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Kultur So wird der „Tatort“

Diese Frau wird man lange nicht vergessen

Redakteur Feuilleton
Muskuliert und kampfbereit: Mariam Hage ist Azra Muskuliert und kampfbereit: Mariam Hage ist Azra
Muskuliert und kampfbereit: Mariam Hage ist Azra
Quelle: ARD Degeto/ORF
In der Wiener Unterwelt ist die Hölle los. Die georgische Mafia zerlegt sich blutig. Und mitten drin Azra, eine Ermittlerin, wie es sie schon lange nicht mehr gab. Sie kämpft mit allen Handkanten, die sie hat. Und sie hat viele. Das muss man sehen. Auch wegen Mariam Hage. Aber nicht nur.

Frauen im deutschen Sonntagabendkrimi sind – darin unterscheidet sich das deutsche doch sehr zum Beispiel vom britischen Mord- und Totschlaggeschichtenfernsehen – seltsam körperlose Wesen. Besser gesagt: Sie werden, um die Fußballersprache zu bemühen, vor allem zum körperlosen Spiel angehalten.

Sie beherrschen meisterhaft die feinsten Finten der empathischen Verhörtechnik, dass allerdings schon die Pistole nicht unbedingt ihr bester Freund ist, sieht man sofort. Muckibuden betreten sie bestenfalls zum Zwecke der Zeugenbefragung. Von irgendwelchen amourösen Verwicklungen mit vollem Körpereinsatz wollen wir an dieser Stelle sowieso lieber schweigen, müssen wir auch, es gibt sie schlicht nicht.

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Das Unphysische der klassischen „Tatort“-Kommissarin hat natürlich etwas mit dem inzwischen durchschnittlich fortgeschrittenen Alter der Ermittlerinnen zu tun. Einem Alter, das es eher wenig glaubhaft macht, würde beispielsweise die Bibi Fellner (Adele Neuhauser, 64) – die schon von ein paar Metern Lauferei hinter einem Verdächtigen her über den nächtlichen Wiener Naschmarkt furchtbar heftig aus der Puste kommt – einen georgischen Mafioso mittels einer Krav-Maga-Wurftechnik außer Gefecht setzen. Darüber, welchen Einfluss das auf die Geschichten hat, auf die Auswahl der Milieus, denen die Drehbuchschreiber Sonntagabendkrimikommissarinnen aussetzen, könnte man jetzt länger philosophieren.

Aber dafür ist keine Zeit. Wir sind ja wegen Azra hier. Azra stanzt ihre Schritte in den Asphalt. Sie ist klein, hat mehr gespannte Muskelmasse im kleinen Zeh als Charlotte Lindholm wahrscheinlich im Oberarm. Wahrscheinlich hat sie an den unmöglichsten Stellen Tattoos. Die kriegen wir aber nicht zu Gesicht. Sexuell gesehen, ist „Azra“, der neue Wiener „Tatort“, eine körperlose Angelegenheit. Für Sex ist in dieser Geschichte aber auch keine Zeit.

Will sich dem Ziehvater beweisen: Azra (Mariam Hage) und Moritz Eisner (Harald Krassnitzer)
Will sich dem Ziehvater beweisen: Azra (Mariam Hage) und Moritz Eisner (Harald Krassnitzer)
Quelle: ARD Degeto/ORF/Darryl Oswald

Kommissarin ist Azra keine, nicht mal Polizistin im eigentlichen Sinne. Der Moritz Eisner vom Wiener „Tatort“-Kommissariat, der väterlich in die Straßenköterin und Junkie-Tochter verschossen ist, hat sie vor zwei Jahren eingeschleust in die georgische Mafia von Wien, den Clan der Datvianis. Da herrscht gerade Zeitenwende.

Da droht ein Krieg zwischen den Mafiosi der alten Schule und den Modernisten, die ihre Geschäftsidee breiter aufstellen wollen, hineinkommen in die höheren Kreise, da wo die Macht ist. „Wenn du jemanden um zweihundert Euro bescheißt“, sagt der Chef vom Moritz sehr weise, „ist das ein Verbrechen, bei 200 Millionen ist es Politik.“

Dann schießt wer auf Luka Datviani, den Kopf der Oldschool-Fraktion. In die Schulter, von hinten. „Von hinten? Echt jetzt, Bruder?“, ruft er noch. Ein paar weitere Kugeln besorgen den Rest.

