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Film Wes Andersons Dahl-Projekt

Vier Filme, für die man keine Augen braucht

Feuilletonredakteur
Ich sehe was, was du nicht siehst Film The Wonderful Story of Henry Sugar. Benedict Cumberbatch as Henry Sugar in The Wonderful Story of Henry Sugar. Cr. Netflix ©2023 Ich sehe was, was du nicht siehst Film The Wonderful Story of Henry Sugar. Benedict Cumberbatch as Henry Sugar in The Wonderful Story of Henry Sugar. Cr. Netflix ©2023
Die Kulisse zählt: Benedict Cumberbatch als Henry Sugar
Quelle: Courtesy of Netflix
Starregisseur Wes Anderson hat für Netflix gleich vier Storys von Roald Dahl verfilmt. Mit dabei sind Benedict Cumberbatch, Ben Kingsley und Ralph Fiennes als Roald Dahl selbst. Aber etwas ist ganz, ganz anders als man es von anderen Buchverfilmungen kennt.

Wes Anderson erkennt man immer. Bei Wes Anderson weiß man nie. Einerseits sind da die superstrengen Farbkonzepte und die superdurchdachten Kulissen, die jeden seiner Filme in ein Puppenspiel verwandeln. Andererseits ist in diesem bonbonbunten Rahmen alles möglich: eine Familiengeschichte, die einem das Herz bricht (vermutlich kommen hochbegabte Kinder vor) oder eben Japanisch sprechende Hunde (die einem vielleicht nicht ganz so sehr zu Herzen gehen).

Manchmal erzählt Anderson in Episoden und manchmal in eher herkömmlicher Aktstruktur; manchmal gibt es nur rechtwinklige Kameraschwenks; dann wieder keine Schauspieler, sondern Stop-Motion, eine Technik, die Bewegung – dieses Filmding an sich – bloß via Illusion erzeugt. Wes Andersons erste Roald-Dahl-Verfilmung, „Der fantastische Mr. Fox“, ist so ein Stop-Motion-Film gewesen, und damals, 2009, dachte so mancher, Anderson käme damit endgültig zu sich selbst: keine Bewegung, keine Schauspieler, stattdessen bleibt der Weltenbauer ganz für sich.

Doch Pustekuchen. In seinen Roald-Dahl-Verfilmungen Nummer zwei, drei, vier und fünf gibt der Kontrollfreak Anderson nämlich jede Menge Kontrolle ab: Auf Eingriffe in die Vorlage hat er komplett verzichtet. Sie hören richtig: Für Netflix hat Wes Anderson vier Storys von Roald Dahl buchstäblich ganz buchstäblich umgesetzt, also jedes Wort genauso übernommen, wie es bei Roald Dahl geschrieben steht. Jedes „sagte er“, das Dahl da hingeschrieben hat, hat Anderson auch da gelassen – obwohl Filmemacher so ein „sagte er“ doch gar nicht brauchen, weil es eigentlich bloß eine Krücke für einsame Prosaschriftsteller ist.

Ikonische Pantoffeln

Zu Beginn des ersten neuen Dahl-Films sieht man diesen einsamen Prosaschriftsteller sogar. Als Roald Dahl höchstselbst hockt Ralph Fiennes in Dahls ikonischem Sessel im ikonischen Gipsy House, die ikonischen Pantoffeln an den riesigen Füßen und den ikonischen Bleistift in der großen Hand. „Ich sehe was, was du nicht siehst“ ist (obwohl die Geschichte im englischen Original eigentlich „The Wonderful Story of Henry Sugar“ heißt) übrigens ein programmatischer Titel: Er beschreibt so ziemlich alles, was Wes Anderson in diesem und den drei weiteren Kurzfilmen „Der Schwan“, „Der Rattenfänger“ und „Gift“ macht.

Zusammen addieren sich diese vier Filme – einmal 39 und dreimal 17 Minuten lang – zufälligerweise genau auf Spielfilmlänge, und es macht unbedingt Sinn, sie an einem Stück zu sehen. Anderson hat sie ja nicht umsonst mit ein- und demselben Ensemble gedreht, das unter anderem aus Fiennes, Ben Kingsley, Rupert Friend und Richard Ayoade besteht (Frauenfiguren sind in diesen Dahl-Storys sehr selten).

„Ich sehe was, was du nicht siehst“: Dev Patel als Dr. Chatterjee, Ben Kingsley als Imdad Khan und Richard Ayoade als Dr. Marshall (v.l.n.r.)
„Ich sehe was, was du nicht siehst“: Dev Patel als Dr. Chatterjee, Ben Kingsley als Imdad Khan und Richard Ayoade als Dr. Marshall (v.l.n.r.)
Quelle: Courtesy of Netflix

Allein die bereits bei den Filmfestspielen in Venedig gezeigte Geschichte von Henry Sugar fällt ein wenig aus dem Rahmen, zum einen, weil sie länger als die anderen ist, und zum anderen, weil der fabelhafte Benedict Cumberbatch den fabelhaften Henry Sugar spielt. Sugars fabelhafte Geschichte läuft darauf hinaus, dass er ohne Augen sehen lernt – und so beim Blackjack schließlich fabelhaft betrügt.

Allerdings: Die Geschichte ist verschachtelt wie eine Matrjoschka-Puppe; eine gewagtere Rahmenkonstruktion als in Dahls Erzählung dürfte es allenfalls in Theodor Storms berüchtigtem „Schimmelreiter“ geben. Zunächst ist da Dahl, der von Henry Sugar erzählt, dann ist da Henry Sugar, der in einer fremden Bibliothek auf ein seltsames Bändchen stößt. Dann ist da der indische Arzt, der das dünne Buch geschrieben hat, viertens der indische Zirkusartist, dessen Erzählung der indische Arzt notiert, und schließlich läuft alles auf einen Yogi im tiefsten Dschungel hinaus, mit dem der ungeheuerliche Trick in der Mitte des Films seinen Anfang nimmt.

Von ihm lernt der Zirkusartist, wie man ohne Augen sieht, was wiederum der Arzt aus Kalkutta notiert, was wiederum Henry Sugar liest, woraus wiederum Roald Dahl, wie er behauptet, eine wahre Geschichte strickt, in der schließlich gleich drei Personen – der Yogi, der Zirkusmann und Henry Sugar – ohne Augen sehen können. „Sie vergessen, es gibt andere Wege, dem Hirn Bilder zu übermitteln“, heißt es während dieser komplizierten Reise einmal und das ist ein auch programmatischer Satz, den man sich am besten gleich für alle vier Filme merkt. Denn Wes Andersons Dahl-Projekt ist nichts anderes als eine Hommage an jene Filme, die keine Bilder brauchen und die man gewöhnlich Bücher nennt.

„Der Geist ist ein zerstreutes Ding“

Wes Anderson hatte immer schon ein spezielles Verhältnis zu ihnen. Die Kulissen von „Grand Budapest Hotel“ sind quasi um die Bücher Stefan Zweigs herumgebaut, in „Moonrise Kingdom“ werden Bücher gleich kiloweise in Taschen gestopft, in „The Royal Tenenbaums“ hat quasi jedes Familienmitglied ein Buch geschrieben, und außerdem ist Anderson in Erzählerfiguren vernarrt, die – ein bisschen wie der Yogi, von dem schon die Rede war – über den Ereignissen schweben.

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In seinem Dahl-Projekt aber treibt er diese Hingabe auf die Spitze; gewissermaßen verfolgt er die Geschichte des Erzählens vom Film zu den Büchern zurück – genauso wie Henry Sugar die Gabe des Sehens ohne Augen zurückverfolgt. Nicht umsonst ist dazu eine Konzentration notwendig, die in Sugars Gegenwart kaum noch jemand hat. „Der Geist ist ein zerstreutes Ding“, heißt es da einmal; darbende Buchhändler wissen das und wissen es täglich besser.

Sehen Sie, Sie sehen was: Szene aus „Der Rattenfänger“
Sehen Sie, Sie sehen was: Szene aus „Der Rattenfänger“
Quelle: Courtesy of Netflix

Wes Anderson zeigt sogar, wie aus nichts als Worten auf einmal Bilder entstehen. In „Der Rattenfänger“ zeigt er die Erzählung bei der Arbeit, wobei weder die Profession des Rattenfängers (man denke an den von Hameln) noch seine Besetzung (wie schon Roald Dahl wird er von Ralph Fiennes gespielt) Zufall ist. Erst ist die Ratte, von der dieser Fänger erzählt, bloß ein Wort, dann wird sie allein pantomimisch aus der Jackentasche gezogen, bis sie im nächsten Schritt als Modell zu sehen ist und sich schließlich vor lauter Erzählkunst rühren kann – nicht vor den Augen der Umstehenden, aber tief drinnen in ihrem Hirn.

Man verwechsele es also nicht mit Verfremdung, wenn in „Der Schwan“, einer verstörenden Geschichte über Mobbing und alle menschliche Schlechtigkeit, der auf die Bahnschienen gebundene Peter (Rupert Friend) ein Kärtchen mit einem Punkt drauf in die Kamera hält, denn noch ist der auf ihn zurasende Zug nicht größer. Nein, mit Verfremdung hat das wirklich nichts zu tun. Vielmehr ist es der ganze Zauber.

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