofia hat er Kupfer-Reliefs herstellen lassen, auf denen in mundgeblasenen Neon-Glasröhren die Ingredienzien des klassischen Stilllebens aufscheinen. In „What You See Is What You Get“ stehen die Umrisse von Kerze, Totenschädel und Apfel nebeneinander, und man braucht kein enzyklopädisches Kunstgeschichtswissen, um den Bezug auf Gemälde von Georges de la Tour zu erkennen.

Auf einem anderen Relief erscheint der Schriftzug „Half Life“, halbes Leben: Obwohl Nikolaev seit mehr als dreißig Jahren in Paris lebt, hat die Zeit des Stillstands seine innere Zerrissenheit zum Vorschein gebracht.

Stefan Nikolaev: „What You See Is What You Get“ von 2022
Memento-mori in Neon von Stefan Nikolaev: „What You See Is What You Get“ von 2022
Quelle: Kalin Serapionov/Courtesy de l’artiste et Michel Rein Paris/ Brussels

Wer am vergangenen Wochenende durch einige der über hundert Galerien gestreift ist, die sich inzwischen am Pariser Gallery Weekend beteiligen, muss das Gefühl haben, dass die Pandemie der Kunst hingegen nicht unbedingt geschadet hat – und noch weniger dem Geschäft. Nicht ein einziges Mal fiel die Veranstaltung ins Wasser, nicht einmal im Jahr 2020: Da fand sie eingeklemmt zwischen zwei Lockdowns statt.

Gallery Weekend Paris lockt neue Kunden an

„Die Museen waren geschlossen“, erinnert sich Géraldine Doger de Spéville von der Vereinigung der Pariser Galeristen, „und wir spürten bei unseren Besuchern einen regelrechten Heißhunger auf Kunst.“ Kaufkräftige Sammler, erzählt sie, saßen zu Hause vor ihren Bildschirmen, konnten weder ins Restaurant noch auf Reisen gehen und leisteten sich das eine oder andere Kunstwerk beim Online-Shopping.

Die Ambition des Pariser Gallery Weekend ist es, ein neues Publikum in die Galerien zu locken und vor allem die Hemmschwelle zu senken. Jenseits der Klientel, die Kunst bereits sammelt oder in sie investiert, ist es in Paris gelungen, junge Menschen anzulocken, die nun durch die Galerien ziehen wie durch ein großes Museum.

„Ruin“ heißt die Show des kalifornischen Künstlers Nick Doyle, der mit der Ikonografie amerikanischer Alltagsgegenstände spielt und sie als jeansblaue Bilder und Installationen aus ihrem Zusammenhang reißt. Es ist vor allem die Anhäufung, die beeindruckt: ein menschengroßer, abgebrochener Bleistift, ein Kaktus, ein Hemd mit Fleck, eine Gallone Milch. „Doyle beschreibt die Agonie und die Einbahnstraßen einer Gesellschaft in Ruinen“, erklärt der französische Kunstkritiker Mathieu Buard den Titel.

Dank der großen Zahl der teilnehmenden Galerien kann man in Paris auch Künstlerinnen wie beispielsweise Eva Nielsen entdecken, deren Werke sich noch im Bereich des Erschwinglichen bewegen. Nielsen, Jahrgang 1983, zeigt bei Jousse Entreprise nach einer siebenmonatigen Residenz in der Gerberstadt Romans-sur-Isère im Département Drôme kleine und große Formate, die Techniken wie Fotografie, Siebdruck und Malerei verbinden. Serigrafien auf Leder, überzogen mit halbdurchsichtiger, bedruckter Seide, laden den Betrachter ein in eine unsichere Welt, in der Landschaften wie hinter einem Vorhang zum Vorschein kommen.

Serigrafie auf Seide von Eva Nielsen: „Scope (8)“ aus dem Jahr 2021
Serigrafie auf Seide von Eva Nielsen: „Scope (8)“ aus dem Jahr 2021
Quelle: Courtesy Art Jousse Entreprise
Anzeige

Die Pariser Galerien konzentrieren sich in Saint-Germain-des-Prés, auf der noblen Avenue Matignon, die zum Élysée-Palast führt, im Marais und seit einigen Jahren in den Vororten Pantin und Romainville im Nordosten der Stadt. Ein Großteil der Ausstellungen des Gallery Weekend sind noch bis Mitte Juni zu sehen. Zahlreiche Neueröffnungen von Museen und Privatstiftungen wie die Fondation Pinault in der alten Getreidebörse locken derzeit viele Kunstfreunde nach Frankreich, die zwei Jahre Pandemie nachholen wollen. „Paris boomt“, sagt der Galerist Kamel Mennour, der inzwischen über vier Galerien in Paris verfügt.

Stadt mit menschlichem Maß

„Paris, einst Hauptstadt der Kunst, ist zurück an der Spitze“, titelte Anfang Mai sogar die „New York Times“ und merkte an, dass es dank vieler neuer Galerien mit klar internationaler Ausrichtung wieder die Energie alter Zeiten ausstrahle. Jahrzehntelang habe Paris den Eindruck erweckt, zwar mit Museen der Weltklasse beschenkt zu sein, aber nicht über eine lebendige Kunstszene zu verfügen, bemerkt die amerikanische Zeitung.

