Eigentlich wollte Jörg Buttgereit einfach nur zwei seiner Filme in der ausverkauften Rockefeller Music Hall in Oslo präsentieren, als plötzlich die Polizei auftauchte. Man müsse die Vorstellung absagen und die Filmkopien beschlagnahmen, sagten die Beamten, denn hier in Norwegen sei Nekrophilie verboten und sein Film „Nekromantik“, nun ja, der handele eben davon, dass ein Tatortreiniger mit seiner Freundin und einer Leiche, die er heimlich entwendet hatte, eine Form von erotischer Dreiecksbeziehung führt.
Es war der 27. Oktober 1992 und für Jörg Buttgereit nicht der erste Kontakt mit den Behörden. Auch in Deutschland wurden seine Filme bereits beschlagnahmt. Außerdem lief eine Anklage gegen ihn wegen der Verbreitung pornografischer und gewaltverherrlichender Schriften, die ihm gerade Kopfschmerzen bereitete. Buttgereit versuchte auf die Polizisten einzuwirken, erklärte ihnen, dass es sich bei dem Film ja nicht um einen Werbefilm für Nekrophilie handele, sondern um einen Horrorfilm. In Norwegen, versuchte er die Polizisten zu besänftigten, sei ja sicher auch Mord verboten, aber Krimis würden bestimmt dennoch im Fernsehen und im Kino laufen. Es brachte nichts. Der Film wurde trotzdem beschlagnahmt. Die Vorstellung abgesagt.
30 Jahre später sitzt Jörg Buttgereit, 59, hochgewachsen mit kurzem blondem Haar, in einem West-Berliner Kaffeehaus und fragt sich, was das doch für verrückte Zeiten gewesen sind, in denen reihenweise europäische Staaten Menschen anklagten, weil sie billige Horrorfilme drehten. Man müsse nur daran denken, dass bereits in den 1970er-Jahren eine Revolution des amerikanischen Horrorgenres eingesetzt hatte, erzählt Buttgereit, und damals mindestens ebenso harte Filme wie „Texas Chainsaw Massacre“ oder George A. Romeros „Night Of The Living Dead“ entstanden – mittlerweile allesamt Klassiker. Und in Europa? Da kam noch die Polizei. Buttgereit schüttelt den Kopf, spießt sich ein Stück Karottenkuchen auf und nimmt einen Schluck von seinem Getreidemilchkaffee. „Irre Zeiten waren das“, sagt er heute.
Buttgereit ist der Urvater des harten deutschen Horrorfilms
Im vergangenen Jahr hatte Buttgereit sehr viel Zeit damit verbracht, Geschichten wie diese noch mal Revue passieren zu lassen, denn er sortierte seine alten Tagebücher und veröffentlichte sie in Buchform. „Nicht Jugendfrei. Tagebuch aus West-Berlin“ nennt er seine autobiografische Schrift, die doch sehr viel mehr ist, als eine bloße Lebenserinnerung. Das Buch liest sich wie eine alternative westdeutsche Kulturgeschichte, wie ein Streifzug durch die Subkultur, aber eben auch, wie das Selbstporträt eines Mannes, der die deutsche Undergroundkultur wie kein Zweiter geprägt hat. Buttgereit ist der Urvater des harten deutschen Horrorfilms. Aber er ist zugleich auch Theaterregisseur, Comic-Autor, der größte Godzilla-Experte der Welt, Hörspielautor und Dokumentarfilmer. Jörg Buttgereit ist der ungekrönte König der deutschen Nerd-Kultur. Und seine Geschichte ist eng verwoben mit der Nachkriegsgeschichte in Deutschland.
Sein popkulturelles Erweckungserlebnis erfährt Buttgereit mit nicht einmal sechs Jahren, als er gemeinsam mit seinem Vater vor dem Fernseher sitzt und „Sindbads 7. Reise“ schaut, ein 50er-Jahre-Abenteuerfilm in dem sich der Protagonist mit Zyklopen und Drachen herumschlagen muss. Buttgereits Interesse für den fantastischen Film ist geweckt. Als Jugendlicher schleicht er sich heimlich in alle Kinovorstellungen, in die er sich einschleichen kann und lernt Bruce Lee und Godzilla zu lieben. Er wird ein fanatischer Filmaficionado.
Godzilla steht ihm im Zweifel näher als Wim Wenders
Eine der bezeichnendsten Geschichten Buttgereits ist die Geschichte, in der er mit seiner damaligen Freundin nach London reiste und herausfand, dass in einem Kino eine Doppelvorstellung läuft: Die ersten beiden Teile des in Deutschland verbotenen „Evil Dead“ werden gezeigt – und das auch noch ungeschnitten. Seine Freundin erträgt schon den ersten Teil nicht und verlässt den Saal. Buttgereit bleibt sitzen und nutzt die Filmpause, um sie zu trösten und ihr zu erklären, warum es verdammt wichtig wäre, diese beiden Filme jetzt zu sehen, er könne da keine Kompromisse machen. Seine Freundin lässt er unter den bedauernden Blicken der Popcorn-Verkäuferin leicht traumatisiert zurück. Sie habe als Nachwirkung der sehr harten Szenen einen Tag lang nicht mehr gesprochen, aber diesen Film zu dieser Zeit gesehen zu haben, resümiert Buttgereit, das war es dann doch wert gewesen.
Buttgereit liebt Hollywood, aber sein Herz gehört der Trivialkultur. Godzilla steht ihm im Zweifel näher als Wim Wenders. Pseudokünstlerisch aufgeblasene Filme wie „Himmel über Berlin“ verachtet er. Und dann kommt die Musik. Buttgereit wird Teil der Westberliner Punk-Szene, die den Tabubruch zum Prinzip erhebt. Während seine Freunde den ausgestreckten Mittelfinger in rotzige Musik übersetzen, beginnt Buttgereit Filme zu drehen. In seinen beiden „Nekromantik“-Teilen beschäftigt er sich mit Nekrophilie, sein bester Film „Der Todesking“ ist eine kaum erträgliche Meditation über den Thanatos, den menschlichen Todesdrang. Darin variiert er Geschichten über Suizid und Mord.
Seine Filme sind schwere Kost, hart an der Grenze des Erträglichen, aber genau das sollen sie auch sein. Sie sollen Grenzen sprengen, tradierte Sehgewohnheiten aufbrechen und sich einem Tabuthema künstlerisch nähern. Buttgereit sucht eine neue Perspektive, mit der er sich dem Themenfeld nähren konnte und erfand den deutschen Underground-Horrorfilm. „Explizite Gewaltdarstellung in meinen Filmen, war immer nur Mittel zum Zweck“, sagt er heute, „und natürlich war es auch eine Provokation. Wir wollten uns gegen die Zensurpolitik des Staates auflehnen.“
Der Staat nahm ihn wahr. Und macht ihm für seinen Film „Nekromantik 2“ – über den ja auch die Norweger nicht glücklich waren – den Prozess. Buttgereit gewann ihn, auch weil ein umfangreiches Dossier des renommierten Medienwissenschaftlers Knut Hickethier die Dimension der künstlerischen Wertigkeit seines Filmes herausstellte. So wie es für Buttgereit möglich war, KISS und die Dead Kennedys zugleich zu lieben, so schaffte er es auch in seinen filmischen Arbeiten, dem Underground-Kino nicht nur eine punkige Attitüde, sondern auch einen künstlerischen Wert zu verleihen. Der Prozess brachte ihm internationale Aufmerksamkeit, doch seine Karriere als Filmemacher war bereits beendet. Der Anruf eines finanzstarken Produzenten, der das Potenzial des Jungen Wilden erkannte, blieb aus.
Stattdessen meldete sich ein paar Jahre später der WDR und bot Buttgereit an, Hörspiele zu produzieren. Buttgereit erfand sich neu und entdeckte weitere Spielfelder, auf denen er seine Liebe für die Nerd-Kultur ausleben konnte. In den Nullerjahren schrieb er Hörspiele wie „Frankenstein in Hiroshima“, drehte gleich zwei Dokumentarfilme über Godzilla und die Monsterfilm-Kultur, schrieb Kolumnen und erfand den ersten deutschen Superhelden „Captain Berlin“, den er in Comicbücher und auf die Theaterbühne brachte. Nur einen weiteren Langfilm hat er bis heute nicht mehr veröffentlicht.
Seit den 1990er-Jahren hat sich viel verändert. Die Subkultur ist im Mainstream angekommen, nur Buttgereit hat nie so richtig von dieser Zäsur profitiert. Er bleibt allein ein Held der Underground-Szene. Der Künstler selbst lässt sich davon nicht beirren, er macht einfach weiter mit dem, was er am liebsten tut. Zuletzt hat er zwei neue Comics geschrieben und mit dem Kriminalbiologen Mark Benecke den Kurzfilm „Schweinchen“ gedreht, bei dem man fünf toten Schweinen beim Verwesen zuschaut. Immer noch bleibt er lieber Punk als zu einem Wim Wenders zu werden. Am Mittwoch wird Jörg Buttgereit 60 Jahre alt. In der deutschen Subkultur hat er tiefe Fußspuren hinterlassen.
Am Mittwoch, dem 20. Dezember 2023 liest Jörg Buttgereit anlässlich seines Geburtstags aus seiner Autobiografie. Ab 18 Uhr in der EBENSPERGER-Galerie im Fichtebunker/Berlin. Fichtestraße 6, 10967 Berlin