Es hätte so schön sein können, bei der 75. Ausgabe der Filmfestspiele von Cannes, aber dann kam mal wieder alles anders. Nach der Notausgabe letzten Sommer fand das berühmteste Filmfestival der Welt endlich wieder richtig statt, mit über 30.000 Akkreditierten und dem ganzen dazugehörigen Trubel, Bentleys an der Croisette, Fliegerehrenstaffel für Tom Cruise, Léa Seydoux auf dem roten Teppich.
Nach den surrealen Zoomjahren der Pandemie war also die Wirklichkeit zurück, auch wenn sie manchmal selber surreal wirkte. Wenn man jetzt, am Ende der fast zwei Wochen, innehält und überlegt, was sie einen gelehrt haben, sticht eines heraus, nämlich, dass die Realität sich nach wie vor trotzig ihrer ideologischen Vereinnahmung verweigert.
Zum Beispiel der einzige eingeladene Russe. Kirill Serebrennikov war mit seinem Film „Tchaikovsky’s Wife“ durch die Maschen des ausgeworfenen Sanktionsnetzes geschlüpft, das alles, was irgendwie in Beziehung zu Putin und seinem Krieg stehen könnte, herausfischen sollte. Der 52-jährige Regisseur ist zwar erklärter Systemfeind, stand jahrelang unter Hausarrest und inszenierte währenddessen quasi qua Geheimtinte, indem sein Anwalt Notizen in die deutschen oder Schweizer Theater schmuggelte, in denen Serebrennikov in Abwesenheit Mozart oder Tschechow auf die Bühne brachte. Aber er wohnt halt auch in Moskau, dreht unter anderem mit russischem Geld und behandelt in seinem neuen Film nicht nur ein russisches Thema, sondern gleich einen nationalen Mythos, nämlich den großen Komponisten Tschaikowsky. In einer Szene wird dessen Gattin aufs Land geschickt; eine Einblendung verrät, dass sie in einem Dorf „nahe Kiew“ landet – in den Achtzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts selbstverständlich Teil des russischen Imperiums.
Ist das schon ein Zeichen der Zustimmung zum völkerrechtswidrigen Angriffskrieg? Ein ukrainischer Regisseur fand ja und protestierte. Es spiele keine Rolle, sagte Dmytro Sukholytkyy-Sobchuk, ob jemand Flüchtling, Oppositioneller oder Dissident sei. „Wer hier ist, ist Teil der russischen Propaganda.“
Sissis Stinkefinger
Dabei war Serebrennikovs Film sehr wenig politisch, vielmehr eine Hommage an eine Obsession: Eine Frau liebt einen schwulen Mann. Die explizite Sexualität ist historisch belegt, läuft aber dem idealen russischen Selbstbild zuwider, weshalb der amtierende Kulturminister davon auch nichts wissen will. Kann so etwas Propaganda sein? Oder ist ein Satz wie „Wer hier ist, ist Teil der russischen Propaganda“ nicht selbst Propaganda, in diesem Fall pro-ukranische?
Der Begriff steht für „systematische Verbreitung politischer oder weltanschaulicher Ideen und Meinungen mit dem Ziel, das allgemeine Bewusstsein in bestimmter Weise zu beeinflussen“. Aussagen werden pauschalisiert, über störende Details wird hinweggegangen. Insofern ist so ein Satz das Gegenteil von Kunst, die, wenn sie gelingt, mit einem Bedeutungsüberschuss bis zur Rätselhaftigkeit ausgestattet ist. Auch ist so ein Satz das Gegenteil von Kritik, die Ambivalenzen nachspürt, kleinsten Veränderungen in Temperatur und Schwingung und sich öffnet für die Erfordernisse des jeweiligen Kunstwerks. Serebrennikovs Film war ein früher Triumph des Festivals.
Anders lagen die Dinge bei Marie Kreutzers „Corsage“, einer Neuinterpretation des „Sissi“-Stoffs. Die österreichische Kaiserin ist hier eine labile, narzisstische Prinzessin auf der Erbse, die unter dem vielen Repräsentieren leidet und mit einem Langweiler, zufällig auch Kaiser, verheiratet ist. Also lebt sie ihren Egoismus voll aus, bricht Menschenherzen und Pferdebeine; die Leute werden in Folge gemieden, die Pferde erschossen. Einer Abendgesellschaft zeigt Sissi den Stinkefinger.
Das soll irgendwie feministisch sein, schleppt sich aber so selbstironiebefreit dahin, dass man bald nicht mehr glaubt, dass das hier etwas mit Österreich zu tun haben kann, dem Land des liebevoll-bösartigen Schmähs. Weil aber auch unter den Premierenzuschauern die Überzeugung verbreitet war, dass nicht sein kann, was nicht sein darf, behaupteten sie hinterher mit erschöpfter Miene, einen sehr guten Film gesehen zu haben.
Noch extremer war das Phänomen bei David Cronenbergs „Crimes of the Future“ zu bemerken. In einer Szene des neuesten Body-Horrors des bald Achtzigjährigen lässt sich ein Tänzer beide Augen zunähen. Er wäre der beste Zuschauer des Films gewesen, aber nicht, weil er so skandalös schockierend gewesen wäre, wie Cronenberg selbst in bester PR-Manier vor der Premiere in die Mikrofone diktierte. „Crimes of the Future“ sieht man am besten mit geschlossenen Augen, weil man sich sonst über die gelangweilt auf Schrottplätzen herumhockenden Figuren, die gelangweilt Philosophie-Sentenzen aus dem Proseminar aufsagen, bevor sie sich wieder gegenseitig ritzen, zu Tode langweilen würde.
Es gab natürlich auch ein paar tolle Filme auf dem Festival. Sie hatten meist gemeinsam, dass sie politische Aussagen der Politik überließen.