WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Kultur
  3. Film
  4. Filmfestspiele von Cannes: Ein schwuler Starkomponist für Putins Russland

Film Filmfestspiele von Cannes

Ein schwuler Starkomponist für Putins Russland

Chefkorrespondent Feuilleton
Frühe Favoritin auf die beste Schauspielerin in Cannes: ZhendaHENA Chakovskogo als Gattin Tschaikowskys Frühe Favoritin auf die beste Schauspielerin in Cannes: ZhendaHENA Chakovskogo als Gattin Tschaikowskys
Die beste Schauspielerin in Cannes? Aljona Michailowa
Quelle: HYPE FILM/Festival de Cannes
Hier können Sie unsere WELT-Podcasts hören
Um eingebettete Inhalte anzuzeigen, ist deine widerrufliche Einwilligung in die Übermittlung und Verarbeitung von personenbezogenen Daten notwendig, da die Anbieter der eingebetteten Inhalte als Drittanbieter diese Einwilligung verlangen [In diesem Zusammenhang können auch Nutzungsprofile (u.a. auf Basis von Cookie-IDs) gebildet und angereichert werden, auch außerhalb des EWR]. Indem du den Schalter auf „an“ stellst, stimmst du diesen (jederzeit widerruflich) zu. Dies umfasst auch deine Einwilligung in die Übermittlung bestimmter personenbezogener Daten in Drittländer, u.a. die USA, nach Art. 49 (1) (a) DSGVO. Mehr Informationen dazu findest du hier. Du kannst deine Einwilligung jederzeit über den Schalter und über Privatsphäre am Seitenende widerrufen.
Manch einer wollte den russischen Beitrag zum Filmfestival in Cannes canceln. Es wäre bitterschade gewesen. Denn Regisseur Kirill Serebrennikov erzählt eine wahre Geschichte, die dem Putinismus nicht schmeckt. Die des homosexuellen Tschaikowskys. Und vor allem die seiner Frau.

Moskau, in den Siebziger-, Achtzigerjahren des vorvergangenen Jahrhunderts, kurz bevor die Zuckungen der Zarenzeit einsetzen. Die Gesellschaft ist, wie man heute sagen würde, klassistisch brutal geschieden: hier der Adel, die Offiziere, die Beamten, die bewunderten Künstler; dort die Bediensteten, die Boten, die Küchenmädchen. Ganz unten, in der stinkenden, morastigen Gosse, bei den Ratten, der Abschaum: Bettler, Tagelöhner, Gaukler, Krüppel.

In einer Szene des epischen, zweieinhalb Stunden langen neuen Films von Kirill Serebrennikov, „Tchaikovsky’s Wife“, der in Cannes im Wettbewerb läuft, reißt eine verrückte Bettlerin in religiöser Verzückung ihr Hemd auf, dicke Brüste quellen heraus. Sie begehrt ihren Herren, Jesus Christus, den leibhaftigen Gott. In der Ekstase zieht sie Antonina Miliukova zu Boden. Die rappelt sich auf, flieht in die Arme einer anderen Frau, die stammelt: „Ein gutes Omen.“

Lesen Sie auch

Wirklich, ein gutes Omen? Geboren aus Matsch und Wahnsinn? Miliukova glaubt daran, mit der ihr eigenen Unerschütterlichkeit, die letztlich einen Film trägt, der jede Gelegenheit hätte, zusammenzubrechen. Tut er aber nicht, er hält, aller Verrücktheit zum Trotz, minutenlangen Plansequenzen, also Kamerafahrten ohne Schnitt, in denen es zum Teil hell wird, zu schneien beginnt, in denen Tote erst gewaschen werden, dann, wenn sie der Blick der Kamera wieder berührt, im Totenkleid aufgebahrt liegen. Auch zum Trotz der Lächerlichkeit, in die sich die titelgebende Hauptfigur hineinmanövriert, Tschaikowskys Frau, Gattin des wichtigsten russischen Komponisten, zu dem er sich im Laufe der geschilderten Jahre erst langsam mausert.

„Hier in der Welt der Tanten“

Russlands enfant terrible Kirill Serebrennikov, der kürzlich wegen politischer Verdächtigkeit noch unter Hausarrest stand, anderthalb Jahre lang, hat den Film über Tschaikowskys Homosexualität seit vielen Jahren geplant. Schon 2015 erzählte er davon, musste das Projekt immer wieder auf Eis legen, drehte zwischendurch zwei andere Filme, „Leto“ 2018 und „Petrov’s Flu“ letztes Jahr, der ebenfalls um die goldene Palme konkurrierte.

Amour fou: Antonina Miljukowa (Aljona Michailowa)
Amour fou: Antonina Miljukowa (Aljona Michailowa)
Quelle: HYPE FILM/Festival de Cannes

Auch fürs Theater inszenierte Serebrennikov wiederholt, zuletzt Anfang des Jahres in Hamburg. Seine Inszenierung von Mozarts „Così fan tutte“ in Zürich schrieb er vor vier Jahren, gefangen in seiner Moskauer Wohnung, Takt für Takt in die Partitur hinein. Sein Anwalt schmuggelte die Regieanweisungen zu seinem Assistenten, der sie in Zürich für die Bühne übersetzte.

