Gibt es einen Unterschied zwischen Lyrikern und Dichtern? Für Carl Bischoff schon, der im Spätherbst des Jahres 1989 in Berlin-Prenzlauer Berg aufschlägt und in der anarchischen Hausbesetzerszene als Maurer willkommen geheißen wird.
Aber was ist Carl eigentlich? „Wie sollte er es sagen? Ein Dichter. Das gute, alte, hochfahrende Wort und sein peinliches Pathos. Ein Dichter – also ein Irrer, Aufschneider, Angeber, eine Witzfigur. Aber was sonst? Ich bin jemand, der schreibt. Was denn? Lyrik. Ich bin ein Lyriker. Niemand konnte abstreiten, dass ‚Lyrik‘ ein abstoßendes Wort war, ein Wort, das Ekel erregte. ‚Lyrik‘ war ein Würgen im Hals, spätestens beim ‚-ik‘ war alles erstickt. Ein Lyriker und seine Lyrik – wozu, wenn es Dichter gab und ihre Gedichte?“
„Stern 111“, der zweite Roman von Lutz Seiler, der 2020 erschien, wurde als Wenderoman wahrgenommen, was er auch ist. Aber mehr noch erzählt er – in der Tradition klassischer Künstler- und Bildungsromane – von einer Selbstfindung, einer Häutung, der Metamorphose eines Ich, die die Wandlung eines ganzen Landes spiegelt, aber nicht einfach exemplifiziert. „Ein Dichter. Es war undenkbar, aber irgendwann würde er dazu in der Lage sein, es auszusprechen. Eines Tages wäre er dazu berechtigt.“
Carl Bischoffs Traum wird durch die Anerkennung seiner Dichterkollegen beglaubigt. Die sich selbst organisierende Kolonie der Hausbesetzer aber, die sich in den Ruinen der untergehenden DDR einrichtet, ist nicht von Dauer als Gegenstaat, in der Kunst mehr als Besitz zählt. Am Ende von „Stern 111“ ist Carl Bischoff ein Dichter, seine Welt aber ist verschwunden, erloschen wie eine ferne Sonne.
Verschwinden des Vertrauten
In der Öffentlichkeit ist Seiler als Dichter mindestens seit seinem zweiten Band „pech & blende“ anerkannt, der im Jahr 2000 als schmales Edition-Suhrkamp-Bändchen erschien. Nun erhält der 1963 in Gera geborene Autor den von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung verliehenen Büchnerpreis, also die höchstmöglichen Weihen für deutschsprachige Literatur. Der Preis wird am 4. November 2023 in Darmstadt verliehen.
Das Verschwinden der vertrauten Welt ist eine Urerfahrung Seilers, dessen thüringisches Heimatdorf Culmitzsch in den späten Sechzigern dem DDR-Uranbergbau weichen musste. Die Abraumhalden, die Absetzbecken voller strahlenbelasteten Schlamms und Abwassers aus dem Tagebau sind wiederkehrende Bilder in Seilers Lyrik, wie überhaupt Radioaktivität und Strahlung zu ambivalenten Leitmotiven werden, weil sie Faszination und tödliche Gefahr zugleich emittieren. Das ist auch Erbe der Romantik, die vom Bergbaubeamten Friedrich von Hardenberg mitgeprägt wurde, besser bekannt als Novalis.
„Kruso“, Seilers erfolgreicher Romanerstling von 2014, und „Stern 111“ sind nun nicht einfach zwei Wenderomane, sie bilden gleichsam ein Diptychon, ein zweiflügliges Gemälde, dessen Scharnier der Mauerfall bildet. „Kruso“ erzählt von der Aussteigerwelt auf der Insel Hiddensee im Sommer ’89, wo der charismatische Inselpate Kruso ein geheimes Reich der Freiheit errichten will, um die DDR-müden Seelen von der lebensgefährlichen „Republikflucht“ über die Ostsee abzuhalten.
Die Hauptfigur ist Edgar Bendler, der in einer Lebenskrise an den Rand der ihm damals zugänglichen Welt flieht. Wie Krusos Utopie (ein Erbe auch der alten Robinsonaden, auf die der Name anspielt) mit der Wende untergeht, so ist auch die Insel im Ost-Berlin der frühen Neunziger nur befristet.
Beide Romane sind trotz verschiedener Hauptfiguren eng verknüpft. Kruso taucht in „Stern 111“ wieder auf, als „Comandante“, der die Verteidigung der besetzten Häuser gegen Nazis und die Staatsmacht organisiert. Einmal trifft Carl Bischoff, der heimliche Dichter, auf Edgar Bender, den er aus Thüringer Jugendsportzeiten kennt. Dieser erinnert sich daran, dass Carl sich damals an einer neu geschotterten Laufbahn einen Splitter in die Hand zog: Die Wunde heilte nicht, denn der Belag war aus Uranabraum und der Splitter radioaktiv: „Schlacke in der Schreibhand.“
Auch die Halbwertszeit der Literatur übertrifft die herkömmlichen Zeiträume des Lebens, auch die der Erinnerung. Die Titelgeschichte seines Erzählungsbands „Die Zeitwaage“ (2009) spielt in derselben Welt wie „Stern 111“, in der alternativen Kneipe „Assel“, wo der Erzähler kellnert und vom Schreiben träumt.
Er wird Zeuge eines schrecklichen Arbeitsunfalls, als ein Starkstromelektriker an die Oberleitung der Tram gerät. Der Arbeiter war vorher öfter zu Gast gewesen und hatte an diesem Tag seine Armbanduhr auf dem Tisch vergessen; der Erzähler betrachtet das als Vermächtnis und als Auftrag. Seinen ersten Bericht über den tödlichen Unfall kritzelt er mit Bleistift auf den Kühlschrank der Kneipe.
Mit einer Zeitwaage stellt ein Uhrmacher fest, ob die Uhr des Arbeiters noch richtig tickt. Die Literatur hat ihre eigene Zeitrechnung, die nicht synchron mit der Welthistorie läuft, auch wenn man sie hierzulande „Zeitgeschichte“ nennt. Sie hat eher die Dimension einer Strahlung von schier unendlicher Dauer, während die Welt ein ständiges Verlustgeschäft ist. Im „Geigerzähler“ stecke das Wort „Erzähler“ hat Seiler einmal bemerkt. Die Dichter, das sind die mit der radioaktiven Schreibhand.