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Kultur Carl Philipp Emanuel Bach

Mit diesem Album beginnt Keith Jarretts Nachlass zu Lebzeiten

Redakteur Feuilleton
„Aus der Seele spielen: Keith Jarrett „Aus der Seele spielen: Keith Jarrett
„Aus der Seele spielen: Keith Jarrett
Quelle: ECM Records
Carl Philipp Emanuel Bach war der berühmteste der Bach-Söhne. Dann wurde der Brückenbauer zwischen Barock und Romantik vergessen. Keith Jarrett hat die Württembergischen Sonaten eingespielt. Sie erscheinen gerade zur rechten Zeit.

Man könnte jetzt natürlich wieder diese Geschichte schreiben von Vater und Sohn. So Mitte der 1740er Jahre würde sie spielen. Von einem Alten – mit 56 war man zu der Zeit schon ziemlich alt – und einem Jungen würde sie handeln, der – so um die Dreißig war er – eigentlich gar nicht mehr so jung war. Wie sie da in einem Raum versammelt sind in Berlin am Preußenhof.

Der Alte am Cembalo, die neuen Noten des Jungen auf dem Pult, der hinter ihm steht. Sechs Sonaten, gewidmet einem Schüler, dem gerade in Amt und Würden eingeführten Kurfürsten Carl Eugen von Württemberg. Entstanden zwischen 1742 und 1744.

Schön gedruckt sind sie. Sie sollen sich ja auch gut verkaufen. Komponisten fingen an, nicht nur lohnabhängige Zierratlieferanten europäischer Höfe zu sein, sondern freie Musikunternehmer zu werden. Aber das nur nebenbei.

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Bach heißen sie beide. Carl Philipp Emanuel der junge, Hofcembalist des großen Friedrich, Johann Sebastian der alte, seit zwanzig Jahren in Leipziger Kirchendiensten. Der Alte hat gerade die zweite Staffel des Wohltemperierten Klaviers vorgelegt und die Goldbergvariationen, er schrieb damit eine Epoche zu Ende, und er wusste es. Was der Junge (unter anderem) mit seinen Sonaten eröffnete, konnte er nur ahnen.

Die Geschichte ist ziemlich oft geschrieben worden. Und sie wird weitergeschrieben. Vergangenes Jahr von Daniil Trifonov in seinem Bach-Familien-Album „The Art of Life“, in dem Werke von Johann Christian, Carl Philipp Emanuel und Johann Christoph Bach ein bisschen sind wie die niedliche Salatgarnitur für die Kunst der Fuge des Alten von der Thomaskirche.

Demnächst in der Bach-Bearbeitungssammlung von Albrecht Mayer, dem Solo-Oboisten der Berliner Philharmoniker. Gerade erst im ziemlich feinen Text des britischen Musikkritikers und -schriftstellers Paul Griffith für das Booklet von Keith Jarretts Einspielung eben jener Württembergischen Sonaten.

Keith Jarrett spielt Carl Philipp Emanuel Bach

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Dem Sohn, der für ein halbes Jahrhundert wichtiger war als sein Vater, bis an den Rand der Romantik, die er, einer der zentralen Befreier der Subjektivität in der Musik aus den kontrapunktischen Fesseln, die ihr zur höheren Ehre Gottes angelegt wurden, dem Sohn hat diese Geschichte nicht viel geholfen. Und dem Werk auch nicht. Die Württembergischen Sonaten sind – wie beinahe der ganze Rest des Werks des Klavierpioniers – eine Randerscheinung im klassischen Repertoire geblieben.

Was an der Verknöcherung dieses Repertoires liegt, daran, dass es Brückenbauer immer schwer haben, hineinzukommen in den risikenvermeidenden Kanon der Werke jener Komponisten, die – wie Mozart – ohne Brückenbauer wie Carl Philipp Emanuel oder Johann Christian so nie geschrieben hätten, nie hätten schreiben können, wie es sie es dann getan haben.

Im Fall von Carl Philipp Emanuel Bach lag es auch daran, dass Pianisten die Sonaten des Hofcembalisten gern den Cembalisten zuschoben, als hätten sie mit ihnen nichts zu tun. Keith Jarrett, die Goldberg Variationen und beide Bände des Wohltemperierten Klavier hatte er auf dem Höhepunkt seiner klassischen Phase auf dem Cembalo eingespielt, kannte Cembalo-Varianten der sorgfältig in Moll und Dur geteilten sechs Sonaten Carl Philipp Emanuels.

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Er fand, da müsse mehr gehen. Und setzte sich 1994 (im Jahr, in dem er Schostakowitschs 24 Präludien und Fugen aufnahm) in den Cavelight Studios von New Jersey an den Flügel mit dem Württembergischen auf dem Pult, vor die gnadenlosen Mikrofone von Manfred Eichers ECM-Label.

Dass der Mitschnitt erst jetzt, drei Jahrzehnte später und Jahre nach dem krankheitsbedingten Ende von Jarretts Karriere herauskommen, ist mindestens so rätselhaft wie wunderbar. Warum die Aufnahme so lange zurückgehalten wurde, wird von ECM nicht einmal ansatzweise erklärt und nährt den Verdacht, mit Carl Philipp Emanuel beginne die Veröffentlichung von Jarretts klassischem Nachlass zu Lebzeiten.

Was wiederum einerseits natürlich geradezu melancholisch, andererseits angesichts dessen, in was man sich da auf den beiden CDs in anderthalb Stunden versenken darf, geradezu hoffnungsfroh stimmt. Wer weiß, was da sonst noch alles lagert im Klangarchiv von ECM.

Ordnung und Chaos

Das Cover der Württembergischen (Werkverzeichnis Wq49) zeigt einen Highway in geradezu Cormac McCarthyscher Ödnis. Gerade und schwarz zieht sich der Asphalt links zum Horizont. Karg und wild bereitet sich die Landschaft rechts darauf vor, sich die Straße zurückzuholen.

Ordnung und Chaos im Zwiegespräch, Zivilisation und Zügellosigkeit, Gebändigtheit und Gelöstheit – man hätte sich kaum eine bessere Illustration denken können für das, was sich in den sechs gerade mal gut viertelstündigen Stücken ab- und mit dem Keith Jarrett spielt.

Vermutlich hätten sie sich ziemlich gut verstanden. Beide Melancholiker. Beide radikale Befreier des musikalischen Ichs durch das Erbe der Musikgeschichte. Jarrett ist – wie Carl Philipp Emanuel, sein Bruder im Geiste – ein Meister der allmählichen Verfertigung des musikalischen Gedankens aus der Floskel. Aus dem Gerade-mal-so-wie-irgendwie-hingespielt-worden-Sein.

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Es schält sich was hervor aus der Kontrapunktik des Alten. Fugen schichten sich, bis alles schwarz und traurig ist, und dann wird alles frei.

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Wer immer hören kann, hört natürlich zwischen den Linien, den Sätzen, den Motiven, die geradezu cat-stevens-hafte Vater-Sohn-Auseinandersetzung zwischen dem alten Stürmer-und-Dränger, der Johann Sebastian mal war, und dem jungen, der Carl Philipp Emanuel vielleicht eigentlich gar nicht sein wollte, weil es ihm um die Natürlichkeit des Ausdrucks ging, um die emotionale Einbindung aller Beteiligten – des Komponisten, des Pianisten und dessen, der da zuhört.

Und dass der vielleicht mehr Rameau als Johann Sebastian aus dem Grundrauschen und mehr 19. Jahrhundert hört als dem Alten lieb war, dass sich ein Lächeln kräuselte auf den Lippen des Sohnes, als der Alte in Berlin am Cembalo nicht so richtig verstand, was da in Sonatensatzform vor ihm lag.

Kein abgerichteter Vogel

„Aus der Seele“, hat Carl Philipp Emanuel Bach geschrieben, „muss man spielen, und nicht wie ein abgerichteter Vogel.“ Von abgerichteten Vögeln ist in Keith Jarretts musikalischer Miniserie keine Spur.

Die ist geradezu demütig in ihrer Präzision, die ist so klar wie ein Bergsee, durch den musikalische Gedanken schwimmen wie schillernde Fische. Und sie ist so schön, dass man sie allen von der Wirklichkeit gegenwärtig Wundgeschlagenenen als Vademecum nur empfehlen kann.

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