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Meinung Verfall und Untergang

Der Rom-Komplex

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Kaiser Konstantin und das Kolosseum Kaiser Konstantin und das Kolosseum
Kaiser Konstantin und das Kolosseum
Quelle: Getty Images/E+/piola666
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Wie oft denken Sie ans Römische Reich? Diese Frage geistert durch TikTok und Instagram – mit verblüffenden Antworten. Oft geht es um Roms ruhmreiche Infrastruktur, seine großen Feldherrn. Doch der wahre Grund für die plötzliche Faszination liegt in einer schweren Krise unserer Tage.

Zukünftige Historiker, die in den Ruinen unserer Zeit nach Spuren unseres Denkens suchen, werden es schwer haben. Anders als die Römer, die ihre Weisheiten in Carrara-Marmor meißelten, lassen wir unseren Bewusstseinsstrom in opaken Endgeräten versickern, von denen nur Wracks aus Glas, Aluminium, Kobalt und Kupfer bleiben – leere Geistesgefäße, die nicht mehr sprechen, ganz ähnlich wie die irdenen Reste jener vom Erdboden verschluckten Urnenfelderkultur, die Mitteleuropa jahrhundertelang beherrschte, bevor Rom im Jahr 753 vor Christus gegründet wurde.

All das scheint vergessen in einer Zeit, in der uns schon die Verfolgung der zahllosen Live-Streams überfordert, und jeder Bewohner der Gegenwart muss sich durch Goethes Verdikt aus dem „West-Östlichen Diwan“ direkt angesprochen fühlen: „Wer nicht von dreitausend Jahren / Sich weiß Rechenschaft zu geben, / Bleib im Dunkeln unerfahren, / Mag von Tag zu Tage leben.“

Die Inschriften der Römer wurden für die Ewigkeit in Stein gehauen. Ihnen entsprach eine schmucklose Sprache, die man nach dem lateinischen Wort für Stein (Lapis) als Lapidarstil bezeichnet, ein „steinerner Stil“ also, für Schopenhauer der zu ehrende „Ahnherr“ aller späteren Schriftstile. Das Schulbeispiel sind die drei Worte, mit denen Caesar 47 vor Christus die in nur vier Stunden gewonnene Schlacht bei Zela beschrieb: „Veni, vidi, vici“ – die deutsche Übersetzung „Ich kam, sah und siegte“ wirkt verschwenderisch gegen die Knappheit des Spruchs, den Caesar beim Triumphzug auf ein Schild prägen ließ.

Männer in stiller Verzweiflung

Sucht man nach einer heutigen Entsprechung für die römischen Epigraphe, also die allgegenwärtigen In- und Aufschriften, so landet man bei der Kultur der Internet-Memes, jenen ikonischen Bildern und Zitaten, die sich mit der Geschwindigkeit von Viren im Imperium der digitalen Netze verbreiten und mit den widersprüchlichsten Bedeutungen aufladen – ein Phänomen, das für das 21. Jahrhundert so bedeutsam und maßgeblich ist wie die griechische Tragödie fürs 5. Jahrhundert vor Christus.

In den letzten Monaten hat sich ein solches Meme zu einem überraschenden Trend verdichtet, der anregender wirkt als sämtliche Debatten, die in den letzten Jahren von Historikerkongressen oder Buchmessen ausgingen. Alles begann damit, dass die schwedische Influencerin Saskia Cort im September 2022 auf Instagram folgende Aufforderung an ihre Followerschaft richtete: „Fragt irgendeinen Typen, ob er ans Römische Reich denkt!“ International bekannt wurde der Imperativ durch den Instagram-Nutzer @gaiusflavius, der stets in roter Tunika oder bronzenem Muskelpanzer posiert. Im August 2023 postete der Zenturio einer Legionärs-Reenactment-Gruppe ein Foto des Forum Romanum, darauf der Schriftzug: „Ladys, viele von euch sind sich nicht im Klaren darüber, wie oft Männer ans Römische Reich denken. Fragt euren Mann/Freund/Vater/Bruder, ihr werdet überrascht sein von den Antworten.“

An dieser Stelle finden Sie Inhalte aus Instagram
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Die „Challenge“ sprang auf die Kurzvideo-App Tiktok über, wo sie völlig außer Kontrolle geriet. Tausende Videos – etwa hier zu sehen – dokumentieren, wie Frauen ihre Partner zur Rede stellen – und diese, meistens nach anfänglichem Ausweichen, zugeben, öfter ans Römische Reich zu denken, jeden Monat zweimal, womöglich alle paar Tage, eigentlich sogar täglich. „Wegen der Infrastruktur“, sagt einer bei einer nächtlichen Autofahrt, immerhin hätten die römischen Straßen bis in die Gegenwart überdauert, während die amerikanischen Straßen „Schrott“ seien. Ein anderer erklärt die Faszination Roms damit, dass jeder Mann das Bedürfnis nach Eroberung und Abenteuer verspüre, in der modernen Welt aber nicht ausleben dürfe: „Die Masse der Männer“, so zitiert der Totenkopf-T-Shirt-Träger den Schriftsteller Henry David Thoreau, „lebt in stiller Verzweiflung.“

Mythisch: Der römische Kaiser Nero, gemalt um 1900
Mythisch: Der römische Kaiser Nero, gemalt um 1900
Quelle: Fine Art Images/Heritage Images/Hulton Archive'/Getty Images

Offensichtlich zapft das Meme eine Schicht des kollektiven Unbewussten an, die nur darauf gewartet hatte, in Erscheinung zu treten. Der Witz der Videos liegt darin, dass die Befragung im Gestus einer Inquisition vollzogen wird und die weiblichen Fragesteller ihre Irritation darüber zelebrieren, dass „der Mann, mit dem ich seit 16 Jahren zusammenlebe“, jeden Tag ans Römische Imperium denkt. Der sexuelle Subtext ist unübersehbar: Der Gedanke an Rom, durch die Frage-Kampagne angestachelt, vielleicht sogar erst heraufbeschworen, wirkt wie eine Form geistiger Untreue, ein Fremdgehen gegenüber der Gegenwart des postheroischen, genderneutralen Beziehungslebens, in dem man müde den Kühlschrank aufmacht, anstatt Punische Kriege zu führen, den Senat aufzuwiegeln oder Aquädukte zu bauen.

Auch wenn man kaum glauben mag, dass all die Typen mit Baseballkappe pausenlos an Cato den Älteren, das Triumvirat oder die Prätorianergarde denken, steckt doch eine geschichtsphilosophische Wahrheit in dieser allerjüngsten Rom-Renaissance – was sich schon daran zeigt, dass sich die Rückwendung zur Antike diesmal nicht in europäischen Hörsälen, sondern auf den Servern eines chinesischen Digitalkonzerns abspielt.

Die in fast allen Rom-Videos versteckte Botschaft ist ein verdrängter, aber umso stärkerer Gegenwartsverdruss, eine meist männlich getönte Melancholie darüber, in einer Zeit zu leben, die nach dem Zeitaltermodell des griechischen Dichters Hesiod kaum als „goldene“ oder „bronzene“, sondern wohl als „eiserne“ gelten muss. Er habe gelesen, schreibt ein resignierter Rom-Fan an die amerikanische Radiostation NPR, dass die römischen Senatoren überzeugt waren, ihr Imperium bestehe für immer. Deshalb sei es ihnen irgendwann egal gewesen, dass sie über Jahre hinweg keine sinnvollen Beschlüsse mehr verabschieden konnten. Das erinnere ihn an den amerikanischen Senat: Rom könne uns etwas über den Kollaps der westlichen Zivilisation lehren.

Der ewige Bürgerkrieg

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Der Gedanke an Rom ist also wesentlich der Gedanke an Roms Untergang, eine Art „Memento mori“, um einen anderen römischen Sinnspruch zu zitieren: „Gedenke des Todes“ lautete die Formel, die jener Edelsklave, der beim Triumphzug den Lorbeerkranz des Imperators hielt, dem umjubelten Herrscher fortwährend einflüstern musste.

Die bewunderten Ruinen, aus denen das aufgeklärte Europa die Größe der römischen Zivilisation rekonstruierte, bezeugen zugleich seine Brüchigkeit. Liest man Hegels „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“, die einen grandiosen Crash-Kurs in römischer Geschichte enthalten, so kommt man dem Kern dieser Dialektik nahe: Hegel beschreibt Rom als „Verbrecherstaat“, gegründet durch „Räuber“ und „Gesindel“ – entsprechend dem Mythos, dass die Gründerväter Romulus und Remus den Gesetzlosen Asyl boten und eine Kolonie alleinstehender Männern schufen, die man heute als „Incels“ beschreiben würde und die sich ihre Partnerinnen durch den berüchtigten Raub der Sabinerinnen erwarben.

Dieses Gewaltpotenzial wurde dann eingehegt durch ein auf Disziplin, Tugend und Stärke aufgebautes Staatswesen, die Republik, in der sich jeder Bürger der „abstrakten Allgemeinheit“ unterwarf. Es brach aber in einer Endlosserie von Bürgerkriegen immer wieder hervor – zunächst zwischen den adligen Patriziern und dem plebejischen Volk, nach deren Gleichstellung dann zwischen sich um die Kriegsbeute streitenden Cliquen in der neuen Führungsschicht, und zuletzt, als auch dieser Zwist durch die Allmacht der Kaiser ausgeräumt war, zwischen Rom und den ins unregierbar große Weltreich aufgenommenen Barbarenstämmen. Sogar Roms beispiellose Kriegserfolge verdanken sich nach Hegel dieser inneren Anspannung: „Wenn die Völker nach bürgerlichen Unruhen sich nach außen wenden, so erscheinen sie am stärksten; denn es bleibt die vorhergehende Erregung, welche nun kein Objekt mehr im Innern hat, und dasselbe nach außen hin sucht.“

Weltherrscher: Statue des Kaisers Augustus
Weltherrscher: Statue des Kaisers Augustus
Quelle: Getty Images/DV/Gary Yeowell

Ein Element unserer Faszination für das Römische Reich ist sicher diese ambivalente Energie, die sich im hochmodernen Staatsapparat, einer funktionalen Bürokratie und dem heute noch vorbildhaften Rechtssystem zur mustergültigen Zivilisation verfestigte – und die zugleich zu immer neuen und letzten Endes fatalen Grabenkämpfen, Spaltungen und Verwerfungen in der Bürgerschaft führte.

Voller Abscheu beschreibt Hegel die Gladiatorenkämpfe, in denen nicht etwa die „Leiden in den Tiefen des Gemüts und des Geistes“ vorgeführt wurden wie im griechischen Theater, sondern nur die „grausame Wirklichkeit von körperlichen Leiden“ und „das Blut in Strömen, das Röcheln des Todes und das Aushauchen der Seele“. Die Römer waren für Hegel „nur Zuschauer“, keine mitempfindenden Seelen: eine auf stärkste Reize programmierte Gesellschaft, durch inneren Abstand getrennt von den Objekten ihrer Schaulust wie wir durch hochauflösende Flatscreens und Touchscreens.

Vielleicht liegt die Aktualität von Rom in der Erkenntnis, dass all das, was die Zivilisation stützt und ausmacht, zugleich zu ihrer Zerstörung beiträgt. Die Römische Republik als Staatsform, die durch Machtbegrenzung die Freiheit der Bürger sicherte, verwandelte sich schnell ins Projekt einer technokratischen Elite, die Ämter und Würden in Hinterzimmern unter sich aufteilte und sich selbst als die „Optimaten“, also als „die Rechtschaffenen“ rühmte. Mit den „Popularen“, also „Volksfreunden“, stand ihnen eine durchaus aggressive Vorhut der heutigen Populisten gegenüber.

Siegreiche Barbaren

Und als Rom in der Kaiserzeit den Höhepunkt seiner globalen Macht erreichte und über 60 Millionen Bürger gebot, setzte der Verfall ein: Nach der Expansion ging es nur noch um die Konsolidierung und Verwaltung eines immer unübersichtlicheren Reichs. So musste der melancholische Historiker Tacitus die verlorenen römischen Urtugenden der Stärke, Geradlinigkeit und Freiheit auf die damals schon postkolonialen Germanen projizieren, die ihre Zeit noch vor sich hatten. Denn alle an den Rändern des Reichs aufgeschütteten Hadrianwälle und Limes-Grenzanlagen konnten nicht verhindern, dass Rom innerlich zerfiel – auch weil es die aus unterworfenen Völkern rekrutierten Soldaten nicht mehr bezahlen konnte, die es für seinen Mehrfrontenkrieg brauchte. Da half es auch nicht, den Silbergehalt der Münzen immer weiter abzusenken und die Gelddruckmaschinen anzuwerfen, wie es die Zentralbanken auch heute in jeder neuen Krise tun.

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Schon als Edward Gibbon, ein exzentrischer britischer Historiker, 1776 seine Dekadenzgeschichte „Verfall und Untergang des Römischen Reichs“ schrieb, richtete er sich warnend an seine Zeit: „Die wilden Nationen des Erdballs sind die gemeinsamen Feinde der zivilisierten Gesellschaft“, schrieb er, „und wir mögen mit besorglicher Neugierde fragen, ob Europa von einer Wiederholung jener Drangsale, die einst die Waffen und die Einrichtungen Roms vernichtet haben, fortwährend bedroht ist.“ Er entwarf sogar das Szenario, dass „die siegreichen Barbaren Sklaverei und Verheerung bis zum atlantischen Ocean verbreiten“ und dann „zehntausend Schiffe die Überreste der civilisierten Gesellschaft außer den Bereich ihrer Verfolgung tragen“.

Spätrömische Dekadenz: Thomas Couture, „Die Römer der Verfallszeit“, 1847
Spätrömische Dekadenz: Thomas Couture, „Die Römer der Verfallszeit“, 1847
Quelle: picture alliance/akg-images/Laurent Lecat

Das klingt, als hätte der Ultrapessimist Michel Houellebecq seinen Parka gegen eine Toga eingetauscht. Doch auch der Historiker Michael Sommer zeigt in seinem fantastischen Buch „Die kürzeste Geschichte der Antike“, wie das römische Weltreich an der Unfähigkeit zerbrach, die Vielzahl der als Lohn für den Kriegsdienst oft mit Bürgerrechten ausgestatteten Stämme zu integrieren. Spätestens nach der Reichsteilung von 395 war es nicht mehr in der Lage, sein Versprechen von „Wohlstand und Sicherheit“ einzulösen und im Gegenzug Loyalität zu verlangen.

Sommer zeichnet die Migrationsströme im Reich nach und spricht vom „Zorn der Flüchtlinge“, der Rom mit der Plünderung durch den gotischen Heerführer Alarich 410 in die Knie zwang. Auch zitiert er den gallorömischen Aristokraten Sidonius mit einem trostlosen Brief, der wie eine apokalyptische Gegenwartsanalyse klingt: „Die Straßen sind nicht mehr sicher, weil die Völker in Bewegung geraten sind.“

Was sagen uns also die römischen „Charakterköpfe“, die uns unter ihren Haarfransen aus kalten, blinden Marmoraugen anschauen? Denken auch sie nostalgisch ans Römische Reich? Oder sogar an uns, die späten Nachfahren all der Germanen und Teutonen, die das laut Hegel „morsche Gebäude“ der römischen Zivilisation zum Einsturz brachten? Wir können sie nicht fragen. Aber so todgeweiht sind wir vielleicht noch nicht, wenn wir in unserem Circus Maximus, der Tiktok und Instagram heißt, voller Einfühlung das Studium der römischen Geschichte betreiben.

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