Einen schwulen Starkomponisten hat man in Putins Russland nicht so gern, auch wenn der Präsident aus der sexuellen Neigung keinen Hehl macht. Andere mächtige Kulturfunktionäre bestreiten sie bis heute, obwohl Briefe, die nach Tschaikowskys Choleratod 1893 an die Öffentlichkeit gelangten, eine deutliche Sprache sprechen: „Hallo“, schreibt er etwa seinem ebenfalls schwulen Bruder, „hier ist Deine große Schwester, die Petrolina. Nein, hier in der Welt der Tanten gibt es nichts Neues. Die Konkubinen meines Harems gammeln herum. Aber Du weißt ja, die sind für mich so unverzichtbar geworden wie Klopapier.“

„Renn fort von ihm“

Serebrennikov legt den Fokus nun auf Aljona Miliukova, die Frau, die der Komponist schließlich heiratete, in der Hoffnung auf 10.000 Rubel aus Grundbesitz und dem Ende der Gerüchte, die ihm, auch wenn er seiner Homosexualität halbwegs offen frönte, doch zu schaffen machten. Die 26-jährige Alyona Mikhailova verkörpert sie in beeindruckender Intensität. Am Anfang sieht man ihrem Eifer, der Liebe auf den ersten Blick, die sie erfasst hat, mitleidig zu.

Sie kommt aus dem Mittelstand, getriezt von einer grausamen, aber auch grausam klarsichtigen Mutter. Ihren Traum, eine Karriere als Pianistin, wird sie bald begraben. An ihrer amour fou, der fixen Idee, einen offensichtlichen Schwulen zu heiraten, der auf ihr Drängen nach einer Hochzeit gesteht, kein Interesse an Frauen zu haben und sie nur wie ein Bruder werde lieben können, hält sie unbeirrbar fest.

Sie scheitert auf Partys, zu denen nur effeminierte Männer geladen sind, mit nachgemalten Augenbrauen und grazilen Gesten, am Versuch, ihren Mann zum Tanzen zu bewegen. „Ein Rat“, flüstert ihr eine wohlmeinende Tunte ins Ohr, „renn fort von ihm, so schnell du kannst!“ Sie schlägt den guten Willen in den Wind.

„Ich bin die Frau von Tschaikowsky“

Anzeige

Als Zuschauer wird man langsam unwillig. Will sie denn nicht einsehen, was die ganze Welt weiß? All ihr Bemühen ist zwecklos. Ein verzweifelter Versuch, Tschaikowsky zu verführen, nachts, im Schein einer Öllampe in seinem Zimmer, führt zu einer umgekehrten Vergewaltigung – die Gewalt bleibt gleich, ihr Mann würgt sie wütend, die Absicht ist gerade, unberührt zu bleiben.

So fällt es schließlich, nach Jahren, dem Anwalt zu, der für sie die Scheidung regeln soll, sie zu entjungfern. „Du bist ein Niemand für mich“, bescheidet sie ihm auch nach Monaten der Affäre kalt, „ich bin die Frau von Tschaikowsky.“ Sie weigert sich, ihrem Mann Untreue zu unterstellen – der einzige Weg aus der Ehe. Das gegnerische Team, bestehend aus dem Bruder des Komponisten, seinen Anwälten, womöglich Liebhabern, ist fassungslos.

Ihre Psychologie bleibt bis zum Ende rätselhaft. Sie ist eine „Mutter Courage“, die drei Kinder im Waisenhaus sterben lässt, Früchte ihrer Liebschaften, die auch historisch dokumentiert sind. Allerdings ist strittig, ob die Nymphomanie, die ihr die Geschichte andichtet, sich nicht in übler Nachrede der Partei ihres Mannes erschöpft. Serebrennikov stellt sie nicht in Frage. Überhaupt erzählt er mit dem größtmöglichen Aplomb, er greift tief in die Abgründe der berühmten russischen Seele.

Eine frühe Favoritin

Oft kratzt er dicht an Kitsch und Manierismus. Die Zimmerfluchten, Korridore, Birkenwälder unter Wasser sind in ein altmeisterliches Chiaroscuro getaucht, ein sanfter Nebel wabert überall. Der Regisseur ist sich nicht zu schade, Klassiker der Kunstgeschichte nachzustellen, einmal überdeutlich die „Parkettschleifer“ von Gustave Caillebotte, schwul womöglich auch dieser große Mäzen der Impressionisten, der zur gleichen Zeit lebte.

Lesen Sie auch

Alles zusammen hält Alyona Mikhailova in einer mitreißenden Performance dieser traurigen Jeanne d’Arc en maison. Schauspielerisch ist Tschaikowsky (Odin Biron) zwar eine erheblich größere Unterstützung als in jeder anderen Hinsicht. Letztlich hängt aber alles an Mikhailova. Sie strahlt von innen, aber unaufdringlich, so wie es ihr die Frauenrolle jener Zeit zuschreibt. Sie bewegt sich grazil wie eine Tänzerin, hofft, verzweifelt, ist voller Starrsinn und einer Liebe, deren Debilität es ihr gelingt zu adeln. Das macht sie zur frühen Favoritin auf die Silberne Palme für die beste Schauspielerin.

Regisseur Kirill Serebrennikov
Regisseur Kirill Serebrennikov
Quelle: HYPE FILM/Festival de Cannes

Vor der Premiere gab es Stimmen, die Serebrennikov in einem Aufwasch mit allem Russischen canceln wollten. Es sei ein Fehler, den Film überhaupt zu zeigen, weil man damit die Sanktionen gegen das kriegführende Russland unterlaufe. Sicher steckt auch „dreckiges“ Geld in seiner Finanzierung, auch wenn die offiziellen staatlichen Stellen allein wegen der betonten Homosexualität schon vor Jahren die Unterstützung verweigerten.

In einer Szene wird Antonina aufs Land verschickt, damit Gras über die Sache wachsen kann. Eine Einblendung verrät: Es ist ein Ort „nahe Kiew“, damals Teil des russischen Großreichs. Hinterlässt das einen Makel auf diesem beeindruckenden Film? Nein, es ist einfach Geschichte. Im Interview nach dem ersten Screening verurteilt Serebrennikov den Krieg.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema