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Film Lee Jung-Jaes „Hunt“ in Cannes

Der „Squid Game“-Star als Regisseur

Chefkorrespondent Feuilleton
Lee Jung-jae und Jung Woo-sung in „Hunt“ Lee Jung-jae und Jung Woo-sung in „Hunt“
Lee Jung-jae und Jung Woo-sung in „Hunt“
Quelle: The Jokers Films
Mit dem stylishen Thriller „Hunt“ gibt der Koreaner Lee Jung-jae in Cannes sein Regiedebüt. Der Hauptdarsteller aus „Squid Game“ brilliert auch selbst als Schauspieler in dem brutalen Katz-und-Maus-Spiel um Agenten und Doppelagenten, das Vorbilder wie „The Departed“ nicht scheuen muss.

Lee Jung-jae ist schon lange ein Star. Die Welt außerhalb Koreas, es sei denn, sie verfolgt das sensationelle Kino der Halbinsel schon lange, hat erst so richtig seit „Squid Game“ Notiz davon genommen. In der sensationell erfolgreichen Netflix-Serie aus dem vergangenen Jahr spielte Lee einen von Spielschulden geplagten Trottel, der in dem sadistischen Wettkampf, einer überdeutlichen Kapitalismusallegorie, schließlich obsiegte.

1972 geboren, gehört Lee schon seit den Neunzigern zur ersten Riege koreanischer Schauspieler, zusammen mit älteren Kollegen wie Song Kang-ho oder Choi Min-sik. Letzterer, bekannt aus „Oldboy“ und längst der bedeutendste Akteur seiner Generation, war es auch, der sich für Lees Hauptrolle „New World“ einsetzte. In dem slicken Thriller von 2013 spielt Lee eine Art Doppelagenten, der sich allmählich im selbst gesponnenen Netz zwischen der Polizei und einem Gangstersyndikat verfängt.

Parallel zu den Anfängen seiner Schauspielkarriere hat Lee gemodelt, seit 2021 ist er globaler Botschafter der Luxusmarke Gucci. Er betreibt auch eine Restaurantkette in Seoul, benannt nach dem Sleeper Hit – so nennt man Filme, die sich erst im Laufe der Jahre eine kultische Anhängerschaft erschließen – „Il Mare“ von 2000, von dem es seit 2013 ein Hollywood-Remake namens „The Lake House“ mit Keanu Reeves gibt. Seit einer Weile ist Lee auch Geschäftsführer der Produktionsfirma Artist Company, die er mit seinem Kollegen Jung Woo-sung gegründet hat.

Auf der Terrasse in Cannes

Am Freitagmorgen konnte man diesen beiden, Lee und Jung, auf der Terrasse des Palais des Festivals in Cannes dabei zusehen, wie sie dem koreanischen Fernsehen Interviews gaben. Lee trug einen eng geschnittenen grauen Anzug und Gucci-Slipper an den nackten Füßen. Die stylishsten Cannes-Besucher, die einzigen, die man auch bei sommerlichen Temperaturen niemals in Shorts und T-Shirt erwischen würden, nicht einmal morgens ums zehn, sind grundsätzlich Koreaner und Japaner.

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Ist das nur eine nebensächliche Beobachtung, oder lässt sich etwas daraus schließen? Aller rasanten Modernisierung zum Trotz ist die koreanische Gesellschaft geprägt von patriarchalen Hierarchien und einer unbarmherzigen Firmenmoral, die Loyalität und Professionalität über alles stellt. Wie jeder noch so kurze Seoul-Besuch verdeutlicht, ist der Unterschied zwischen der privaten und der öffentlichen Sphäre eklatant.

Gesellschaftliche Rollen werden mit einer Professionalität performt, wie es im Westen längst unüblich geworden ist. Das spiegelt sich in den Filmen wider. Koreanische Produktionen, zumindest jene, die zu Hause am erfolgreichsten sind und zugleich auf den globalen Markt drängen, gehören seit mindestens zwanzig Jahren zum ästhetisch Raffiniertesten, was im Kino zu sehen ist.

Lee Jung-jae in „Squid Game“
Lee Jung-jae in „Squid Game“
Quelle: © Netflix 2021/ YOUNGKYU PARK

„Hunt“, Lees Regiedebüt, das in Cannes in der dem Genre gewidmeten Reihe Midnight Screenings läuft, macht keine Ausnahmen. Übrigens auch keine Gefangenen. Der Bodycount sucht seinesgleichen. In den zwei Stunden und elf Minuten seiner Laufzeit werden ganze Bataillone aus Spionen und Polizisten ausradiert. Die Zulieferfirma für das Kunstblut wird über Tage ausgelastet gewesen sein. Ähnlich wie in „New World“ spielt Lee den Top-Spion Park Pyung-ho, der Sympathien für die Gegenseite haben könnte.

Brutale Hatz

Lose basierend auf historischen Ereignissen der frühen Achtzigerjahre, erzählt „Hunt“ eine Geschichte von Doppelagenten und Doppelmoral. Lange steht Pyung-ho im Zentrum der Handlung, sodass der Zuschauer sich unmerklich gedrängt sieht, Sympathien für ihn zu entwickeln, auch wenn bald klar ist, dass es sich bei dem Regime, dem er dient, um die letzten Auswüchse der Militärdiktatur handelt. Ein enger Vertrauter des vorigen Präsidenten hat ihn ermordet und sich selbst an die Macht geputscht.

Studentenunruhen erschüttern das Land. Auch bei einem Besuch des Präsidenten im Weißen Haus, um sich der Unterstützung der Amerikaner zu versichern, steht das wütende Volk vor der Tür. Im Land of the Free sind solche Demonstrationen nicht so leicht niederzuknüppeln wie zu Hause. Zugleich bringen Pyung-hos Männer vom koreanischen Sicherheitsdienst in Erfahrung, dass ein Attentat auf den Präsidenten geplant ist, orchestriert von einem unbekannten Auftraggeber.

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Ein erster spektakulärer Schusswechsel bahnt sich an, eine brutale Hatz durch die Kulissen eines Washingtoner Theaters. Das ist nur der Auftakt zu einem Katz-und-Maus-Spiel, das erst in den letzten Minuten des Films seine Auflösung erfährt. Wer steckt dahinter – die Amerikaner, die Nordkoreaner, oder gibt es Verräter in den eigenen Reihen?

Pyung-hos Loyalität wird auch dadurch getestet, dass er seit dem Tod eines Freundes und Kollegen bei einem Einsatz in Japan vor ein paar Jahren ein Mündel hat, dessen Tochter Bang Joo-kyung (Jeon Hye-jin). Sie ist Studentin in Seoul, vorgeblich unpolitisch, aber bald hineingezogen in die umstürzlerischen Bestrebungen ihrer Kommilitonen. Später verdächtigt sie Pyung-hos geheimdienstliches Pendant, eine Gegenspionageabteilung, eine Agentin der Nordkoreaner zu sein.

Verstörende Verhöre

Die Zugehörigkeiten und Überzeugungen bleiben ewig ungeklärt. Wer ist der hochrangige Maulwurf, der die Reisepläne des Präsidenten nach Pjöngjang durchsticht? Wer steckt hinter dem Verrat von Militäroperationen in Nacht und Nebel, die im Maschinengewehrfeuer von vorher eingeweihten Nordkoreaner zerstiebt? Wer verfolgt unablässig die Ermordung des vom Volk verachteten Diktators? Lees Kompagnon in der Produktionsfirma Artist Company, Jung Woo-sung, übernimmt die Rolle seines Kollegen und Widersachers Kim Jung-do, dem Chef der anderen südkoreanischen Spionageabteilung, der Pyung-ho ebenso auf dem Kieker hat wie dieser ihn. In einem jähen Ausbruch der lange unterdrückten Aggression prügeln sich die beiden mehrere Stockwerke des Geheimdiensthauptquartiers hinab.

Die Verhörsituationen, die den Film spicken wie die Schusswechsel auf offener Straße, gehören zum Verstörendsten, was man – außerhalb Koreas – im Kino gewohnt ist. Ausgerenkte Schultern, Elektroschocks, selbst Erschießungen von Unterlingen, um den Willen ihrer anwesenden Vorgesetzten zu brechen, sind an der Tagesordnung. Studentinnen werden mit Eisenstangen bearbeitet, Verdächtige an einem Arm aufgehängt und mit Brennstäben gefoltert. Ein geflohener nordkoreanischer Soldat genießt inmitten all dessen die beste Ramensuppe, die er je gekostet hat. Als Zuschauer bringt man besser auch einen guten Magen mit.

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„Hunt“ sieht, wie eingangs angedeutet, sehr gut aus. Die Bilder von Kameramann Lee Mo-gae, einer Legende des koreanischen Kinos („ A Tale of Two Sisters“, „I Saw the Devil“, „The Good, the Bad, the Weird“), fassen die ultraschnell erzählte Geschichte in eindrückliche Bilder. Dennoch strebt Lee mit seiner ersten Arbeit auf dem Regiestuhl nicht nach mehr als extrem gelungenen Genre-Kino. Das Drehbuch, die er vier Jahre lang eigenhändig feinschliff, bleibt so stolz wie bescheiden in den Grenzen von einschlägigen Meisterwerken wie „The Departed“, dessen Scorsese-Version auch schon auf einem asiatischen Vorbild beruhte. Die das Genre transzendierende Grandezza etwa des Gesamtwerks von Park Chan-wook wird weder erreicht noch angestrebt.

Damit kann man in Cannes gut leben. Das arty Machwerk „Eo“ des Polen Jerzy Skolimowski, das die Erlebnisse eines Esels einfühlsam begleitete, lief am Vorabend im Wettbewerb. Nach der bizarren Show, die sich anfühlte, als habe Terrence Malick „Dumbo“ verfilmt, brauchte man ein paar Gläser Bordeaux, um wieder runterzukommen. Oder man ging gleich schlafen und schaute am Morgen „Hunt“.

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