Doch seit dem Brexit habe sich das geändert. Manche große Galeristen haben seit drei, vier Jahren ein Standbein in Paris. Dazu gehört David Zwirner, der schon vor der Pandemie für Entschleunigung plädierte und das menschliche Maß von Paris lobte.

Neu am Start dieses Jahr ist Shifra Shalit. Wenn man die israelische Galeristin fragt, warum sie nach Tel Aviv und Brüssel nun im Pariser Marais die Dvir Gallery eröffnet hat, antwortet sie knapp: „Weil es der richtige Zeitpunkt ist.“ Zurzeit ziehe es eben alle nach Paris. Shalit zeigt mit „Espèces d’espace“ eine Art Best-off ihres Programms: Jonathan Monk hat aus der Kunst die Luft herausgelassen. Mit seiner „Deflated Sculpture“ aus glänzendem Stahl spielt er auf seinen Kollegen Jeff Koons an. Douglas Gordon zieht den Betrachter in sein Selbstporträt „of You + Me“ hinein.

Lesen Sie auch
Farid Rakun (links) und Ade Darmawan von Ruangrupa
Eine Documenta-Recherche

Von Yudith Levin, der „reinsten Stimme Israels“ („Ha’aretz“), können sich nun auch die Pariser ein verspätetes Bild machen. Levin hat Ende der 1970er-Jahre in den Straßen von Tel Aviv Sperrmüll aufgesammelt, um ihn in Kunst zu verwandeln. Und vom polnischen Künstler Miroslaw Balka ist eine Mini-Version von „480 x 10 x 10“ zu sehen, jener aufgefädelten Seifenreste, die er vor zwei Jahrzehnten im Londoner Museum Tate Modern zeigte. Aber nach Auskunft von Shalit gibt es bis heute kein französisches Museum, das auch nur ein einziges Werk von ihm besäße.

Zu den Neuankömmlingen gehört auch die französisch-somalische Galeristin Mariane Ibrahim mit Stammsitz in Chicago, die im Herbst ihre Dependance in Paris eröffnet und mit „J’ai deux amours“ einen aufsehenerregenden Auftakt vorgelegt hat. Der Titel, eine Anspielung auf Josephine Bakers Hymne auf Frankreich, ist die Übersetzung ihres Chicagoer Programms auf Pariser Verhältnisse, wo sie die „schwarze Diaspora“ stark machen will. „Die afrikanischen Künstler sind trainiert, sie haben ihren eigenen Charakter, ihren Stil, ihren Markt. Es ist an der Zeit, dass sie in den Ring steigen, um sich an den anderen zu messen“, sagt Ibrahim.

Gemälde von Amoako Boafo in der Galerie Mariane Ibrahim
Gemälde von Amoako Boafo in der Galerie Mariane Ibrahim
Quelle: © Fabrice Gousset, Courtesy Galerie Mariane Ibrahim © 2022 VG Bildkunst Bonn

Ibrahim bespielt einen ganzen Stadtpalast auf der Avenue Matignon, im „goldenen Dreieck“. Dort befindet sie sich in Gesellschaft von Galerien wie Lelong, Perrotin, Mennour, White Cube, Gagosian und Nathalie Obadia. Es ist vor allem Amoako Boafo, der bei Ibrahim die Aufmerksamkeit auf sich zieht. „Inside Out“ zeigt Porträts und Körperbilder des in Wien lebenden Shootingstars aus Ghana.

Anzeige

Dass seine Preise derart in die Höhe geschossen sind, kann nicht nur mit „Black Lives Matter“ oder der neuen Aufmerksamkeit für schwarze Künstler erklärt werden. Im sinnbildlichen Ringkampf seiner Galeristin schlägt sich der 38-jährige Künstler jedenfalls wie ein Schwergewicht. Inzwischen kommen seine Werke für mehrere 100.000 Dollar unter den Hammer.

Boafo ärgert diese Spekulation. Nachdem der Sammler Stefan Simchowitz das Gemälde „The Lemon Bathing Suit“ 2019 für 22.500 Dollar gekauft hatte, wurde es ein Jahr später auf 65.000 Dollar geschätzt. Auf der Versteigerung brachte es schließlich über 800.000 Euro. Es ist angeblich Boafo selbst, der es zurückgekauft haben soll, um dieses „Art Flipping“ mit seiner Arbeit zu unterbinden.

An dieser Stelle finden Sie Inhalte von Drittanbietern
Um eingebettete Inhalte anzuzeigen, ist deine widerrufliche Einwilligung in die Übermittlung und Verarbeitung von personenbezogenen Daten notwendig, da die Anbieter der eingebetteten Inhalte als Drittanbieter diese Einwilligung verlangen [In diesem Zusammenhang können auch Nutzungsprofile (u.a. auf Basis von Cookie-IDs) gebildet und angereichert werden, auch außerhalb des EWR]. Indem du den Schalter auf „an“ stellst, stimmst du diesen (jederzeit widerruflich) zu. Dies umfasst auch deine Einwilligung in die Übermittlung bestimmter personenbezogener Daten in Drittländer, u.a. die USA, nach Art. 49 (1) (a) DSGVO. Mehr Informationen dazu findest du hier. Du kannst deine Einwilligung jederzeit über den Schalter und über Privatsphäre am Seitenende widerrufen.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema