Als die Täter in Nürnberg vor Gericht saßen, hätte die große Stunde des amerikanischen Psychologen Douglas M. Kelley schlagen können. Der untersuchte sie nämlich, die Görings, Kaltenbrunners, Franks. Machte Rorschach-Tests mit ihnen. Er wollte das Nazi-Gen finden, das Böse an sich nachweisen. Eine Auswertung seiner Tests ist nie erschienen.
Es kam einfach nicht das Einfache heraus, damit fängt Dominik Grafs meisterhafter, monumentaler Dokumentarfilm „Jeder schreibt für sich allein“ an.
Sondern das Beunruhigende: Dass es das absolut Böse gar nicht gibt, dass selbst unter den Verantwortlichen des größten Menschenmords der Geschichte ganz unterschiedliche Erscheinungsformen des Unmenschlichen, Empathie- und Skrupellosen gibt. Dass auch die Täter, keine Monster, sondern Menschen waren und als solche naturgemäß ziemlich grauschleierige Wesen.
Douglas M. Kelley kommt in dem Buch, das Dominik Grafs materialschwerem, leicht gebautem Film-Essay zugrunde liegt, gar nicht vor. Anatol Regnier hat das Buch „Jeder schreibt für sich allein. Schriftsteller im Nationalsozialismus“ geschrieben.
Regnier ist der Enkel (und der Biograf) von Frank Wedekind. Seine Mutter Pamela war verlobt mit Klaus Mann. Immer wenn Erich Kästner zu Besuch bei den Regniers war, musste Anatol ganz still sein, Kästner galt als Kinderhasser.
Was Regnier umtreibt in seiner literarischen Großmontage, folgt so ziemlich dem umgekehrten Ansatz der Kelley-Untersuchung. Regnier, der Musiker ist und Schauspieler und Schriftsteller und ausgesprochen ansteckend lacht, ist tief in die Keller des Literaturarchivs von Marbach gestiegen.
Er hat die hintersten Regale diverser Bibliotheken durchforstet, um anhand von Originalmaterial aus Briefwechseln, Tagebucheinträgen und aus Romanen eine Art Psychogramm jener Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu erstellen, die nach der Machtergreifung von 1933 Deutschland nicht verlassen haben.
Graf greift die Montagestruktur Regniers auf. Der Bildschirm wird mehrfach geteilt. Man sieht Originalaufnahmen, Schwarz-Weiß-Alltagsszenen, Fotos, Probenszenen aus Grafs Verfilmung von Kästners „Fabian“, gespenstische Spielszenen (eine Nacht in einer Buchhandlung, in der die totgesagten und vergessenen Dichter geisterhaft umherstreifen).
Graf ist mit Regnier in Marbach unterwegs und in Sanary-sur-Mer, dem Exilort von Klaus Mann, und in Hans Falladas Fluchtort Carwitz und bei Ina Seidel am Starnberger See und streift mit ihm und Bernward Vespers Schwester Heinrike durch den Park ihres Vaters, des Nazi-Dichters Will Vesper. Graf spiegelt Gespräche ein, in denen die gute Handvoll Figuren, deren Weg durchs „Dritte Reich“ er folgt, von heute und von einer jeweils höchst eigenen Warte aus gespiegelt werden.
Günter Rohrbach erzählt, Anatol Regnier natürlich auch, Florian Illies und die Kunsthistorikerin Julia Voss. Man hört Dominik Graf, was wie immer ein fabelhafter Genuss ist, Dominik Graf lesen und Ausschnitte aus Regniers Material und den Werken der verhandelten Dichter.
Gottfried Benn, der Verblendete, der meinte, dass sein Weltbild durch die Nazis und ihre „deutsche Revolution“ endlich umgesetzt würde, der dem Teufel einen Pakt anbot, den der aber irgendwann schnöde zurückwies.
Erich Kästner, der Lavierer, der Erfolgsschriftsteller, der nach eigenem Bericht bei der Verbrennung seiner eigenen Bücher auf dem Bebelplatz dabei war, trotzdem blieb und trotz Publikationsverbot etwa das Drehbuch für den Ufa-Hans-Albers-Film „Münchhausen“ verfasste, das, wie er stolz nach einem Treffen mit Top-Nazis seinem Muttchen mitteilte, alle toll fanden.
