WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Kultur
  3. Schulmassaker: Ein Grauen, das ich so nur in den USA fühle

Meinung Schulmassaker

Ein Grauen, das ich so nur in den USA fühle

Tod durch Schusswaffen ist häufigste Todesursache bei Kindern in den USA

Erneut ist es an einer Schule in den USA zu einem Amoklauf gekommen. 19 Kinder wurden dabei getötet. Der 18-jährige Tatverdächtige erwarb die Waffen ganz legal im Handel. Wieder flammt die Forderung nach schärferen Waffengesetzen auf.

Quelle: WELT

Autoplay
Hier können Sie unsere WELT-Podcasts hören
Um eingebettete Inhalte anzuzeigen, ist deine widerrufliche Einwilligung in die Übermittlung und Verarbeitung von personenbezogenen Daten notwendig, da die Anbieter der eingebetteten Inhalte als Drittanbieter diese Einwilligung verlangen [In diesem Zusammenhang können auch Nutzungsprofile (u.a. auf Basis von Cookie-IDs) gebildet und angereichert werden, auch außerhalb des EWR]. Indem du den Schalter auf „an“ stellst, stimmst du diesen (jederzeit widerruflich) zu. Dies umfasst auch deine Einwilligung in die Übermittlung bestimmter personenbezogener Daten in Drittländer, u.a. die USA, nach Art. 49 (1) (a) DSGVO. Mehr Informationen dazu findest du hier. Du kannst deine Einwilligung jederzeit über den Schalter und über Privatsphäre am Seitenende widerrufen.
Ich bin Mutter und lebe seit Jahren in den USA. Bei jeder Schießerei trifft sie mich, die Angst um mein Kind. Was dieser amerikanische Horror mit mir macht – und was ich intuitiv tue, wenn ich Sirenen höre.

Amerika ist der amerikanische Traum, das Land von Freiheit und radikalem Unternehmertum, von Silicon-Valley-Erfindergeist und Hollywoods Glitzer. Aber Amerika ist auch das Land von Unfreiheit und Rachedurst, von Waffen, mass shootings und Gewalt, von dreihundertjährigen Gefängnisstrafen und politisch korrektem Wahn, wie es Philip Roth in seinen Romanen beschrieben hat.

Nirgends auch in der westlichen Welt sind die Menschen existentiell so einsam, so scheint es mir, die ich hier seit Jahren mit meiner Familie lebe, wie in den USA, ob sie nun mitten in L.A. oder Manhattan leben. Einsamkeit ist das amerikanischste am „American Mind“, denke ich immer, wenn ich nachts an Strip Malls vorbeifahre und alles leer ist, aber voller Lichter.

Zu der schönen Einsamkeit kommt dann der Horror: Den Amerika-Horror kenne ich, seitdem ich in den USA ein Kind geboren habe und es nun dort großziehe. Ein Grauen, das gleich hinter dem Brustbein sitzt, und das ich so nur in den USA fühle, wo potentiell jeder ein Maschinengewehr unter dem Vordersitz seines oder ihres Pickups hervorziehen könnte.

Als ich vor zehn Jahren schwanger wurde, wollte ich zum ersten Mal wirklich nach Hause, nach Europa, und mein Kind bei meiner Familie bekommen, obwohl Kalifornien, genauer, das Silicon Valley, wo ich damals lebte, leuchtend und voller Kolibris war. Du bleibst, das Kind muss den amerikanischen Pass haben, das war doch alles hier nicht umsonst, sagte damals meine angeheiratete Familie. Jetzt, an einem Tag wie diesem, mit den Bildern vom Schulmassaker in Texas, will ich erst recht nach Hause, weg von dem Wahnsinn.

Inzwischen scheinen sich die Horror-Momente zu häufen: erschossene Menschen in der New Yorker U-Bahn, die Schießerei in Buffalo vor erst wenigen Tagen, Sandy Hook High-School vor zehn Jahren. 2022 sollen es bereits mehr als 200 „mass shootings“ gewesen sein, dazu kommen noch kleinere „incidents of gunfire“ an Schulen. Aber was sagen einer Mutter schon solche Zahlen?

Ich will nicht zurück, denke ich heute morgen, als ich – gerade auf Besuch in Deutschland bei meiner Familie – die Überschrift der New York Times lese: „19 Children and 2 Adults are killed in Texas Shooting“. Ich habe den Artikel bis jetzt nicht gelesen, im Hals würgendes Weinen. Die kleinen Ranzen, die bunten Farben.

Sicherheitspersonal ist normal vor den Schulen

Grundschulkinder töten – auch das ist Amerika, wo nicht an jedem, aber doch an den meisten Nachmittagen Angst aufflackert, wenn ich zur Schule meiner Tochter laufe, um sie abzuholen, und Sirenen von Krankenwagen höre oder Polizeiautos zufällig in dieselbe Richtig fahren. Ist etwas passiert?

Was ist, wenn ich gleich um die Ecke biege und die blinkende Wagen stehen vor der Schule, schreit es in mir. Wie oft habe ich meinen Schritt beschleunigt, wenn Sirenen kamen, oder, schnell gehend, auf dem iPhone hektisch gegoogelt: incident upper west side today.

Vor den meisten amerikanischen Schulen steht Sicherheitspersonal, in öffentlichen Schulen in Manhattan sind es Polizisten, in privaten Schulen private Sicherheitsdienste. Schulbusse gleichen oft mittleren Panzern. Schulen, zu Recht gebaut wie Sicherheitstrakts.

Lesen Sie auch
Anzeige

Manchmal hohe Stahlzäune davor, immer Lehrer mit Walkie-Talkies: wer ist drin, wer noch nicht, wer kommt spät. Ich kann nicht sagen, dass meine latente Sorge, die ich gar nicht mehr bewusst spüre, sondern intuitiv nach ihr handele, in der Großstadt Manhattan größer oder kleiner war als in der kleineren Stadt Buffalo, wo ich mit meinem Kind auch gelebt habe.

Das Leben in den USA besteht natürlich nicht nur aus Angst, aber sie ist unterschwellig da, wie ein dünn eingebranntes Tattoo: Nie das Kind allein lassen. Auf der Straße die Hand festhalten – wurde nicht neulich irgendwo ein Kind der Mutter entrissen und in ein Auto gezerrt?

Das Kind beim Ballett abgeben und nach einer Stunde wiederkommen? Undenkbar, das macht fast niemand, man sitzt am Rand und schaut. Das Kind auf der Straße spielen lassen, mal eben runter zum Geschäft schicken, vor dem Supermarkt im Auto warten lassen? Obwohl es natürlich vorkommt, ist so etwas für viele Eltern vor dem Teenager-Alter ebenfalls no-go.

Polizisten auch vor den Freibädern

Einmal ging ich mit meinem Kind ins Freibad an der Nordostseite des New Yorker Central Park, in Harlem, einfach, weil es eines der sehr wenigen Freibäder ist und das einzige in unserer Nähe. Am Eingang stehen bewaffnete Polizisten, denn die öffentlichen Bäder der Stadt sind umsonst, ziehen sozial schwächere Schichten an, in Harlem ganz besonders.

Eintritt ins Schwimmbad erhält nur, wer außer einem Handtuch nichts dabei hat, oder ein Vorhängeschloss für den Spind, um Wertsachen zu verschließen. Als meine Tochter die Polizisten sah, wollte sie umkehren. Sie kannte Freibäder nur aus Deutschland, im Vergleich zu New York lichte, etwas aus der Zeit gefallene, fast paradiesische Sommerorte.

Niemals in ein Haus, wo es Waffen gibt

„Another community that will forever remark time as before and after“, sagt der Sprecher auf CBS News gestern Abend, im Hintergrund Bilder der Schule in Uvalde / Texas. Amerikas permanent auf Halbmast hängende Flaggen. „The Lord is near to the brokenhearted and saves the crushed in spirit“ ist einer der meistzitierten Psalme in amerikanischen Fernsehansprachen.

„All people with guns should be in prison, all of them“, sagte ein Bekannter vor Jahren einmal seiner fünfjährigen Tochter, die ihn groß und unverständig anschaute. „I will never let you visit a friend who has guns in the house, never, do you hear? Not a friend, not a friend of a friend, nobody. Ever. You will never set foot in the house of a person with a gun somewhere.“ Damals dachte ich, er trage dick auf. Heute verstehe ich ihn.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema