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Kultur Kriegstagebuch aus der Ukraine

„Tante Sirene ist dafür da, um uns zu beschützen“

Mai 2022: Ein Mädchen unweit von Kiew Mai 2022: Ein Mädchen unweit von Kiew
Mai 2022: Ein Mädchen unweit von Kiew
Quelle: REUTERS
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Seit dem 24. Februar 2022 hält uns der preisgekrönte Übersetzer Juri Durkot aus Lemberg über die Lage in der Ukraine auf dem Laufenden, erzählt von Freunden, der Familie, den äußeren wie inneren Verheerungen des Kriegs. Lesen Sie hier sein Tagebuch aus dem dritten Kriegsmonat.

Juri Durkot setzt sein Tagebuch fort. Seine neuesten Einträge finden Sie hier. Seine Berichte aus dem ersten Kriegsmonat sind hier nachzulesen. Sein Tagebuch aus dem zweiten Kriegsmonat hier.

Lemberg, den 24. Mai, nachmittags

„Tante Sirene ist dafür da, um uns zu beschützen. Sie sagt uns, dass wir zusammen die Treppe hinuntergehen sollen und dort weiter spielen können. Wenn wir auf sie hören, wird uns nichts passieren.“ Bei jedem Fliegeralarm erzählt Viktoria den Kleinkindern das Märchen über Tante Sirene. Es ist eine sehr nette Tante, die alle Kinder liebt. Zwar klingt ihre Stimme etwas schrill, aber die Kleinen haben sich längst an sie gewöhnt. Dafür hat Viktoria eine Engelsstimme. Die ausgebildete Krankenschwester arbeitet seit einem Jahr als Erzieherin in einer privaten Kita in Lemberg.

Es ist eine ruhige Gegend mit viel Grün, in der Nähe ist ein Park und ein Kinderspielplatz. Selbst in der Friedenszeit gibt es hier kaum Autoverkehr, das Viertel liegt auf einem kleinen Hügel, die Luft ist sauber. Fast ein Paradies. Ein Paradies, in dem seit drei Monaten Tante Sirene lebt.

Mai 2022: Ein Mädchen unweit von Kiew
Mai 2022: Ein Mädchen unweit von Kiew
Quelle: REUTERS

Die Kita ist in einem renovierten Haus aus der Zwischenkriegszeit untergebracht. Der Keller wurde zu einem Schutzbunker umfunktioniert. Das Wort passt gar nicht zu dem, was man dort sieht. Weiß gestrichene Wände, Betten für Kleinkinder, eine Spielwiese in der Mitte. Moderne Heizung und warmer Fußboden. Zwei kleine Thermofenster direkt an der Erdoberfläche sind angekippt und sorgen für die Lüftung. Man sieht allerdings nicht wirklich, was im Hinterhof los ist, weil die Fenster mit Sandsäcken abgesichert sind. Man hat viel Geld und Liebe in die Kita investiert, Sicherheit und Komfort haben aber ihren Preis. Die Betreuung kostet umgerechnet 260 Euro pro Monat. Private Kitas sind für Kinder von Besserverdienern. Aber auch sie haben Existenzängste. Viele Firmen werden den Krieg nicht überleben.

Kommunale Kitas haben nicht so viel Glück. Die meisten haben keinen Schutzbunker, also müssen die Kinder und die Erzieherinnen in einen städtischen Bunker laufen. Ob man in einem Ernstfall schnell genug ist, ist fraglich. In einigen Kitas wurde ein Keller notdürftig zu einem Schutzraum umfunktioniert. Aber da kriegt man als Kind schnell Angst – ein feuchter Keller bleibt ein feuchter Keller.

Die Geschichte über Tante Sirene ist wohl das Märchen, das Kinder in Viktorias Kita am häufigsten hören. Heute hat sich die Tante wieder gemeldet. Wie könnte es anders sein am neunzigsten Tag der russischen Invasion? Drei Monate Tante Sirene.

Für einen kleinen Jungen aus Kramatorsk müsste sich Viktoria ein anderes Märchen ausdenken. Anfang April hat seine Mutter beim russischen Raketenangriff auf den dortigen Bahnhof ein Bein verloren, seine Schwester beide. Der Junge ist wie durch ein Wunder unverletzt geblieben. Die Familie liegt in einem Lemberger Krankenhaus. Ich weiß nicht, ob man dem Jungen erklären kann, warum Tante Sirene seine Mutter und seine Schwester nicht beschützen konnte. Und warum die gute Tante in Kramatorsk gegen eine böse russische Rakete keine Chance hatte.

Lemberg, den 23. Mai, abends

Ein Freund von mir, den es in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre für ein Filmprojekt in eine nicht weit von Moskau entfernte russische Provinz verschlagen hatte, erzählte mir vor langer Zeit seine Frühstücksgeschichte. Er saß einsam in einem tristen Café mit unfreundlicher Bedienung (eine freundliche Bedienung wäre in der Sowjetzeit echt suspekt gewesen) und stocherte in seinem Teller mit verwelktem Salat. Außer ihm gab es im Café keine Besucher. Plötzlich stürmten mehrere Männer ins Lokal und bildeten eine Schlange an der Theke. Sie stritten miteinander und gestikulierten wild. Nach etwa zwanzig Minuten war alles vorbei, das Café war wieder menschenleer.

Mein verblüffter Freund fragte die Bardame, was da eigentlich los gewesen sei. „Elf Uhr“, lautete die Antwort. Er verstand nicht. „Elf Uhr“, wiederholte die Dame, „Wodkazeit“. Erst jetzt dämmerte ihm, dass der Alkoholverkauf erst ab elf Uhr morgens erlaubt war. Nach zwanzig Minuten hatten die Männer alle Vorräte im Café leergetrunken. Er saß wieder alleine im Halbdunkel des spärlich beleuchteten Raums.

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Diese Episode ereignete sich inmitten der sowjetischen Antialkohol-Kampagne, eines Feldzugs der kommunistischen Partei gegen den exzessiven Alkoholmissbrauch. Die Kampagne startete ausgerechnet zu Beginn der Perestrojka-Zeit. Plötzlich wurden Wodka, Wein und Bier rar. Viele Geschäfte durften überhaupt keinen Alkohol mehr verkaufen, andere nur wenige Stunden am Tag. Überall in den Sowjetrepubliken gab es Razzien. Studenten, die abends in einem leicht angetrunkenen Zustand erwischt wurden, hatten beste Chancen, von der Uni zu fliegen. Bei Hochzeiten war der Alkoholkonsum streng limitiert. Also hat man den Wodka heimlich in Mineralwasserflaschen gefüllt.

Bei einem offiziellen Empfang für eine Wirtschaftsdelegation aus einem sozialistischen Bruderland musste man sich für paar Flaschen Wein eine offizielle Erlaubnis der regionalen Parteizentrale besorgen. Viele Weinberge wurden mit Bulldozern plattgemacht; in der Südukraine konnte sich der Weinbau erst in den Nullerjahren wieder erholen. Die von oben verordnete Gründung von Abstinenzler-Vereinen war die übliche statistische Augenwischerei. Am Ende wurde sogar Zucker als wichtiger Bestandteil von Selbstgebranntem knapp. Die Katastrophe war perfekt.

Im Zweikampf zwischen zwei Ismen – dem Kommunismus und dem Alkoholismus – hatte die Utopie der ewigen Zukunft gegen die Realität der ewigen Gegenwart keine Chance. Bereits nach wenigen Jahren hat die Partei den aussichtslosen Kampf wieder aufgegeben. Doch es war bereits zu spät. Das Schicksal des Imperiums war besiegelt.

Dieser letzte kommunistische Feldzug veranlasste den ukrainischen Schriftsteller Juri Andruchowytsch dazu, eine ironisch-romantische Version des Zerfalls der UdSSR zu präsentieren. Die Kommunisten hätten nicht gegen die Liberalismen und Nationalismen kämpfen und nicht Religiosität oder die Menschenrechtler jagen, sondern sich besser um ihre Trinker kümmern sollen. „Das Imperium hat seine Säufer verraten. Und damit sich selbst dem Untergang geweiht“, schreibt Andruchowytsch in seinem Anfang der 1990er-Jahre entstandenen Roman „Moscoviada“.

Wo Z draufsteht: Artillerie der Milizen der Volksrepublik Donetsk
Wo Z draufsteht: Artillerie der Milizen der Volksrepublik Donetsk
Quelle: AP

Nun will man in Russland die Uhr endgültig zurückdrehen. Ein Unternehmen hat einen Wodka mit den Buchstaben V und Z patentieren lassen. Man will sich wieder um die Trinker kümmern. Immerhin ein Erfolg der russischen „Spezialoperation“ in der Ukraine. Es wäre viel besser gewesen, gleich mit dem Trinken anzufangen. Und es dabei bewenden zu lassen.

Lemberg, den 21. Mai, mittags

Nicht jede Tragödie wiederholt sich als Farce. Manche wiederholt sich als Tragödie. Die Geschichte der Gewalt und Massenmorde lehrt uns das besonders. Vielleicht hätte man im Rückblick auf die Schrecken des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs den im heutigen Russland im ekstatischen Propagandarausch proklamierten Kampf gegen erfundenen ukrainischen „Nazismus“ als Farce bezeichnen können. Solange die russischen Gräueltaten nicht für alle sichtbar geworden waren.

Es ist längst bekannt, dass sie nicht nur in Butscha, Irpin oder Borodjanka verübt worden sind. Die Politiker aus aller Welt konnten diese Orte in der Nähe von Kiew mit eigenen Augen sehen. Möglicherweise werden sie irgendwann auch die kleineren und größeren Siedlungen in der Region Charkiw besuchen. Und andere befreite Gebiete. Wenn es die Sicherheitslage erlaubt. Denn überall dort, wo russische Truppen gewesen sind, haben sie ein Bild des Grauens hinterlassen. Überall Tod und Vergewaltigungen. Jetzt, als die ukrainische Armee immer mehr Dörfer und Kleinstädte in der Region Charkiw befreit hat, bestätigt sich das noch einmal: Es war und bleibt ein System.

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Es scheint, als hätten sich verschiedene Einheiten aus verschiedenen Regionen in Sadismus überboten. Als gäbe es in der russischen Armee einen inoffiziellen Wettbewerb. Es ist wichtig zu verstehen, dass es keine Exzesse irgendwelcher besonders sadistisch veranlagter Soldaten und Offiziere waren. So etwas ist nur möglich, wenn es zur offiziellen Taktik einer Armee gehört, die von der Militärführung nicht einfach toleriert, sondern empfohlen wird. Es ist nur möglich, wenn eine Gesellschaft durch die Entmenschlichung der Opfer in jahrelanger Propaganda darauf vorbereitet wird. Wenn sie von einem Kult der Gewalt und grenzenlosen Hass durchdrungen ist. Wenn die Rekruten selbst nichts als Erniedrigungen und Gewalt erleben.

Minderjährige Töchter, die vor Augen ihrer Mütter brutal vergewaltigt worden sind. Frauen, wochenlang als Sexsklavinnen gehalten. Kleine Jungen und alte Männer. Säuglinge. Viele haben es nicht überlebt. Manche sind verrückt geworden. Andere werden es nie vergessen. Inzwischen läuft die für Opfer eingerichtete Hotline heiß. Jeden Tag melden sich Dutzende. Jeden Tag schweigen Hunderte.

Ukrainischer Soldat in einer zerstörten Schule bei Charkiw
Ukrainischer Soldat in einer zerstörten Schule bei Charkiw
Quelle: AP

Nach Mariupol werden westliche Politiker noch lange nicht kommen können. Bis die Spuren der Verbrechen – soweit es geht – beseitigt worden sind. Vor einigen Tagen haben dort die Besatzer die Trümmer des durch eine russische Bombe zerstörten Theaters geräumt und die Leichen in einem Massengrab verscharrt. Werden wir jemals erfahren, wie viele Menschen dort tatsächlich gestorben sind?

Es ist wichtig, dass die Welt die Gräueltaten eines verbrecherischen Regimes sieht. Es wäre viel wichtiger, wenn die Welt es lernen würde, sie zu verhindern.

Lemberg, 20. Mai, nachmittags

Als die turbulenten 1990er-Jahre zu Ende gingen, atmeten viele Ukrainer erleichtert auf. Nach dem Zerfall der Sowjetunion kannte die marode Wirtschaft eine Zeitlang nur eine Richtung. Es ging steil bergab, die alten Industriebetriebe wurden entweder geschlossen oder zu Spottpreisen privatisiert. Viele Menschen wurden arbeitslos, viele andere bekamen ihre Hungerlöhne nur mit großer Verspätung ausgezahlt. Jemand, der Mitte der 1990er-Jahre umgerechnet 100 US-Dollar verdiente, konnte sich fast als Millionär fühlen. Einige wenige häuften tatsächlich Millionenvermögen an, vor allem mit intransparenten Tauschgeschäften und ersten Privatisierungen. Die meisten Menschen dagegen verarmten. Es war die Sternstunde der ersten Oligarchen, ein wilder gesellschaftlicher Ritt, der in der wissenschaftlichen Literatur in der Regel als Transformationsprozess bezeichnet wird.

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Etwa ab dem Jahr 2000 ging es allmählich aufwärts. Zunächst in der Hauptstadt, dann in den großen regionalen Zentren wie Charkiw, Dnipro, Lemberg oder Odessa. Irgendwann erreichte der Aufschwung die mittelgroßen Städte. So war es auch in Czernowitz. In den späten Nullerjahren war hier nicht nur der alte k.-u.k.-Mythos, sondern auch ein gewisser Aufstieg zu spüren. Man renovierte das Geburtshaus von Paul Celan (das falsche, wie es sich später herausstellte) und das Rathaus (das richtige). Man enthüllte ein Denkmal für den österreichischen Kaiser Franz Joseph I., der in seiner langen Regierungszeit auch diesen entferntesten Fleck seines Imperiums besucht hatte.

Der Flughafen nahm den Betrieb wieder auf, sodass die Czernowitzer nun die Wahl hatten, nach Istanbul oder nach Kiew zu fliegen. Die meisten entschieden sich für Istanbul. Und in ein imposantes Gebäude auf dem Theaterplatz zog ein Sushi-Restaurant ein. Der Platz selbst mit einer Promenade in der Mitte und einem Theatergebäude am Ende blühte im Frühjahr in prächtigen Farben auf.

Die Lemberger Galerie der Künste im Mai 2022
Die Lemberger Galerie der Künste im Mai 2022
Quelle: AFP

Aus dieser Zeit blieb mir ein Theaterbesuch besonders in Erinnerung. Nicht nur deswegen, weil das neubarocke Spielhaus in Czernowitz einen Zwillingsbruder in Fürth hat – beide wurden nach Plänen von Architektur-Büro Fellner & Helmer errichtet –, sondern vor allem wegen der Aufführung. Das Stück war alt, die Schauspieler jung, die Inszenierung klassisch und das Spiel der jungen Truppe erfrischend gut. Aufgeführt wurde „Viel Lärm in Chiozza“, eine venezianische Liebeskomödie von Carlo Goldoni. Die junge Truppe hatte offensichtlich Spaß daran.

Bemerkenswert war auch, dass für dieses Stück ursprünglich eine andere Besetzung vorgesehen war. Im Programmheft, das ich im Foyer kaufte, waren andere Namen abgedruckt. Jemand hatte sie alle durchgestrichen und mit einem roten Kugelschreiber die neuen Namen daneben geschrieben. Ich fragte eine Theaterangestellte in der Pause, was da eigentlich los war. Na ja, sagte sie, die anderen seien in Italien. Auf Gastspielen? fragte ich verwundert. Nein, ausgewandert, antwortete die Dame unbeirrt. Italien war damals nach Polen das zweitbeliebteste Ziel für ukrainische Gastarbeiter.

Ich erinnerte mich an die Geschichte, als ich mich vor wenigen Tagen mit einem alten Freund traf, der an einem Lemberger Theater spielt. Er erzählte mir, dass die Truppe dezimiert ist – die Männer wurden mobilisiert, die Frauen flohen ins Ausland. Als der Theaterbetrieb nach den ersten Kriegswochen wieder aufgenommen wurde, hatte man ein Problem. Bei jedem Stück müsse man nun mit der Besetzung improvisieren, niemand wisse mehr, wann er dran sei. Das Programmheft in Lemberger Theatern müsste heute ähnlich aussehen als damals in Czernowitz.

Als ich meinen Freund heute wieder anrief und fragte, ob es immer noch Programmhefte gäbe, klang seine Stimme, als würde er in einem tiefen Brunnen sitzen. Ja, die gebe es, bestätigte er mir. Er sitze aber nicht in einem Brunnen, sondern im Theaterkeller. Die Zuschauer übrigens auch. Es war erneut ein Fliegeralarm in Lemberg. Der zweite an diesem Tag. Ob inzwischen ein eventueller Besuch im Theaterkeller auch im Theaterprogramm steht, fragte ich ihn nicht mehr.

Lemberg, den 18. Mai, nachmittags

Ende April bekam Alina einen Anruf. Die Rufnummer war unbekannt, es meldete sich eine fremde Stimme. Die Frau in der Leitung wollte wissen, ob sie mit Alina spreche. Dann sagte sie, sie sei gebeten worden, eine Nachricht zu überbringen. Die Nachricht lautete: Die Oma sei gestorben, der Vater sei beim Beschuss ums Leben gekommen, die Mutter aber lebe und sei unverletzt. Dann legte die Frau auf.

Alina stammt aus Mariupol. Vor vielen Jahren beschloss sie, in Lemberg zu studieren. Nach dem Studium blieb sie in der Stadt, heiratete und fand einen Job als Lehrerin. Ihre Eltern lebten weiter in Mariupol. Als dort nach dem russischen Überfall die ersten Raketen einschlugen, war es klar, dass man am besten die Stadt so schnell wie möglich verlassen sollte. Alinas Eltern befürchteten jedoch, dass die alte, pflegebedürftige Oma die Reisestrapazen nicht überleben würde. Schweren Herzens blieb die Familie in Mariupol und hoffte auf ein Wunder.

Aufräumarbeiten beim schwer beschädigten Theatergebäude in Mariupol
Aufräumarbeiten beim schwer beschädigten Theatergebäude in Mariupol
Quelle: Uncredited/AP/dpa

Seit Anfang März meldete sich niemand mehr am Telefon. Alina musste davon ausgehen, dass ihre Mutter, ihr Vater und ihre Oma tot waren. Umso überraschender kam nach fast zwei Monaten der geheimnisvolle Anruf.

Etwas später, bereits im Mai, meldete sich die Mutter persönlich. Sie sei in Mariupol, erfuhr nun Alina, es gebe in der Stadt keine Straßenkämpfe mehr. Außerdem gebe es kein Wasser, kein Gas, kein Strom, keine Kanalisation und nicht viel zu essen. Dann brach die Verbindung ab. Seitdem gab es zwischen Mutter und Tochter keinen weiteren Kontakt.

Alina weiß nicht, wie es ihrer Mutter im Moment geht. Ob sie Glück oder Pech gehabt hat. Kann man denn überhaupt vom Glück reden, wenn die Frau als einzige Überlebende ihre Liebsten verloren hat? Ist die Mutter immer noch in Mariupol? Wird ihr von den russischen Besatzern erlaubt, die Stadt zu verlassen?

Wenn überhaupt, dann wird sie in Russland oder in der Marionettenvolksrepublik Donezk landen. Ob und wie man da rauskommt, weiß man nie. Einigen Mariupolern ist es gelungen, aus Russland über die baltischen Staaten auszureisen. Andere konnten letztendlich über Armenien fliehen. Doch viele waren es nicht, es handelte sich um Einzelfälle.

Trotzdem hofft Alina, dass es irgendwie klappt und dass sie ihre Mutter wieder sehen wird. Dann wird ihr die Mutter vielleicht die ganze Geschichte erzählen. Eine Geschichte des Horrors und des Grauens. Eine Geschichte über Tod und Verzweiflung. Über Hoffnung und Zuversicht. Wenn sie dazu die Kraft haben wird.

Lemberg, den 17. Mai, nachmittags

In den 1990er-Jahren, als die Europäer von der Brutalität der Balkankriege überrascht und zutiefst erschüttert waren, kursierte in Diplomatenkreisen ein etwas makabrer Witz. Er lautete ungefähr so: „Wenn man einen Menschen umgebracht hat, kommt man ins Gefängnis. Wenn man zehn Menschen getötet hat, wird man in die Psychiatrie eingeliefert. Hat man tausende Menschen ermordet, wird man nach Genf zu Verhandlungen eingeladen.“

Der russische Außenminister Lawrow kann zwar derzeit nicht nach Genf kommen. Aber die permanenten Telefonate mit Putin erinnern an diesen alten Witz. Anstatt das Regime möglichst stark zu isolieren, bekräftigt man dadurch den russischen Präsidenten in seinem Größenwahn. Immer wieder haben die Osteuropäer gewarnt, dass man es lieber lassen soll.

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Aber manche Politiker im Westen scheinen es besser zu wissen. Noch kein einziges Mal hat ein solches Gespräch etwas gebracht. Schlimmer noch – der Wunsch, sich zu vergewissern, dass Putin seine Position nicht geändert hat, wird nur den Krieg verlängern und weitere Menschenleben kosten. Selbst wenn Russland etwas versprochen hätte, würde Moskau bereits in der nächsten Stunde sein Wort wieder brechen. So wie es zuletzt sämtliche Vereinbarungen und Verträge gebrochen hat.

In der Ukraine hört man nicht auf zu staunen, wenn man manche neuen Ideen zu hören bekommt. Wie etwa den jüngsten Vorschlag des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, dass Kiew am besten einige Gebiete an Russland abtreten sollte, damit Putin in seinem Angriffskrieg das Gesicht wahren könnte. Es ist mehr oder weniger die gleiche verkehrte Welt, in der auch zahlreiche Hobby-Friedensbringer leben, die sich unbedingt am Wettbewerb „Wer schreibt den besten Brief an den Bundeskanzler“ beteiligen wollten. Dort traten sie für einen für „beide Seiten“ akzeptablen Kompromiss ein.

Die Frage, wie dieser Kompromiss eigentlich aussehen könnte, blieb unbeantwortet. Die historisch-rhetorische Frage über einen „für beide Seiten“ akzeptablen Kompromiss nach dem Überfall von Nazi-Deutschland auf Polen hätte sich wohlgemerkt gleichermaßen erübrigt. Mit diesem Argument bin ich allerdings nicht wirklich originell.

Busse mit ukrainischen Soldaten werden aus dem Stahlwerk Azovstal in Mariupol zu einem Gefängnis in der „Volksrepublik“ Donezk eskortiert.
Busse mit ukrainischen Soldaten werden aus dem Stahlwerk Azovstal in Mariupol zu einem Gefängnis in der „Volksrepublik“ Donezk eskortiert.
Quelle: Alexei Alexandrov/AP/dpa

Irgendwie hat man den Eindruck, dass in der Vorstellung der Unterzeichner der neue Schmusekurs mögliche russische Gebietsgewinne zumindest implizit tolerieren sollte. Hier gibt es aber ein Problem. Jeder, der das Abtreten der ukrainischen Gebiete an Russland als einen möglichen Kompromiss betrachtet, sollte sich gleichzeitig bereit erklären, in die neu annektierten russischen Besitzungen umzuziehen und dort weiter für Frieden und Gerechtigkeit zu kämpfen. Oder sich zumindest vorzustellen versuchen, was die Menschen dort erwarten würde. An sich wäre die Idee zwar genauso falsch geblieben, man hätte aber viel glaubwürdiger geklungen.

Ich weiß nicht, wie viele Quadratkilometer Putins Gesicht wert ist. Und ob seine Wahrung noch zusätzliche Konzessionen wie Landkorridore, Küstenlinien oder Hafenterminals beinhaltet. Man könnte darüber unendlich lang ironisieren, wenn es nicht so traurig und tragisch wäre. Und wenn es nicht viel wichtiger wäre, sich gemeinsam zu überlegen, wie man einen Aggressor gemeinsam besiegen kann, als über Zugeständnisse auf Kosten des Opfers nachzudenken.

Trotzdem bemühen sich die Ukrainer, ihren Humor nicht zu verlieren. So ist nach Macrons Vorschlag auf Facebook zu lesen, dass man grundsätzlich nichts dagegen hätte, einzelne Territorien an Russland abzutreten. Man müsste nur entscheiden, welche französische Gebiete dafür infrage kämen.

Lemberg, den 16. Mai, nachmittags

Die Allgemeine Landesausstellung in Lemberg im Jahr 1894 war eine Sensation und ein Publikumsmagnet. Seit einigen Jahrzehnten waren große Ausstellungen jeglicher Art schwer in Mode. Nun war endlich auch Lemberg dran, das damals nach Wien, Budapest und Prag die viertgrößte Stadt der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn war. Als Vorbild für die Leistungsschau diente die Weltausstellung in Paris von 1889, also musste alles großzügig und perfekt vorbereitet werden. Die Schirmherrschaft übernahm der österreichische Kaiser selbst.

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Im Zeitalter der Industrialisierung konnte man die Besucher vor allem mit Technik und Kunsthandwerk begeistern. Das ziemlich rückständige Galizien bot dafür etwas, was den Industriearbeitern unmenschliche Arbeits- und Lebensbedingungen, Lemberg als Hauptstadt der Provinz dagegen viel Geld und immer größeren Wohlstand brachte: die Erdölindustrie. Nach der Entdeckung der Vorräte in den Vorkarpaten entwickelte sich Galizien bis Ende des 19. Jahrhunderts zum weltweit drittgrößten Erdölproduzent nach den USA und Russland.

Es wundert also nicht, dass die Branche im Mittelpunkt der von Juni bis Oktober 1894 geöffneten Landesausstellung stand. Mit über 1,1 Millionen überstieg die Zahl der Besucher die Einwohnerzahl Lembergs fast um das Zehnfache. Für die Schau wurde am südlichen Stadtrand eine große Fläche eingeebnet und eine breite Allee angelegt, die von zahlreichen Pavillons flankiert war. Später wurde das Gelände als obere Terrasse in den größten Stadtpark Lembergs – den heutigen Stryjskyj Park – integriert.

Für das Erdöl errichtete man dort nicht nur einen Pavillon, sondern stellte sogar einen echten Bohrturm auf. Zusätzlich baute man eine Mine nach, in der etwa 100 km südlich von Lemberg der auch als Erdwachs bekannte und in der Physiotherapie verbreitete Ozokerit gefördert wurde. Ob die dazugehörenden Gerüche ebenfalls reproduziert wurden, steht in den Berichten nicht.

Damit die Besucher die Ausstellung bequem erreichen konnten, führte sogar eine Seilbahn von der unteren Parkterrasse zum Gelände. Außerdem nahm pünktlich zur Eröffnung – und damit drei Jahre früher als in Wien – eine elektrische Straßenbahn ihren Betrieb auf. Das machte die Lemberger besonders stolz. Der Erdölpavillon, die Seilbahn und die Straßenbahn waren für die Besucher besondere Attraktionen. Vom Fußball konnte man das nicht behaupten.

Im Rahmen der Ausstellung fand am 14. Juli 1894 nämlich ein Fußballspiel statt. Eine Mannschaft aus Lemberg setzte sich gegen ein Team aus Krakau durch. Nachdem die Lemberger es irgendwie geschafft hatten, den Ball zwischen zwei als gegnerisches Tor dienenden Fähnchen hineinzuschieben, war das Spiel zu Ende. Es dauerte ganze sechs Minuten. Die meisten Zuschauer warteten sowieso schon darauf – die anschließend geplante Turnveranstaltung war für sie viel interessanter.

Das Tor, geschossen von Włodzimierz Chomicki, einem sechzehnjährigen Studenten des Lehrerseminars, machte den Torschützen nicht wirklich berühmt. Immerhin verdiente der spätere Gymnasiallehrer im neuen Jahrtausend einen Eintrag in der polnischen und ukrainischen Wikipedia. Und bereits viel früher eine bronzene Ehrentafel auf dem Friedhof in Chocianów, einem kleinen Ort in Niederschlesien, wo er ab 1946 nach der Vertreibung der Polen aus Lemberg durch die Sowjets bis zu seinem Tod im Jahr 1953 lebte.

Dort steht, dass das von Chomicki geschossene Tor das erste in der Geschichte des polnischen Fußballs war. Immerhin haben zwei polnische Mannschaften gegeneinander gespielt, und der Torschütze war ebenfalls ein Pole. Die Inschrift auf einer Ehrensäule im Stryjskyj Park, die 2004 auf dem ehemaligen Spielplatz aufgestellt wurde, hält dagegen etwas anderes fest. Das Spiel markiere den Ursprung des ukrainischen Fußballs, kann man dort lesen. Dieser feierte also in jenem Jahr seinen 110. Geburtstag. Somit wurde die ukrainisch-polnische Fußballfreundschaft noch von der gemeinsamen Austragung der EM-2012 besiegelt.

Kaiser Franz Joseph hat das geschichtsträchtige Fußballspiel um zwei Monate verpasst. In der Stadt wurde er mit großem Jubel empfangen. Zu seinem Besuch in Lemberg wurde auf dem Ausstellungsgelände sogar ein Kaiserpavillon errichtet. Ansonsten bot das Programm alles, was den Besuch eines beliebten Monarchen im 19. Jahrhundert ausmachte – Festreden und Triumphmärsche, eine Lichtershow, begleitet von einem Militärorchester, Fackelzüge und Jubelchöre, Loyalitätsbekundungen und zeremonielle Besuche. Erstaunlich, dass die Zeit trotzdem nicht nur für den Besuch der Landesausstellung reichte, sondern auch für einen Spaziergang durch die Stadt.

Von allen Bauten der Landesausstellung sind nur drei erhalten geblieben. Im ehemaligen Kunstpalast und der umgebauten Rotunde, die fast bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs das Panorama von Racławice beherbergte, wurden in der Sowjetzeit Sporthallen für die Technische Universität eingerichtet, im Kunstpalast zudem ein Schwimmbad. Das monumentale Geschichtsbild, das die siegreiche Schlacht der polnischen Aufständischen gegen die russische Armee im Jahr 1794 romantisierend darstellte, konnte vor dem Einzug sowjetischer Truppen rechtzeitig zerlegt und nach Polen hinausgebracht werden, wo es jahrzehntelang in einem Versteck blieb. Seit 1985 kann das Panorama in Wrocław besichtigt werden.

In den für die Versorgung der Landesausstellung gebauten Wasserturm zog in den 1970er-Jahren eine Bar ein. Im letzten sowjetischen Jahrzehnt wurde dort am Ufer eines stark zugewachsenen Teichs ein halbwegs genießbares Gebräu an merkwürdige Typen ausgeschenkt. Direkt dahinter tuckerte an den Wochenenden eine Kindereisenbahn. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde der Turm umgebaut, die kleinen Dieselloks mitsamt Waggons wurden neu gestrichen. Der Teich trocknete aus, das Bier wurde besser und kälter. Gemütlicher wirkte die Bar dadurch nicht wirklich.

Franz Joseph hätte sich vielleicht eine Kindereisenbahn auf dem Gelände der Landesausstellung vorstellen können. Schließlich ist er selbst mit der Bahn von Wien nach Lemberg und danach weiter nach Czernowitz gereist. Auf die Idee, dass man in der Kunsthalle ein Schwimmbad einrichten kann, wäre er wohl nicht gekommen. Und dafür, dass 128 Jahre später auf dem Gelände eine Containerstadt für Kriegsflüchtlinge entstehen wird, hätte seine Vorstellungskraft ganz gewiss nicht gereicht.

In Lwiw in der Westukraine sind Geflüchtete in einer „Modulstadt“ untergekommen.
In Lwiw in der Westukraine sind Geflüchtete in einer „Modulstadt“ untergekommen.
Quelle: Pavlo Palamarchuk/SOPA Images via ZUMA Press Wire/dpa

Die kleinen weißen Containerwürfel verstecken sich hinter den Bäumen und sind für einen unaufmerksamen Spaziergänger nicht sofort erkennbar. Irgendwie passen die rechteckig angeordneten, langgezogenen Reihen nicht wirklich zum Park. Das Kindergelächter dagegen schon. Nun sind die Parkalleen nicht nur an Wochenenden, sondern auch an Werktagen voller Kinderstimmen. Die Kleinen fühlen sich sichtbar wohl im Grünen, wenn sie auf Trittrollern auf dem breiten Spazierweg zwischen zwei Springbrunnen hin und her rasen. In einem der beiden schießt das Wasser in einem kräftigen Strahl in die Höhe. Im anderen, längst stillgelegten Springbrunnen steht ein Klavier, auf dem jemand hin und wieder klimpert.

Die Kindereisenbahn wird in diesem Jahr nicht fahren. Vielleicht aus Sicherheitsgründen, da die Schienen der Schmalspurbahn direkt an den Wohncontainern verlaufen. Vielleicht aber auch, weil Diesel vor allem für Panzer gebraucht wird.

Lemberg, den 14. Mai, abends

Ein kleiner Zettel. Eine gut leserliche Handschrift. Wir wissen nicht, wer den Zettel geschrieben hat. Adressiert ist er an Dima, der offenbar ein Sohn von Tolik ist. Die Nachnamen, die Telefonnummer und die Adresse sind eingeschwärzt. Die Wohnungsnummer nicht. Es ist die 57. Es muss also ein großes Haus gewesen sein. Vielleicht sogar ein neunstöckiges Hochhaus. Oder eine langgezogene Platte mit mehreren Aufgängen. Hat dort Dima gelebt? Oder Tolik? Vielleicht beide? Wir wissen es nicht.

Wir wissen auch nicht, ob das Haus noch steht und ob die beiden am Leben sind. Das Haus, in dem die Mutter von Dima gelebt hat, gibt es nicht mehr. Auch die Mutter ist tot. Das erfahren wir aus dem Text, in dem der Verfasser bittet, folgende Nachricht an Dima zu überbringen:

„Dima, die Mutter kam am 9. März 2022 ums Leben. Sie starb schnell. Dann brannte das Haus ab. Es tut mir leid, dass ich die Mutter nicht beschützen konnte. Ich habe sie neben dem Kindergarten begraben.“

Darunter sieht man eine Zeichnung. Es sind nicht viele Details drauf. Nur ein paar Linien und einzelne Wörter. Unten kann man „Eingang“ lesen, links davon verläuft eine Fernwärmeleitung. Im Süden, der auf der Zeichnung oben ist, wachsen einige Bäume. Am rechten Blattrand – ein Zaun und drei Kreise, die offenbar weitere Bäume symbolisieren. Das Grab, gezeichnet in Form eines Rechtecks, befindet sich in einer geraden Linie links von unterem Baum. Die Entfernung zum Baum ist genau angegeben: 2,0 Meter. Ganz unten stehen noch drei Worte: „Ich liebe dich“.

Wir können nur raten, ob der Verfasser mit Dima verwandt war. Wahrscheinlich ja, ein Nachbar würde eher nicht „Ich liebe dich“ am Ende hinzufügen. Im Deutschen hätten wir nicht mal gewusst, ob den Zettel ein Mann oder eine Frau verfasst hat. Die Grammatik der slawischen Sprachen verrät uns zumindest dies: Es war ein Mann. Ein Onkel vielleicht? Der Stiefvater, der mit Dimas Mutter gelebt hat, während Dima zu seinem Vater geschickt wurde? Hat er den Zettel geschrieben, bevor er selbst gestorben ist? Er wusste offenbar, dass er die Nachricht nicht selbst überbringen kann.

Zerstörte Häuser in Mariupol, Anfang April
Zerstörte Häuser in Mariupol, Anfang April
Quelle: REUTERS

Der Zettel wurde vor einigen Wochen in Mariupol gefunden. Er ist zu einem Symbol für die Hölle geworden, in der die Menschen in dieser Stadt seit zweieinhalb Monaten leben. Die Sprecherin im ukrainischen Fernsehen konnte ihre Tränen nicht zurückhalten. Es ist mittlerweile ein sehr bekannter Text in der Ukraine. Diesen Text sollte die ganze Welt kennen.

Lemberg, den 13. Mai, nachmittags

Jeden Morgen steht Anna sehr früh auf. Im Sommer fängt ihr Arbeitstag um sechs, im Winter kurz vor sieben an. Da ist es noch dunkel. Ihr wichtigstes Arbeitsgerät ist ein Besen. Nur im Winter tauscht sie den Besen gegen eine Schaufel. Wenn es geschneit hat, dann ist sie auch im Winter bereits um sechs auf der Straße. Der Schnee muss von Gehsteigen geräumt werden, noch bevor die große Völkerwanderung vor Arbeitsbeginn einsetzt.

Ist man im Sommer früh genug wach, kann man ein rhythmisches Rascheln hören. Etwas später wird es vom Motor- und Reifengeräusch fahrender Autos übertönt. Derzeit gibt es nicht so viele Autos auf den Lemberger Straßen. Der Sprit ist knapp, der Unterricht in den Schulen und an den Unis findet wegen ständiger Fliegeralarme online statt. Dazu sind Studenten aus anderen Städten nach Hause gefahren. Klassenräume und Studentenwohnheime werden als provisorisches Heim für Flüchtlinge genutzt.

Anna arbeitet beim Straßenreinigungsdienst. Ein harter Job, zu jeder Jahreszeit. Kehrmaschinen gibt es nicht viele in Lemberg, größtenteils wird die Arbeit mit Kehrschaufel und Besen erledigt. Männer sind in dem Beruf nur selten anzutreffen, meistens wird die Arbeit – wie schon in der Sowjetzeit – von Frauen erledigt. Die alte Tradition verschwindet nur langsam.

Es gibt immer viel zu tun. Die Natur und die Menschen haben sich verschworen und sorgen ständig dafür. Schnee im Winter, Baumblüten im Frühjahr, abgebrochene kleine Zweige und Blätter nach Sommergewittern, abgefallenes Laub im Herbst. Schmutz und Müll jederzeit. Wenn man im Winter durch den Matsch stapft oder wenn einem der frische Frühlingswind den aufgewirbelten Staub ins Gesicht bläst, flucht man schnell auf die Wettergötter und die Straßenreinigung. Zu Unrecht. Die Frauen und Männer tun, was sie können.

Ukrainische Soldaten bei einer Übung
Ukrainische Soldaten bei einer Übung
Quelle: John Moore/Getty Images

Wir kennen Anna seit gut zwanzig Jahren. Sie ist eher von zarter Konstitution, nicht gerade ein Vorteil für den Beruf. Wir begrüßen uns immer freundlich, wechseln ein paar belanglose Sätze. Über Annas Leben weiß ich nicht wirklich viel. Sie muss knapp sechzig sein. Sie beschwert sich manchmal über Schmerzen in den Beinen, fegt aber immer fleißig und unermüdlich weiter.

Anna hat zwei Söhne großgezogen, inzwischen freut sie sich über ein Enkelkind. Seit einiger Zeit ist sie nicht mehr für unseren Straßenabschnitt zuständig. Wir sehen uns viel seltener, begegnen uns aber immer wieder einmal.

So wie gestern. Meine Frau unterhielt sich mit Anna über Blumen und Baustellenstaub, über wild parkende Autos und quirlige Eichhörnchen, die immer wieder aus dem Park fliehen und sich in der Stadt verirren. Dann bemerkte sie einen kleinen schwarzen Schal am Annas Hals. Anna trug Trauer. Zunächst dachten wir, dass womöglich ihr Vater oder ihre Mutter gestorben war. Es war ihr älterer Sohn, getötet vor gut zwei Wochen von einem russischen Artilleriegeschoss in der Ostukraine. Bei Popasna, wo es besonders schwere Kämpfe gegeben hat.

Ich weiß seinen Namen nicht. Vielleicht sind wir uns irgendwann begegnet, er wohnte früher zusammen mit seiner Mutter in einer Parallelstraße. Zuletzt arbeitete er in Polen. Nach dem russischen Überfall kehrte er zurück und meldete sich freiwillig beim Kreiswehrersatzamt. 2014 hatte er bereits im Donbass gegen die russischen Marionetten gekämpft. Er sah es als seine Pflicht an, sich nun wieder zu melden, sagte Anna. Ihr Sohn war 37.

Im Hinterland ist seine Einheit in der Nähe von Lemberg stationiert. Anna wurde dort von einem Offizier empfangen. Sie sprachen lange miteinander. Anna wollte nur wissen: Wie? Und: Warum? Der Offizier sagte, dass alles nicht so einfach gewesen war. Ihren Sohn durfte sie nicht mehr sehen. Ein Militärarzt hielt sie fest. Der Bruder durfte es. Er sagte, er habe ihn am Gesicht erkannt. Sonst sagte er der Mutter nichts.

Anna will es immer noch wissen: Wie ist es passiert und warum? Als ihr Sohn sie zuletzt anrief, bat er um ein paar Sachen. Er brauche noch ein Paar Stiefel, seine seien total nass und wollen nicht mehr trocknen. Wir haben es nicht mehr geschafft, sagte Anna, zupfte den Schal zurecht, nahm den Besen in die Hand und kehrte weiter.

Lemberg, den 11. Mai, nachmittags

Buky ist ein winziger, romantischer Ort gut 100 km südwestlich von Kiew. Kaum 700 Einwohner, ein malerischer Fluss, eine Wassermühle, eine Käserei und ein vor einigen Jahren angelegter Landschaftspark mit Türmen, Brücken und künstlichen Wasserfällen. Das hat Buky zu einem beliebten Ausflugsziel gemacht, das allerdings mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht einfach zu erreichen ist.

Mit russischen Panzern auch nicht. Durch die ungewöhnliche Betonung auf der zweiten Silbe ist der Ortsname zudem für russische Soldaten kaum richtig auszusprechen. Also haben sie gar nicht versucht, das Dorf einzunehmen. Und außerdem ist die russische Armee so weit ins Landesinnere sowieso nicht vorgedrungen.

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Einst muss es ein völlig bedeutungsloses Kaff gewesen sein. Wie viele Dörfer und Städtchen in der Zentralukraine war Buky in seiner Geschichte stark jüdisch geprägt. Davon sind kaum Spuren geblieben. Als einzige bekannte Person aus Buky wird deswegen die sowjetische Schauspielerin Maja Bulgakowa geführt.

Der Name Moische Joseph Olgin wird in den Geschichtsabrissen von Buky nicht erwähnt. Erstaunlich ist das nicht. Geboren 1878 in die Familie eines Angestellten des Sägewerks, bekam er zunächst eine traditionelle Ausbildung in Hebräisch, bevor er das Jurastudium an der Universität in Kiew aufnahm. Der junge Olgin sympathisierte mit den revolutionären Ideen, wurde Mitglied einer revolutionären jüdischen Studentengruppe, war später im Jüdischen Allgemeinen Arbeiterbund in Wilna, dem heutigen Vilnius.

Während der Revolution von 1905 war er Redakteur einer Arbeiterzeitung, verfasste Proklamationen und versuchte sich literarisch. Er zog nach Heidelberg, um dort an der Uni sein Studium fortzusetzen, kehrte nach Russland zurück, reiste erneut nach Deutschland, wo ihn der Erste Weltkrieg erwischte.

Eine Rückkehr nach Russland war nicht mehr möglich, und Olgin emigrierte in die USA. Womöglich hat ihm die Emigration das Leben gerettet, das nach der Oktoberrevolution in Russland nicht viel mehr wert war. In den USA entschloss er sich für Moissaye als Schreibweise seines Vornamen, blieb dem Marxismus treu, wurde Mitglied in der Workers Party of Amerika (WPA), übersetzte Lenin ins Englische und Friedrich Engels ins Jiddische, gründete die jiddische Zeitung Freiheit, die genauso wie die WPA der Kommunistischen Partei der USA nahe stand, und blieb bis zu seinem Tod im Jahr 1939 ihr Chefredakteur. Außerdem schrieb er Bücher, Erzählungen, Essays und Pamphlete.

Seine Biografie ist typisch in zweierlei Hinsicht. Als junger jüdischer Intellektueller in Russland begeisterte er sich früh für sozialistische Ideen. Und er teilte das Schicksal vieler anderer, vor allem osteuropäischer Juden, indem er wie seine Glaubensbrüder in die USA auswanderte. Was diese Figur eher ungewöhnlich macht, ist die Kombination aus kommunistischen Ansichten und der Emigration nach Amerika.

Ukrainische Truppen in Kryvyi Rih in der Südukraine
Ukrainische Truppen in Kryvyi Rih in der Südukraine
Quelle: John Moore/Getty Images

Bedeutend war Olgin – wie die gesamte kommunistische Bewegung in den USA – trotzdem nicht. Der Grund, warum ich hier seine Geschichte erzähle, ist ein anderer. Es ist ein Zitat aus seinem 1917 in New York erschienenen und wohl bekanntesten Buch „The Soul of the Russian Revolution“, auf das ich neulich ganz zufällig gestoßen bin. Olgin beschreibt die russische Gesellschaft am Anfang des 20. Jahrhunderts so: „Bestechung … war vielleicht die menschlichste Institution im stacheldrahtartigen Durcheinander der russischen Ordnung“. Hundert Jahre später hätte er diesen Satz in Bezug auf das heutige Russland genauso formulieren können. Manchmal haben eben auch Kommunisten recht.

Lemberg, den 10. Mai, nachmittags

Als Sergej Samusew, der Stadtrat von Sankt Petersburg, am 9. Mai zu einer der in Russland heute üblichen Aktionen „Das unsterbliche Regiment“ kam, nahm er ein Plakat mit. Darauf war ein alter Mann in der gestreiften Jacke eines KZ-Häftlings abgebildet. Hinter ihm auf dem Torgitter konnte man deutlich die Inschrift „Jedem das Seine“ lesen.

Es war ein Foto von Boris Romantschenko, aufgenommen bei einer Gedenkveranstaltung im KZ Buchenwald. Über dem Foto wurden vier nationalsozialistische Konzentrationslager aufgezählt, die Romantschenko überlebt hatte: Peenemünde, Buchenwald, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen. Unter dem Bild stand, dass er am 18. März in Charkiw ums Leben gekommen war. Noch weiter unten, in einer neuen Zeile, dass seine Wohnung von einem Artilleriegeschoss getroffen worden war.

Beim Sicherheitscheck wurde Samusew von der Polizei festgenommen. Die Beamten warfen ihm „Diskreditierung der russischen Armee“ vor. Dass die Wohnung des 96-jährigen Ukrainers Boris Romantschenko von einer russischen Rakete getroffen wurde, stand übrigens nicht auf dem Plakat. Offenbar ist allein die Tatsache, dass ein Ukrainer ums Leben gekommen ist, schon eine Diskreditierung der russischen Armee. Man könnte es sogar anders formulieren: Die Diskreditierung liegt offenbar schon in der Existenz von Ukrainern an sich.

Deswegen hat das russische Militär am diesjährigen Tag des Sieges besonders viele Raketen auf mehrere ukrainische Städte abgefeuert. Liebes…, Pardon, „Todesgrüße aus Moskau“ als Zeichen der Verbundenheit sozusagen, während die gesamte russische Führung am Roten Platz saß und die Militärparade genoss. Alle Diktatoren dieser Welt haben eine besondere Vorliebe für uniformierte, im Gleichschritt marschierende Männer und neu gestrichene Vehikel mit phallischen Symbolen in Form von Raketen darauf.

Ansonsten gab es nicht wirklich viel Neues zu berichten. Weitere Drohungen mit dem baldigen Ende der Welt sind ausgeblieben. Keine offizielle Kriegserklärung, keine Generalmobilmachung. Nicht mal eine Doomsday-Iljuschin-80 als fliegender Gefechtsstand am Himmel. Überhaupt keine Flugzeuge über Moskau, die meisten Piloten sind ja derzeit sowieso mit der Ukraine beschäftigt.

Offiziell hieß es nur: Das Wetter war schlecht. In den Jahren davor hat das russische Militär unter großem Aufwand die Wolken immer vertrieben. Womöglich wäre es in der heutigen Situation doch zu teuer gewesen. Vielleicht hätte aber die Bevölkerung die Geräusche über ihren Köpfen auch falsch interpretieren können.

Todesgrüße aus Russland zum Tag des Sieges: Raketeneinschlag in der Nähe des Bahnhofs von Lysychansk in der Ostukraine am 9. Mai
Todesgrüße aus Russland zum Tag des Sieges: Raketeneinschlag in der Nähe des Bahnhofs von Lysychansk in der Ostukraine am 9. Mai
Quelle: Yasuyoshi CHIBA / AFP

Alles andere hat man schon mehrfach gehört – eine wilde Ansammlung von Verschwörungstheorien, verzerrten Geschichtsbildern, Bedrohungsphantasien und sinnlosen Anschuldigungen. Somit war das Interessanteste an Putins Rede eben das, was er nicht gesagt hat. Das Wort „Ukraine“ kam bei seinem Auftritt übrigens auch gar nicht vor. Es wäre ja eine Diskreditierung der russischen Armee gewesen.

Lemberg, den 9. Mai, nachmittags

Der griechische Konsul in Mariupol hatte recht, als er Mitte März die totale Zerstörung der Stadt vorhersagte. Es gibt kein Mariupol mehr. Gut, es gibt dort Straßen, Häuser und sogar Menschen. Aber kaum ein Haus, das nicht zerbombt worden ist. Kaum ein Haus ohne Brandspuren. Es ist eine Geisterstadt. Geister, die am Leben geblieben sind, versuchen aufzuräumen. Unter den Trümmern jedes Hochhauses finden sie dutzende Leichen. Und hunderte Körperteile. Die Geister müssen sich erbrechen, einige erstarren, die anderen lachen hysterisch. Kaum jemand hält diese Arbeit länger als ein paar Tage aus. Niemand weiß, wie viele Tote es gibt. Wahrscheinlich viel mehr, als man vermutet.

Der Stadtrat und Umweltaktivist Maksym Borodin postet auf Facebook, wie es im einstigen Industriezentrum am Asowschen Meer Anfang Mai zugeht: „Es ist Frühling in Mariupol. Aber es riecht nicht nach Frühling. Überall nur Leichengeruch. Eine Stadt wie ein Friedhof. Die Straßen sind menschenleer. Und trotzdem gibt es Leben in der Stadt. Das Ziel ist einfach: Überleben.

Es gibt zwei Gruppen von Menschen: Die einen beschützen das, was von ihrem Eigentum noch geblieben ist, die anderen sind damit beschäftigt, an dieses fremde Eigentum heranzukommen. Die Plünderer sind überall. Wenn es nach dem Ende der intensiven Straßengefechte noch viele nicht aufgebrochene Wohnungen und Garagen gegeben hat, so macht man sich nun auch an sie heran. Alle sind an Plünderungen beteiligt - die russischen Besatzer und die Einheimischen. Selbst die gebrauchte Unterwäsche wird geklaut. Wenn man nicht permanent in seiner Wohnung von morgens bis abends sitzt, hat es keinen Sinn, eine früher aufgebrochene Tür zu reparieren. Die Plünderer werden wiederkommen und sie erneut aufbrechen. Selbst wenn man zu Hause sitzt und keine Nachbarn da sind, kann man nicht sicher sein, dass niemand mit der Waffe in der Hand in die Wohnung einbricht und alles nimmt, was er will.“

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Die Bürgerrechtlerin Swetlana Tichanowskaja
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Maksym Borodin fährt fort: „Neben dem Problem mit dem allgegenwärtigen Verwesungsgeruch gibt es noch ein anderes: die nicht funktionierende Kanalisation; sie ist fast überall verstopft. Man geht einfach in eine verlassene fremde Wohnung hinein und entleert sich dort in die Badewanne oder auf die Decke in der Mitte des Zimmers.

Angesichts der traditionell bevorstehenden Hitze erwartet uns eine Katastrophe: verwesende Leichen in den Wohnungen und unter eingestürzten Häusern, Fäkalien und sonstiger Unrat werden bei fehlender Wasserversorgung und kaputter Kanalisation zur Ausbreitung von Seuchen führen. Da es in der Stadt keine Krankenhäuser und Medikamente mehr gibt, verhundertfachen sich die Probleme.

Ich verstehe diejenigen in Mariupol, die sich weiterhin an ihre Häuser und Wohnungen klammern. Sie sind der Meinung, dass es besser sei, ein eigenes Zuhause in der Hölle zu haben, als obdachlos und ohne Eigentum in der freien Ukraine zu leben. Aber bald werden die meisten von ihnen ihre Meinung ändern und die Stadt verlassen. In welche Richtung auch immer.

Es gibt kein Mariupol mehr. Es ist nur sein Gespenst, mit dem die russischen Besatzer hier das Leben imitieren. Der Zauber wird sich auflösen, nur die Leere wird bleiben“. Soweit der Bericht des Stadtrats Maksym Borodin, der Mariupol inzwischen verlassen hat.

Nach russischen Angriffen: ein beschädigter Wohnblock in Mariupol
Nach russischen Angriffen: ein beschädigter Wohnblock in Mariupol
Quelle: Victor/XinHua/dpa

Der falsche Zauber der „russischen Welt“. Inzwischen haben die Besatzer russische Ortsschilder montiert. Der einzige Unterschied bei Mariupol ist, dass das ukrainische „i“ durch das russische „и“ersetzt wurde. Im Kampf gegen die Buchstaben kann die russische Armee nun ihren ersten Erfolg melden.

Lemberg, den 7. Mai, nachmittags

Wenn man die Meldung liest, dass ein Land beabsichtigt, Waffen an die Ukraine zu liefern, freut man sich. In den vergangenen Wochen gab es viele solche Meldungen. Doch eigentlich ist die Freude immer etwas verfrüht. Denn zwischen Absicht und Beschluss können Wochen vergehen, und uns Ukrainern kommen die Wochen derzeit wie Lichtjahre vor.

Genauso wie der Unterschied zwischen „wird geliefert“ und „wurde geliefert“ nicht einfach im Tempus des verwendeten Verbs liegt, sondern eine unendlich lange Wartezeit bedeuten kann. Selbst wenn er nur die für westliche Waffensysteme erforderliche Ausbildungszeit beinhaltet. Und wenn die Waffen schon in der Ukraine sind, heißt es noch lange nicht, dass sie bereits an der Front angekommen sind und eingesetzt werden können.

Diese zeitliche Kluft zwischen Absicht und Einsatz kostet Menschenleben und übermenschliche Anstrengungen ukrainischer Soldaten, die das Vorrücken der russischen Armee täglich zu verhindern versuchen. Sie wird überbrückt durch alte und halb kaputte Kanonensysteme, wie ein Blogger schreibt. Und von tapferen Menschen, die seit mehr als zwei Monaten ihr Land verteidigen – unter ständigem Beschuss vom Boden und aus der Luft.

Er habe noch nie so oft den Ausdruck „Es ist schwer …“ von ukrainischen Soldaten gehört wie in den letzten Wochen. Doch dann folge es immer noch ein „aber“: … aber wir halten die Positionen, wir kämpfen, wir schlagen sie, sie haben es schon wieder vermasselt.

Die ukrainischen Medien vermitteln ein anderes Bild. Wahrscheinlich ist ihr Zweckoptimismus im Krieg angebracht, man muss die Moral der Menschen unterstützen. Falsche Hoffnungen können aber auch gefährlich sein. Wenn man Mitschnitte von abgehörten Telefonaten russischer Soldaten hört, entsteht fast der Eindruck, dass wir diesen Krieg spätestens in ein paar Wochen gewinnen. Doch die russische Armee ist noch längst nicht geschlagen, auch wenn sie enorme Verluste erleidet und ihre Kampfmoral oft am Boden ist. Wir werden alle noch viel Geduld und Ausdauer brauchen.

Wo bleiben die neuen Waffen? Ein ukrainischer Soldat bei der Panzerreparatur im Donetsk-Gebiet
Wo bleiben die neuen Waffen? Ein ukrainischer Soldat bei der Panzerreparatur im Donetsk-Gebiet
Quelle: AP

Zumindest einen Feind hat man medial schon besiegt. Die Covid-Statistiken, die schon vorher rückläufig waren, sind endgültig den Angaben über abgeschossene russische Flugzeuge und Hubschrauber, zerstörte russische Panzer und getötete russische Soldaten gewichen.

Lemberg, den 7. Mai, nachmittags

Heute muss ich wieder Medikamente abholen. Oder formulieren wir es besser etwas anders – Gegenstände zur medizinischen Verwendung, wie derzeit die ukrainische Post solche Sendungen benennt, egal, was sich darin befindet. Diesmal ist Lemberg nicht der Endpunkt für den Minibus, er fährt weiter, also muss ich pünktlich sein. Der Treffpunkt ist wieder am Stadtrand, aber noch vor dem Checkpoint. Ich muss also nicht durch, der Busfahrer schon.

Im Moment passiert man die Checkpoints allerdings viel schneller, als noch vor zwei Monaten, es ist kein großes Problem. Die Autos schlängeln sich zwischen den Betonblöcken und Sandsäcken im Schritttempo durch. Ich bin früher da, der Bus verspätet sich etwas, aber am Ende klappt die Übergabe. Auf den Kartons steht mein Vorname und meine Handynummer drauf. Ich muss nur umpacken und weiter verschicken. Das werde ich später tun.

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Zunächst, da ich schon sowieso mit dem Auto unterwegs bin, nutze ich die Gelegenheit, um zu tanken. Eigentlich muss ich es gar nicht, die Anzeige sagt mir, dass der Tank noch fast zur Hälfte voll ist. Aber heutzutage weiß man nie.

Nachdem russische Raketen die letzte ukrainische Raffinerie zerbombt haben, kommt der gesamte Nachschub aus dem Westen. Dadurch, dass jetzt alle Autofahrer Sprit besserer Qualität tanken müssen, ist er knapp und die Schlangen an den Tankstellen lang. In Kiew gibt es gar keinen Sprit mehr im freien Verkauf, in Lemberg ist in der Regel nur Benzin zu haben. Die Regierung empfiehlt sogar, ohne dringenden Bedarf kein Auto zu benutzen, die Straßen sind zuletzt deutlich leerer geworden. Die zwei Riesenkartons kann ich allerdings gar nicht anders transportieren.

Verglichen mit den ersten Wochen nach dem Überfall hat sich die Situation geändert. Brauchte man damals zehn Minuten, um zu tanken, und anderthalb Stunden, um einen Checkpoint zu passieren, ist es jetzt umgekehrt. An meiner Tankstelle gibt es nur Superbenzin. Gut, dass ich einen Benziner fahre. Diesel kriegt man nur mit Sondermarke an einer separaten Zapfsäule. Es wird vor allem für Stadtbusse und Militärfahrzeuge reserviert. Da gibt es keine Schlange. Und keine Fahrzeuge.

Fünf Minuten stehen, ein paar Meter fahren. Motor an, Motor aus. Wie viel Sprit verbrennt man in einer Stunde in diesem Modus? Endlich bin ich dran. Ohne Kundenkarte kriegt man nur fünf Liter. Mit Kundenkarte zehn oder fünfzehn. Nach welchen Kriterien sie entscheiden, ist mir ein Rätsel. Heute ist mein Glückstag, ich bekomme fünfzehn. Womöglich entscheidet das System so, weil ich zuletzt vor mehr als zwei Monaten getankt habe. Als suggeriere es mir, ich sollte mehr fahren. Ein typischer Marketingzug, auf jeden Fall in Friedenszeit. Vielleicht wirft der Computer aber nur eine Münze. Eine Stunde und fünf Minuten. Ich fahre weiter.

Ich mache noch einen Abstecher zum Supermarkt nebenan. Normalerweise kaufen wir in unserem „polnischen Laden“ in der Nähe ein. Alle nennen ihn „polnisch“, weil die Ware aus Polen kommt. Auch der italienische Kaffee. In dem Kleinladen sind die Regale immer voll. Und eine Schlange gibt es dort auch. Ganz ohne Schlange geht es derzeit eher selten.

Im Supermarkt sieht es etwas besser aus als direkt nach Kriegsbeginn. Zumindest bei Pasta, Molkereiprodukten und Klopapier. In der Fischabteilung ist es dagegen gähnend leer. In den Regalen stehen unendliche Reihen von Gläsern. Beine der Königskrabbe. Zu einem Schnäppchenpreis von umgerechnet 60 Euro pro Glas mit 400 Gramm Krabbenfleisch. Krass. Einfach absurd. Wer braucht denn so was überhaupt? Und dazu ausgerechnet heute? Kein Wunder, dass es hier im Gegensatz zur Tankstelle keine Schlange gibt. Hoffentlich kommen die Krabben zumindest aus Norwegen. Dass sie aus Russland kämen, kann man sich derzeit nicht vorstellen, selbst wenn es alte Lagerbestände wären.

Ein Junge mit Spielzeugsoldaten in einem Schutzraum in Dnipro
Ein Junge mit Spielzeugsoldaten in einem Schutzraum in Dnipro
Quelle: AP

Ich habe keine Zeit, mich damit weiter zu beschäftigen. In der Bäckerei gibt es frisches Brot direkt aus dem Ofen. Es ist definitiv mein Glückstag heute.

Jetzt schnell nach Hause fahren, Kartons umpacken und zur Postfiliale bringen. In zwei Tagen werden sie an verschieden Orten im Osten und im Süden des Landes sein. Dort übernehmen sie die anderen Helfer. Sie werden die Kartons persönlich dorthin fahren, wo sie gebraucht werden. Es ist ein beruhigendes Gefühl. Auch ohne Krabbenfleisch.

Lemberg, den 5. Mai, abends

Wer jemals in der Ukraine zu Stoßzeiten Straßenbahn gefahren ist, weiß, wie es funktioniert. Hat man noch keinen Fahrschein, kann man ihn bei der Straßenbahnfahrerin kaufen (meistens sind es immer noch Frauen, auch wenn heute manchmal Männer in diesem Job anzutreffen sind). Ist man aber hinten eingestiegen, kommt man nicht bis nach vorne durch. Man kann sich sowieso kaum bewegen.

Also holt man mit akrobatischen Verrenkungen das Geld aus der Tasche und reicht es seinem Nachbarn. Der reicht es weiter, seine Nachbarin wiederum streckt schon die Hand aus, und so wandern die Geldscheine oder die Münzen über die Köpfe der Fahrgäste bis zur Fahrerin. In ihrer Tür gibt es eine kleine Schublade, die sie an Haltestellen immer wieder checkt. Dann wandern die Fahrscheine auf dieselbe Weise zurück. Bestellung eingegangen, Bestellung erfüllt.

Hat man das passende Kleingeld nicht, kriegt man sogar den Rest zurück. Man muss nur sagen, wie viele Fahrscheine man braucht – und schon wandern sie zusammen mit dem Wechselgeld an den Fahrgast retour. Mit dem Entwerten sieht es ähnlich aus, nur sind die Wege etwas kürzer. Es gibt nämlich in einer Straßenbahn in der Regel mehr Entwerter als Fahrer.

Mit den Hilfslieferungen funktioniert es heute genauso. Deine Freunde sagen dir, dass im Ort A oder B – im Osten, im Süden oder im Norden des Landes – etwas dringend gebraucht wird, was derzeit in der Ukraine nicht aufzufinden ist. Bestimmte Medikamente zum Beispiel. Du rufst ein paar Freunde in Europa an oder schreibst Ihnen – und schon machen sie sich auf die Suche. Der Spendenfluss trocknet niemals aus.

Manche Artikel sind heute nicht mal im europäischen Ausland leicht zu finden, der Bedarf ist stark gestiegen. Aber irgendwann klappt es doch. Dann geht es zurück, wie mit dem Fahrschein in der Straßenbahn. Man muss sich nur vorstellen, dass es diesmal eine Straßenbahn ist, die mehrere hundert Kilometer lang ist. Also dauert es in der Regel etwas länger. Aber es funktioniert. Immer und zuverlässig.

Nun sind die Fahrer dran. Ohne sie würde das System nicht funktionieren. Sie sind Tag und Nacht unterwegs, stehen stundenlang an den Grenzübergängen, transportieren hunderte größere und kleinere Pakete in ihren LKW oder Kleinbussen, haben Listen mit hunderten Telefonnummern von verschiedenen Adressaten in verschiedenen Städten. Sie wissen auswendig, welche Straßen in der Ukraine derzeit befahrbar und sicher sind, und welche man lieber meiden sollte. Ich habe noch nie gehört, dass sie irgendetwas verwechselt haben und ein Paket an die falsche Adresse geliefert worden ist.

Manchmal verliert man den Kontakt, sie melden sich stundenlang nicht, vielleicht sind sie in einem Funkloch, man weiß heute aber nie, was unterwegs passieren kann, also macht man sich schon ein bisschen Sorgen. Aber bevor man sich echte Sorgen zu machen beginnt, sind sie wieder da, es hat halt länger gedauert, kein Problem.

Ein Helfer mit gespendeten Gütern in Polen
Ein Helfer mit gespendeten Gütern in Polen
Quelle: Sebastian Gollnow/dpa

Danach übernehmen es andere Helfer. Sie holen ab, packen um, sortieren und verschicken es weiter. In der Ukraine geht es inzwischen sogar wieder mit der Post.

Es ist ein Riesennetzwerk. Man hat Freunde in allen möglichen Städten und Ecken. Ohne alle diese nicht gleichgültigen und total engagierten Menschen aus allen Nationen, in allen Ländern der Welt hätten wir nicht überlebt. Man kann ihnen nicht genügend danken. Irgendwann werden wir ein Denkmal für den unbekannten Helfer aufstellen. Notfalls sogar in einer Straßenbahn.

Lemberg, den 4. Mai abends

Wenn die Städte wachsen, werden die umliegenden Dörfer eingemeindet. Das einst grüne und idyllische Umland wird vom Großstadtmoloch geschluckt. Es ist ein historischer Prozess, der sich überall auf der Welt in verschiedenen Varianten und in mehreren Wellen abspielt. In der Regel werden die neuen Stadtteile von den Bewohnern des Kerngebiets eine Zeitlang als Fremdkörper betrachtet. Es kann Jahrzehnte dauern, bis diese Randviertel als integrale Bestandteile einer verwaltungstechnisch schon längst größer gewordenen Stadt akzeptiert werden.

Manchmal behalten sie ihren eigenen Lebensstil, oft bleiben sie mit ihrer alten Bebauung kleinstädtisch oder sogar landwirtschaftlich geprägt. Selbst wenn die kleinen Bauernhütten abgerissen und stattdessen Hochhäuser gebaut werden, bleiben die alten Traditionen bestehen. Aus der Sowjetzeit kennt man unzählige Geschichten über Ziegen, Schafe, Hühner, Gänse und andere Haustiere, die in den rasant wachsenden Städten auf den Balkonen gehalten und gezüchtet wurden. Ein Stück grüner Wiese für eine Ziege war ja anfangs immer noch irgendwo in der Nähe zu finden.

Auch Lemberg erlebte mehrere Stadterweiterungen – unter der österreichischen Verwaltung, in der Zwischenkriegszeit, als die Stadt zu Polen gehörte, und besonders nach dem Zweiten Weltkrieg in der Sowjetära, als in vielen Außenbezirken Satellitenstädte aus Platte entstanden waren. Eines der letzten und – in seinen megalomanischen Ausmaßen – monströsesten sowjetischen Bauprojekte in Lemberg war die Bebauung eines bis dahin ländlich geprägten Gebiets im Südosten der Stadt. Der neue Bezirk erbte seinen Namen – Sychiw – von einem Dorf, das dort ursprünglich gelegen war.

Fortan öffnete sich dem Blick des Betrachters eine wilde Ansammlung meist neunstöckiger Häuser im typisch tristen Plattenbaustil. Nach Vorstellungen sowjetischer Stadtplaner sollten dort bald 200.000 Menschen leben. Dabei war es von Anfang an klar, dass der Bezirk nicht ausreichend mit Wasser versorgt werden kann. Zum Glück zogen am Ende nie so viele Einwohner in die Plattenbauten von Sychiw ein, immerhin sind es etwa 150.000 geworden. Fließendes Wasser gab es im Bezirk trotzdem nur zwei bis drei Stunden täglich. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verlangsamte sich die Expansion rapide. Die Wasserprobleme konnten jedoch erst im neuen Jahrtausend gelöst werden.

Lange Jahre hatte das neue Wohnviertel keinen guten Ruf. Auch nach dem Ende des Kommunismus hat sich zunächst kaum etwas geändert. Die Kriminalität und die Arbeitslosigkeit waren hoch, die Immobilienpreise niedrig. Es gab nicht einmal eine richtige Verkehrsanbindung an das neue Wohnviertel. Ein Teilstück der geplanten Brücke stand bis Ende der 1990er-Jahre als sowjetische Bauruine da; eine Straßenbahnlinie, die die Verkehrssituation entscheidend verbesserte, gibt es erst seit 2016.

Was man damals nicht wissen konnte: Durch seine Lage im äußersten Südosten Lembergs ist Sychiw derzeit zum ersten Beobachtungspunkt für russischer Raketen geworden, die ihre seltenen Angriffe auf die Stadt fliegen. Zumindest wenn sie vom Schwarzen oder Kaspischen Meer abgefeuert werden, was derzeit die Regel ist. Die Bewohner rufen ihre Bekannte und Verwandte an: „Sie fliegt!“ Ist man schnell genug, kommt der Anruf noch vor dem Einschlag an. Es ist gar kein angenehmer Anblick. Und kein angenehmes Geräusch. Es muss einem wie eine Szene aus dem Science-Fiction-Film vorkommen, wenn eine Rakete ziemlich langsam über den eigenen Kopf fliegt. Eine Bekannte von mir konnte sich noch Stunden danach nicht beruhigen, ihre Stimme am Telefon war voller Angst und Verzweiflung.

Rauch über Lemberg nach dem neuen Raketenangriff
Rauch über Lemberg nach dem neuen Raketenangriff
Quelle: dpa/Joe M O'brien

Gestern schlugen wieder Raketen in Lemberg ein. Zum vierten Mal in diesem Krieg. Diesmal gab es keine Toten, nur zwei Verletzte, glücklicherweise nicht besonders schwer. Alle paar Wochen feuert Russland seine Marschflugkörper auf Lemberg ab. Als Erinnerung an seine „Sonderoperation“. Gestern beschloss die russische Militärführung, einige Umspannwerke zu „entnazifizieren“. Über 80.000 Haushalte blieben mehrere Stunden ohne Strom, die Züge kamen mit großer Verspätung an. Der Kampf russischer Raketen gegen Lemberger Transformatoren geht weiter.

Lemberg, den 3. Mai, nachmittags

Warum sehen die Domizile der Korruptionäre, Autokraten, Diktatoren und der vielen Oligarchen immer ähnlich aus? Nein, in der architektonischen Ausführung kann es durchaus einige stilistische Unterschiede geben, aber sie sind eher oberflächlicher Natur. Ihrem Wesen nach bleiben die Bauten immer dieselben – eine merkwürdige Mischung aus geschmacklosem Kitsch, vergoldetem Prunk, wichtigtuerischer Angeberei, sinnloser Nachahmung und gähnender Leere. Als hätten diese Paläste gemeinsame Gene. Wenn man so einen kitschigen Monsterbau sieht, ist es unverzüglich klar, was das ist. Wie bei den Hunderassen – egal, wie ein Hund aussieht, man weiß sofort, dass es sich um einen Hund handelt.

Eigentlich sind solche Objekte zum Leben absolut ungeeignet. Sie machen krank. Falls man schon vorher nicht seelisch krank gewesen ist. Dann wird man noch kränker. Man wird klaustrophobisch und paranoid. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie man in solchen Häusern schlafen kann. Es sei denn, man nimmt schon sowieso längst Schlaftabletten und Antidepressiva.

Meschyhirja, eine malerische Gegend am rechten, westlichen Ufer von Dnipro, liegt knapp 30 Kilometer nördlich von Kiew. Auf dem hügeligen, mit Wäldern bewachsenen Gelände war bereits im frühen Mittelalter ein Kloster gegründet worden. Mit Unterbrechungen blieb es dort mehrere Jahrhunderte bestehen, bis die Bolschewiken das Kloster in den 1920er-Jahren schlossen und bald danach auch das Gebäude niederrissen.

In den 1930ern wurde an diesem Ort eine Residenz der ukrainischen Sowjetregierung gebaut. Jeder neue Parteifunktionär, der hier einzog, ließ das Haus seines Vorgängers abreißen und ein neues bauen. Im Juli 1991 trafen sich in Meschyhirja der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl und der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow.

Doch im Vergleich zu jenem Palast, den sich der ehemalige ukrainische Präsident Janukowytsch dort für sich erbauen ließ, sahen alle vorherigen Residenzen wie kleine notdürftige Hütten aus. Der 2014 geflüchtete Möchtegerndiktator und Oberkorruptionär hatte sogar einen Teil der gesamten Anlage als sein Privateigentum registrieren lassen. Der Rest des knapp 140 Hektar umfassenden Anwesens wurde von einer Tarnfirma und einer dubiosen Stiftung gepachtet. Das gesamte Ausmaß der Korruption wurde erst nach der Flucht von Janukowytsch offenbar, unter anderem dank der Arbeit von vielen ukrainischen Journalisten, die eilig im Dnipro entsorgte Finanzunterlagen gerettet und ausgewertet haben. Doch den Hauptbeweis lieferte der Palast und seine Inneneinrichtung selbst.

Bis heute gilt er als Symbol der Korruption und der sinnlosen Selbstbereicherung schlechthin. Ein Schwimmbad, ein Boxring, ein Sportsaal, eine Kegelbahn, ein Tennisplatz, eine Galerie mit zwitschernden Vögeln, ein Kinosaal, eine Kapelle, überall Gold und Halbedelsteine, auch in den Duschkabinen und Badezimmern, mit Schlangenhaut überzogene Blumentöpfe, ein Esstisch auf dem die abgezogene Haut eines Krokodils ausgebreitet ist (woher nur diese Vorliebe für Reptilien?), ein Flügel à la John Lennon, ein reich verzierter tonnenschwerer Kronleuchter… Es fehlte nur ein Porträt des Hausherrn als römischer Imperator. Ich konnte mich nicht dazu überwinden, auch nur ein einziges Foto von diesem grenzenlosen Kitsch zu machen.

Dazu noch ein Zoo als Teil der Gesamtanlage, eine Straußenfarm, ein Hundezwinger, ein Hangar für Oldtimer, ein Schießstand, ein Jagdrevier… Alles, was ein korrupter Präsident so braucht, um das Leben in vollen Zügen zu genießen.

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Nach dem Euromaidan war die Anlage frei zugänglich. Der riesige Park, der bis zum Stausee am Dnipro, dem sogenannten Kiewer Meer, hinunterführt, wurde zu einem beliebten Ausflugsziel. Auch das Janukowytsch-Haus konnte man mit einer Extraführung besichtigen. Doch wenn der Aufenthalt im Park in der frischen Luft einem eher wohltat, fühlte man sich im Palast durch seine unmenschliche Dimension und Kälte angewidert.

Nach dem Überfall auf die Ukraine versuchte die russische Armee vergeblich, bei ihrem Vorstoß auf die ukrainische Hauptstadt aus nördlicher und nordwestlicher Richtung voranzukommen. Der Fotograf und Filmemacher Max Lewin wollte die schweren Kämpfe dokumentieren. Ab Mitte März gab es plötzlich keinen Kontakt mit ihm. Kein gutes Zeichen im Krieg. Seine Leiche wurde erst am 1. April gefunden, nur wenige Kilometer von Meschyhirja entfernt. Er wurde durch zwei Schüsse getötet. Der Vater von vier Kindern war einer von sieben Journalisten, die in dem von Russland entfesselten Angriffskrieg bisher gestorben sind. Von fünfzehn weiteren fehlt immer noch jede Spur.

Um Meschyhirja selbst wurde nicht gekämpft. In den Kellern fanden Bewohner der umliegenden Dörfer und Flüchtlinge Unterschlupf. Nur einmal wurde die Anlage beschossen. Zwei Schwäne am künstlich angelegten See wurden von den Splittern getötet.

Eine Frau in Lyman in der umkämpften Ostukraine
Eine Frau in Lyman in der umkämpften Ostukraine
Quelle: REUTERS

Vielleicht hatte die russische Armee keine Zeit, einen Abstecher an das Ufer des Kiewer Meers zu machen. Vielleicht stellte man sich in Moskau in perversen imperialen Träumen das Anwesen als Sitz einer zukünftigen ukrainischen Marionettenregierung vor. Oder eines russischen Gauleiters.

Hoffentlich werden die Ukrainerinnen und Ukrainer bald wieder im Park von Meschyhirja ausgedehnte Spaziergänge unternehmen können. Dann werden sich ihre Kinder über die Tiere im Zoo freuen.

Lemberg, den 2. Mai, nachmittags

Im vergangenen Herbst besuchte ich meinen Freund Vitali. An jenem Tag war ich auf dem Rückweg nach Kiew von einer Pressetour in Mezhyhirja, der ehemaligen Residenz des geflüchteten, ebenso korrupten wie autoritären ukrainischen Präsidenten Janukowytsch. Autoritarismus und Korruption sind ja nicht selten wie ein Zwillingspaar – das eine geht nicht ohne das andere.

Mein Zug nach Lemberg ging erst abends, ich hatte mehrere Stunden Zeit. Vitali holte mich an einer verlassenen Busstation am Stadtrand ab. Wir bogen auf die Umgehungsstraße ab und fuhren Richtung Westen. Nach wenigen Minuten nahmen wir eine Abfahrt, bald waren wir da.

Einige Jahre zuvor hatte Vitali beschlossen, aus Kiew wegzuziehen. Wie viele seiner Dolmetscher- und Übersetzerkollegen arbeitete er freiberuflich. Die Hektik der Hauptstadt nervte ihn immer stärker, die Luftqualität verschlechterte sich mit der zunehmenden Motorisierung der Bevölkerung, es war nur noch ein Leben zwischen Stau und den vier Wänden einer Hochhauswohnung. Frische Luft und wilde Natur passten besser zu Vitalis Vorstellung von einem gesunden Lebensstil.

Er verkaufte seine Kiewer Wohnung, erwarb ein Grundstück in einer kleinen mittelständisch geprägten Wohnsiedlung außerhalb Kiews, ließ sich dort ein kleines Haus bauen und zog nach den im Baugewerbe üblichen Verzögerungen und Streitereien mit Handwerkern schließlich darin ein. Nach Kiew fuhr er nur noch zu seinen Dolmetschereinsätzen, ansonsten arbeitete er von zu Hause. Mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie verlagerte sich das Geschäft sowieso immer mehr in Richtung Homeoffice. Den neuen Arbeitsalltag dominierten nun die Videokonferenzen.

Es war eine schöne und ruhige Gegend mit vielen Einfamilienhäusern. Keine Oligarchenvillen, keine Hochhauskerzen. Unweit der Siedlung schlängelte sich auf der einen Seite in nördliche Richtung ein Fluss, auf der anderen Seite war sie von einem Wald umrahmt. Eine Idylle. Am Morgen werde man hier immer vom Vogelgesang geweckt, erzählte Vitali. Wir aßen gegrillte Wachteln aus dem Supermarkt.

Es gab dort nur ein Problem, wie es sich paar Monate später herausstellen sollte. Denn der Name des Flusses lautet Irpin.

Hostomel, Irpin, Butscha, Borodjanka … die Namen dieser Ortschaften stehen heute auf den Titelseiten internationaler Zeitungen. Bilder davon sind um die Welt gegangen. Schwere Kämpfe, unsägliche Gräueltaten russischer Soldaten. Ein regelrechtes System von Vergewaltigungen, Folterungen und Morden an Zivilisten. Ohne perverse Brutalität ging es bei der zweitgrößten Armee der Welt noch nie. Sie gehört wohl zur Grundausbildung beim russischen Militär.

Als ich Vitali Ende Februar anrief, war er bereits auf verstopften Straßen in Richtung Südosten unterwegs. Zu Hause wurde er seit Kriegsanfang nicht mehr vom Vogelgesang, sondern von der nicht weit entfernten Kanonade geweckt. Sie hörte auch in der Nacht nicht auf. Die Kämpfe rückten immer näher. Es war höchste Zeit zu fliehen. Die Flucht gelang ihm, irgendwann kam er nach einer Fahrt im Schritttempo bei seiner Schwester in der benachbarten Region Tscherkasy an. Dort lief das Leben ungestört weiter.

Terror als Kriegstaktik: Ein zerstörtes Haus in der Region Chernihiv
Terror als Kriegstaktik: Ein zerstörtes Haus in der Region Chernihiv
Quelle: REUTERS

Ende März zogen sich die russischen Truppen nach schweren Verlusten aus der Gegend um Kiew zurück. Kurz vor Ostern schaute Vitali in seinem neuen Heimatdorf wieder vorbei. Es gab immer noch keinen Strom und kein Gas, aber auch keine Zerstörungen und keine Plünderer. Wie fast alle anderen in der Siedlung hatte er Glück. Nur ein Nachbar hatte keines: Nach einem Zufallstreffer hat er kein Haus mehr.

Am gegenüberliegenden Flussufer bot sich hingegen ein Bild totaler Zerstörung. Es war eine apokalyptische Landschaft aus Häuserruinen und verbranntem Militärgerät. Als Vitali sein Haus baute, konnte er nicht ahnen, dass er dies am falschen Fluss tat. Zum Glück hat er sich für das richtige Ufer entschieden. Ende dieser Woche will er zurückkehren.

Lemberg, den 30. April, mittags

Der Frühling ließ in diesem Jahr auf sich warten. Fast der gesamte April war kalt und regnerisch, und die Tage, an denen es ausnahmsweise nicht regnete, waren grau und düster. Die Bäume standen kahl und verwaist, als wüssten sie nicht, wie es weitergehen solle. Es schien, als warte die Natur ab, ob sie den Frühling in die Ukraine schicken solle. Genauso wie der Westen lange Zeit gezögert hat, das Land in seinem verzweifelten Kampf gegen den russischen Überfall bedingungslos zu unterstützen und diese Unterstützung erst auf der Konferenz im südwestdeutschen Ramstein verkündet hat.

Offenbar hat das auch der Wettergott als klares Signal verstanden. Seit einigen Tagen ist es sonnig und warm in Lemberg. Nun blühen überall die Bäume, das noch nicht ganz üppige Grün mischt sich mit anderen Farben zu einer sorglosen Frühlingsromantik. Das Weiß der Magnolien, das Gelb der Forsythien, das Rosa der japanischen Blütenkirche. Selbst am Nussbaum in unserem Hinterhof sprießen die Blätter aus den Knospen.

Im Donbass: Ein ukrainischer Soldat montiert ein Maschinengewehr
Im Donbass: Ein ukrainischer Soldat montiert ein Maschinengewehr
Quelle: AP

Es ist die Zeit der Hobbyfotografen und Straßenmusiker. Die überschwänglichen, instagramreifen Verrenkungen der Körper vor dem Hintergrund eines blühenden Baums würden zu gefühlsbetonten Akkorden einer nicht ganz sauber gestimmten Gitarre passen. Manchmal trifft sogar beides zusammen. Es ist die erste große Fotosession des Jahres, die nächste kommt erst in etwa zwei Monaten, mit den Abibällen. Die Sommerterrassen der Cafés füllen sich mit Menschen. Die Parks füllen sich mit Buggys, E-Rollern und Kindergelächter. Das geschäftliche Treiben der Innenstadt wird nur durch die Ausgangssperre unterbrochen. Die Stadt lebt, nichts erinnert an den Krieg. Zumindest fast nichts.

Im traditionellen Sprachenwirrwarr, der in Lemberg im Spätfrühling einsetzt, wird man heuer einige Sprachen vermissen. Polnisch, Deutsch oder Englisch werden genauso ausbleiben wie ausländische Touristen. Der übliche Fremdenverkehr wird dem Alltag der Binnenflüchtlinge weichen. Eine Lemberger Kneipe wirbt mit kostenlosen Mahlzeiten für Vertriebene – zweimal am Tag, um zwölf Uhr mittags und fünf Uhr nachmittags. Auf Englisch. Ich frage mich nur, wie viele englischsprachige Flüchtlinge aus dem ukrainischen Osten kommen. Vielleicht will man sich nur im Gebrauch des Englischen üben, damit es nicht verrostet.

Noch ein paar warme Tage und die Freiluftbäder werden um die Besucher werben. Hallenbäder haben schon jetzt geöffnet. Man kann sich freilich schwer vorstellen, wie man beim Fliegeralarm aus einem Schwimmbad gleich in den Luftschutzkeller rennt. Aber die psychologische Wirkung des „normalen“ Betriebs darf – genau wie der wirtschaftliche Aspekt – nicht unterschätzt werden: Nicht nur Museen, Konzerte oder Lesungen, sondern auch andere Formen des Freizeitvertreibs sind wichtig für die gefühlte Normalität.

Dennoch bleibt es eine Kunst der Verdrängung, ein Ausdruck der therapeutischen Selbsthilfe. In einer normalen Welt beginnt man in dieser Zeit an den Sommerurlaub zu denken. In der Ukraine nicht. Hier denkt man eher daran, dass, wenn die Wälder wirklich grün und die Gräser richtig hoch sind, in den besetzten Gebieten die Stunde der Partisanen schlägt.

Lemberg, den 28. April, mittags

Offenbar gibt es viele Parallelwelten. Eine davon scheint die Welt des Pazifismus zu sein. Ich habe nichts gegen Pazifismus. Es ist ein wunderbares Konzept, eine tiefe ethische Überzeugung, dass Kriege prinzipiell falsch sind und verhindert werden müssen. Ich glaube, kein vernünftiger Mensch würde dies bestreiten. Das Problem ist nur, dass die Pazifisten die Gewalt an sich als Übel sehen und nicht die ursprüngliche Quelle dieser Gewalt. Deswegen konnten sie noch keinen Krieg verhindern. In der extremen Form machen sie kaum einen Unterschied zwischen Gut und Böse, zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen Freiheit und Totalitarismus. Es ist der „einäugige Pazifismus“, wie ihn George Orwell in seinem 1940 publizierten Essay „My Country Right or Left“ bezeichnet, „typisch für geschützte Länder mit einer starken Navy“. Ok, es muss nicht unbedingt eine starke Navy sein. Es reicht, wenn man sich sicher fühlt.

So kommen von Pazifisten verschiedener Couleur immer wieder ganz merkwürdige Empfehlungen. Dass man sich zum Beispiel gegen den russischen Überfall gar nicht militärisch wehren und stattdessen einen „gewaltlosen Widerstand“ ausprobieren sollte. Ich frage mich nur, ob der Autor bereit gewesen wäre, der Sowjetunion einen ähnlichen Rat zu geben, als sie von Nazi-Deutschland überfallen wurde.

Oder dass die Ukrainerinnen und Ukrainer in weißer Kleidung mit weißen Friedensfahnen die Einfallstraßen in die großen Städte blockieren sollten. Die russischen Panzerfahrer wären davon wohl so beeindruckt gewesen, dass sie samt ihren Panzern umgehend umgekehrt wären. Schade, dass der Autor es selbst nicht ausprobiert hat. Die friedlichen Demonstranten 2014 im Donbass und 2022 im derzeit von der russischen Armee besetzten ukrainischen Süden schon. Nur ohne weiße Kleidung und ohne weiße Friedensfahnen. Vielleicht hätte man 1956 in Budapest und 1968 in Prag besser weiße Klamotten anziehen sollen? War es ein Fehler, dass die Ungarn und die Tschechen es nicht getan haben? Auf jeden Fall beweisen diese Beispiele, dass man mit bloßen Händen kaum etwas gegen Panzer und Kalaschnikows ausrichten kann.

Rastender ukrainischer Soldat in Huljajpole
Rastender ukrainischer Soldat in Huljajpole
Quelle: Getty Images

Die Proteste gegen den Vietnamkrieg waren ein wichtiger Bestandteil der Studentenbewegung der 1960er-Jahre in der Bundesrepublik. An Vorschläge, dass die Vietnamesen kapitulieren oder in weißen Kleidern einen Sitzstreik antreten sollten, kann ich mich nicht erinnern. Vielleicht war ich damals einfach zu jung. Allerdings kann ich mich auch nicht an Proteste gegen die sowjetische Invasion in Afghanistan erinnern. Da war ich schon ein bisschen älter. Der einzige Trost: Wenn es welche gegeben hätte, hätte sie das sowjetische Fernsehen nie gezeigt.

Manchmal ist es schwer zu sagen, was unerträglicher ist – der brutale russische Faschismus oder der naive westliche Pazifismus. Aber auch mit der Neutralität ist es schwierig. Es ist gut, dass manche Länder neutral sind. Das ist geschichtlich und vielleicht sogar geografisch bedingt. Sonst hätte man Vertreter eines verbrecherischen Regimes auch nirgendwohin zu offiziellen oder geheimen Verhandlungen einladen können. Trotzdem hat man den Eindruck, dass die zu einem Fetisch erhobene Neutralität ... na ja, keine Komplizenschaft mit einem Diktator bedeutet, aber doch eine vollkommen distanzierte Kälte ausstrahlt. Wenn man denn Kälte ausstrahlen kann.

Also gilt für die Waffenlieferungen aus neutralen Staaten eher das Motto: Man liefert nur an Länder, wo die Waffen nie eingesetzt werden. Als würde man Uhren nur an jemanden verkaufen, der sie nie benutzen würde. Da wäre es wesentlich konsequenter, überhaupt keine Waffen in neutralen Staaten zu produzieren. Dann wären wir heute nämlich nicht in der Situation, dass die Lieferung der ausgemusterten deutschen Gepard-Flakpanzer an die Ukraine wegen des Schweizer Vetos womöglich gar keinen Sinn macht. Die Munition für die Geparde stammt nämlich aus Schweizer Produktion. Schon wieder ein absurder Teufelskreis. Gut, dass man zumindest Schokolade aus den Beständen der Bundeswehr hätte liefern können.

Lemberg, den 27. April, nachmittags

Vor etwa 15 Jahren hat ein deutscher Fernsehsender eine romantische Doku über Lemberg als Weltkulturerbe gedreht. Filme über das Weltkulturerbe müssen per definitionem romantisch sein. Selbst wenn der Begriff etwas inflationär ist und die seit 1978 von Unesco geführte Liste mit jedem Jahr um Dutzende neuer Einträge erweitert wird, ist die Idee von unschätzbaren, für die gesamte Menschheit von einem universellen Wert geprägten Stätten ein wunderbares Beispiel für den gemeinsamen Bestand der menschlichen Zivilisation.

Die historische Altstadt von Lemberg steht seit 1998 auf der Liste. Seitdem kämpfen die Denkmalschützer gegen diverse Baulöwen, die irgendwo in der unmittelbaren Nähe immer wieder ein Hochhausmonster errichten wollen.

Es war eine ziemlich aufwendige Produktion. Eine 35-mm-Kamera und ein Zelluloid-Film wirkten in Zeiten der Digitalisierung fast archaisch. Vielleicht wollte die Unesco damit früheren Filmepochen ein Denkmal setzen. Vielleicht konnte aber auch die Bürokratie schlicht und einfach nicht mit dem Tempo der technischen Entwicklung Schritt halten.

Hilfe für einen Bürger Irpins
Hilfe für einen Bürger Irpins
Quelle: AP

Die Kollegen aus Deutschland hatten ein ausgeklügeltes technisches Hilfsmittel mitgebracht – einen zerlegbaren Kran, an dessen langem Arm die Kamera befestigt war, während der Kameramann unten in einem bequemen Klappsessel saß. So war es möglich, mit langsameren oder schnelleren Schwenks herrliche Aufnahmen zu machen. In zerlegtem Zustand passte der Kran sogar in einen Audi 80. Er war ein Meisterwerk deutscher Ingenieurskunst. Drohnen setzte damals nur das Militär ein.

Für den Zusammenbau des Krans haben wir etwa vier Stunden gebraucht. Danach konnten die Aufnahmen beginnen – wäre es denn in jenem Sommer nicht so heiß gewesen. Wir stellten fest, dass die Elektronik wegen der extremen Hitze plötzlich streikte. Das Problem wurde gelöst, indem man das Steuerpult eine Zeit lang an die Luftschlitze einer Autoklimaanlage hielt, bei laufendem Motor. Nicht besonders umweltfreundlich, manchmal aber fordert die Kunst Opfer.

Die Fernbedienung funktionierte wieder, wir machten einige tolle Schwenks. Nachdem wir mit den Aufnahmen fertig waren, bauten wir den Kran wieder auseinander. Diesmal ging es etwas schneller. Nach rund drei Stunden war es so weit. Wir verstauten das Gestänge im Auto und fuhren zurück ins Hotel.

Es ist ein sehr schöner, atmosphärischer Film geworden. Die Kamera bewegte sich langsam in elegantem Bogen, die Fassaden flossen stilvoll am Zuschauer vorbei, und die Silhouette eines Kirchturms drehte sich im blauen wolkenlosen Himmel. Die Sequenz dauerte kaum eine halbe Minute.

Heute hätte man das mit einer handelsüblichen Drohne wesentlich schneller gefilmt. Dass Jahre später in der Ukraine Kampf- und Kamikaze-Drohnen so viel wichtiger sein werden, konnte damals niemand ahnen.

Was wird uns die technische Entwicklung demnächst bringen? Vielleicht wird es in der Zukunft genauso leicht sein, mit einer kleinen, einfach zu bedienenden U-Boot-Drohne tolle Unterwasseraufnahmen zu machen. Es wäre ein großer Fortschritt für die Filmindustrie, vielleicht sogar für die Unesco. Vergangene Woche hat die ukrainische Regierung den versenkten Kreuzer „Moskwa“ als nationales Unterwasserkulturerbe eingestuft. Ob Kiew erwägt, es auf die Welterbeliste setzen zu lassen, bleibt unbekannt.

Lemberg, den 26. April, nachmittags

Auch russische Soldaten kommunizieren – mit ihren Freunden, Ehefrauen, Müttern. Sie chatten, posten, telefonieren. Der Stil ist anders. Er ist sozusagen den aktuellen Gepflogenheiten der nationalen Kommunikation in diesem Land geschuldet. Wenn man nach den abgefangenen Gesprächen sowie diversen Posts und Chats urteilt, dominieren dort zwei große Themen – Angst und Hass. Ohne Hass geht nicht. Ohne Hass lassen sich keine Kriege führen. Zunächst der Hass, dann der Krieg. Hass war schon immer ein immanenter Bestandteil der russischen Gesellschaft. Hass gegen die Andersdenkenden. Hass gegen die Fremden. Hass gegen den Westen. Vermischt mit dem Traum, dass alle Angst vor Russland haben. Angst und Hass sind Themen, die auch der russischen Literatur nicht ganz fremd waren. Hier handelt es sich allerdings nicht um ein Problem der Literaturwissenschaft. Es fällt eher in den Bereich der Sozialwissenschaft und Psychologie.

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Selbstverständlich werden von allen durch ukrainische Nachrichtendienste abgehörten Telefonaten gezielt diejenigen ausgewählt und veröffentlicht, die besonders tiefe Abgründe zeigen. Aber sie passen ganz genau zum Zustand der russischen Gesellschaft und zu dem, was die russische Armee in ihrem Angriffskrieg in der Ukraine bisher an Gräueltaten verübt hat.

„Hi, wo steckst du? Ich habe dich angerufen und dir geschrieben“, heißt es in einem Chat zwischen einem Soldaten und seinem Bruder. – „In der Ukraine, Region Cherson.“ – „Wie läuft’s? Alles klar? Wann kommst du nach Hause?” – „Was heißt nach Hause? Man muss das hier erst mal überleben.“ – „Was soll das bedeuten?“ – „Es ist ein Graus hier. Wir sterben zu Dutzenden, so viele Leichen habe ich noch nie gesehen. Als mein Freund zerfetzt worden war, habe ich eine halbe Stunde gekotzt …“ – „Ich habe die Nachrichten im Fernsehen geguckt. Wenn ich es richtig verstanden habe, gibt es Fortschritte. Zum 9. Mai werden wir Kiew einnehmen.“ – „Was für Kiew??? Wir haben uns vor einer Woche aus Tschornobajiwka zurückgezogen. Dort ist die Hölle …“ – „Ich kann es kaum glauben“ – „Ich schwör‘s! Bruder, wenn ich sterbe, pass auf Tjoma auf, er ist ja erst vier …”

Russische Soldaten, angeblich in Schtschastja in der Region Luhansk
Russische Soldaten, angeblich in Schtschastja in der Region Luhansk
Quelle: Gavriil Grigorov/TASS/picture alliance

In einem Post ist die Stimmung dagegen ganz anders: „Ihr macht’s genau richtig, Brüder! … Die Zivilisten sind die Stütze der Armee, sie sollen in erster Linie bombardiert werden. Dann wird sich die Armee ergeben. Und die Stütze der Zivilisten sind Kinder und Ärzte. Erschießt die Ärzte, erwürgt die Kinder … Die niedrige Rasse der Chochly (Ukrainer) soll als Nation aussterben. Alle 40 Millionen.“

Auch die Russische Orthodoxe Kirche übt sich in Hasstiraden. Sie rüstet die russischen Soldaten seelisch auf. In einem Flugblatt der Kirchenprovinz Brjansk heißt es wörtlich: „Du bist ein russischer Krieger. Es ist deine Pflicht, die Heimat vor ukrainischen Nationalisten zu verteidigen. Deine Aufgabe ist, die ukrainische Nation auszulöschen.“

Eigentlich muss man nicht fortsetzen. Es bedarf keiner Kommentare. Es steht jedoch noch ein dritter Satz im Flugblatt: „Dein Feind ist die Ideologie, die auf sündhafte Weise die menschliche Seele beschädigt.“ In der Vorstellung der russischen orthodoxen Kirche gibt es wohl nur eine richtige Ideologie, die ihr Segen verdient hat – der russische Faschismus.

Lemberg, den 25. April, mittags

Wie sieht ein gewöhnlicher Tag an der Front aus? Kann man sich ihn denn überhaupt vorstellen, wenn man nicht da gewesen ist? Ganz gewiss nicht. Deswegen sollte man zuhören. Ein ukrainischer Soldat beschreibt es auf Facebook so:

„Ab 8.40 Uhr startet der Feind eine Rauchattacke gegen unsere Einheiten. Danach versucht er, unsere Stellungen anzugreifen und von den Flanken zu umgehen. Ein Teil der feindlichen Infanterie rückt auf Position X im Gebiet X vor, es kommt zu Feuergefechten. Um 11.30 Uhr wird der Feind zurückgeschlagen.“

„Am linken Flügel gibt es erneut Gefechte. Sie dauern weiterhin an.“

Ein zerstörtes Wohngebäude in Chernihiv
Ein zerstörtes Wohngebäude in Chernihiv
Quelle: AP

„Im Operationsbereich einer ukrainischen mechanisierten Brigade werden drei Kampfeinsätze gemeldet. Um 15.00 Uhr gibt es einen neuen Versuch der feindlichen Infanterie, verstärkt durch X, auf die Position X vorzurücken. Die Kämpfe gehen weiter. Der Feind hat keinen Erfolg.“

„Von 15.25 bis 18.10 Uhr ein neuer Angriff, unterstützt von 10 gepanzerten Mannschaftswagen und 6 Panzern. Der Feind hat keinen Erfolg.“

„Ab 18.25 Uhr nimmt der Feind seine Offensive auf dem Abschnitt X wieder auf. Ohne Erfolg. Die feindliche Artillerie beschießt unsere Stellungen permanent. Wir schlagen zurück. Verluste des Feindes: 4 Panzer, 3 gepanzerte Mannschaftswagen. Wie viele russische Soldaten getötet und verletzt worden sind, ist noch unklar. Wir halten die Stellungen weiter.“

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„Stündlich gibt es schwere Kämpfe. Es wird immer wieder über abgeschossene russische Kampfjets und Hubschrauber berichtet. Das gelingt uns nicht deshalb so, weil wir wie Jedis aus dem Star-Wars-Universum wären, sondern weil der Himmel voll von diesen Bastarden ist.“

Es ist nur eine Kurzbeschreibung im Telegrammstil vom Alltag an der Front. Nur ein Tag auf einem kleinen Abschnitt. Fünf gegnerische Angriffe, unterstützt von Panzern, massivem Artilleriebeschuss und Lufteinsätzen. Ich habe den Post leicht gekürzt und etwas umgebaut. Es gibt auch eine andere Kurzfassung der Lage, die täglich vom Generalstab veröffentlicht wird. Dort heißt es: Der Feind hat versucht, unsere Stellungen im Gebiet X anzugreifen. Ohne Erfolg.

Juri Durkot wurde für seine Übersetzungen der Werke von Serhij Zhadan – gemeinsam mit Sabine Stöhr – mit dem Brücke Berlin-Preis und dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.

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