Hans Fallada, der sich ins Exil ans Ende der Mecklenburger Welt, nach Carwitz zurückzog, alles Politische meidend wie der Teufel das Weihwasser, schrieb wie der Teufel, später die Nazi-Abrechnung „Jeder stirbt für sich allein“, zum Ende des Elends aber bereit war, einen offen antisemitischen Roman zu schreiben über einen jüdischen Berliner Betrüger, von dessen Manuskript zum Glück für Fallada nichts übrig blieb.
Ina Seidel kommt vor, die sich mit einem Hitler-Jubelgedicht um Kopf und Kragen schrieb. Und Jochen Klepper, von dem eine Reihe der schönsten geistlichen Gedichte stammen und eine 1937 erschienene Soldatenkönig-Biografie, die ein Bestseller wurde. Und der sich – mürbe geworden im Kampf gegen die deutsche Bürokratie für seine jüdische Frau und deren Kinder aus erster Ehe – in der Nacht vom 10. auf den 11. Dezember 1942 das Leben nahm, mit seiner Frau und deren jüngster Tochter. Und Hanns Johst, der strammste Nazi in Grafs Autoren-Arsenal.
Zu Besuch bei Ensslins Schwiegervater
Und Will Vesper, mit dem nach dem Krieg keiner mehr was zu tun haben wollte, dessen Sohn sich bis zum Selbstmord an ihm abarbeitete, immer wieder aber mit seiner Frau auf Vespers Gut Triangel gern zu Besuch war. Bernwards Frau war Gudrun Ensslin, in deren Weg in die Empathielosigkeit und Kälte des Terrorismus Grafs Großmontage eine linke Variation des Faschismus sieht.
Graf und Regnier denunzieren nicht, Graf und Regnier wägen ab, moralisieren nicht. Zwei Grundprinzipien leiten sowohl Grafs Film als auch Regniers Buch: Sich möglichst fernzuhalten vom Hochmut der Nachgeborenen.
Dass sie sich, im Wissen, was geschah und wie Hitlers Diktatur wurde, anders verhalten hätten, besser, aufrechter natürlich, widerständischer. Und zu versuchen, immer aus dem Alltag der Menschen im Nationalsozialismus heraus zu erzählen, die ja eben nicht wissen konnten, wie alles werden würde.
Wer im Glashaus sitzt und ganz genau weiß, wie er sich verhalten hätte, werfe den ersten Stein. Womit Graf, die Spuren dahin hat er sorgfältig durch seinen kompletten Essay gelegt, am Ende in unserer Gegenwart ankommt. Einer Zeit, die Widersprüchlichkeiten, Unschärfen, Zwiespältigkeiten, Ambiguitäten, gewissermaßen die Natur des Menschen, zunehmend nicht mehr aushält. Eindeutigkeiten fordert, wie sie Douglas M. Kelley vergeblich gesucht hat.
Und am Ende – so jedenfalls ahnt es Graf, dieser etwas andere Fabian, voraus – in einem neuen Faschismus endet: „Wir werden mit unseren eigenen widersprüchlichen Anteilen nicht fertig. Wir verdrängen stattdessen und verurteilen. Wir reden von unseren Werten, um uns in Sicherheit zu sonnen.“ Und, so Graf, „wichtig ist den Gesundbetern dabei das makellose Weiß oder das lückenlose Schwarz in der Beurteilung anderer. Gut oder Böse, Ausschluss oder Dazugehören – dazwischen gibt es für sie, die den Faschismus ja eigentlich Nachgeborenen, nichts.“
Bei der Berlinale nicht gezeigt
Sonst müssten sie sich, sagt Graf, „ja mit ihrem eigenen dunklen Selbst konfrontieren. Und so wird diese Vereinfachung der Weltanschauung schnell nichts anderes als ein neuer Totalitarismus, eine neue Reinheitsideologie. Diesmal entstanden in der alternativlosen Glaubenshölle der guten Menschen.“
„Jeder schreibt für sich allein“ sollte überall laufen. Es lief aber nicht mal im offiziellen Programm der Berlinale, sondern in einer Rahmenveranstaltung, der „Woche der Kritik“. Das erklärtermaßen politische Filmfestival zeigte stattdessen den ersten Teil eines Dokumentarfilms über Boris Becker. Man muss sich halt entscheiden.