Keine Don-Winslow-für-Wiener-G’schicht

Damit könnte jetzt ein stinknormaler Mafia-Thriller losgehen. Einer mit Krieg im Milieu und Fontänen von Blut, so eine dämliche Don-Winslow-für-Wiener-G’schicht. Geht es aber nicht. Weil es da halt die Azra gibt.

Die irrlichtert in diesem auf mittlerer Drehzahl vor sich hin röhrenden Plot herum. Kaum ist sie da, hat sie ihn geentert. Sie will was wissen, glaubt, dass es der Beka Datviani war, der sich seines die Moderne ausbremsenden Bruder entledigt hat.

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Sie will Beweise beschaffen. Unbedingt will sie das. Und sie geht zu diesem Zweck mit allen Handkanten, über die sie verfügt, auf alle los. Und sie hat viele: Ihre Kodderschnauze, ihre Augenbraue, ihre flitzpiependen Blicke, ihre tatsächlichen Hand- und Fußkanten, jeden Quadratzentimeter ihres durchmuskulierten Körpers. Ihr nimmt keiner was weg. Ihr kann keiner. „Puppi“ nennt sie den Moritz. Das hat sich auch noch nie jemand getraut.

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Mariam Hage ist Azra. Hage, Tochter eines Libanesen und einer Serbin, Geschichts- und Philosophie- Studierte, war mal bei „Trakehnerblut“ dabei, einer – nicht schwer zu erraten – Pferdeserie um ein Gestüt, auf dem es – vom Blutverlust mal abgesehen – auch nicht sehr anders zugeht als in der georgischen Mafia.

In der Servus-TV-Serie für späte Pferdemädchen konnte Hage das Körperliche noch an die großen Tiere delegieren. In „Azra“ ging das natürlich nicht. Azra will an die ganz hohen Tiere ran. Azra braucht direkte, gewaltbereite Präsenz. Und eine gebrochene Körperlichkeit. Eine strahlende, stählerne Härte, hinter, unter der allerdings jene Abgründe spürbar bleiben, um die es eigentlich geht. Das alles liefert Mariam Hage. Sie schlägt einem die Azra um die Ohren. Das wird man so schnell nicht vergessen.

Wer hier wen durch diese von Dominik Hartl inszenierte und von Sarah Wassermair geschriebene seltsame, sehr schön temperierte, niemals durchhängende Mischung aus Mafia- und Rachegeschichte zieht, macht sie dabei gleich am Anfang klar. Da meint der Moritz nämlich seine kriminalistische Ziehtochter verfolgen zu müssen. Zu Fuß. Die Bibi und der Moritz spurten los, soweit ihr Alter das noch zulässt. Und auf einmal steht Azra hinter ihnen. Sie ist ihnen immer eine Nasenlänge voraus. Sie bleibt es. Selbst als sie längst eingeschlagen ist, die Nase.

Das Ende einer wunderbaren Freundschaft

Man hatte sich eigentlich schon damit angefreundet mit dem Gedanken, dass da jetzt endlich jemand an der Wien aufgetaucht ist, der das Geschäft von Bibi und Moritz übernehmen könnte. So als gebrochener Engel. Nicht gleich natürlich. Das will ja keiner.

Die beiden Alten haben wieder herrliche Szenen, gerade wenn sie sich ihrer seltsamen Freundschaft versichern, von der wir schon noch gern wissen wollten, ob da endlich noch mehr draus wird. Einmal zum Beispiel, da stehen sie wieder auf dem Dach ihres Kommissariats über Wien. Es gibt Sonnenaufgang und Morgenkaffee.

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Und die Bibi fragt, warum er ihr nicht gesagt hat, was die Azra und er da vorhatten mit den Datvianis. „Du bist so deppert“, sagt der Moritz. Weil sie ihm das ausgeredet hätte, hat er das nicht gemacht, sagt er. Und weil klar war, dass er ein völliger Idiot wäre, wenn er sich darauf einließe.

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Dann kriegt er eine Kopfnuss. „Wenn Du ein Idiot bist“, sagt die Bibi, „dann bin ich auch einer. Aber ich hab das Recht mit dir zusammen eine Idiotin zu sein. Ich mein, das ist doch die Basis von… von…“ Und dann… Aber wir wollen nicht spoilern.

Das Ende schon gar nicht, der einer der fabelhaftesten „Tatort“-Finale ist seit langem. Dieses Dilemma aus Recht und Gerechtigkeit, in der Bibi und Moritz plötzlich festsitzen. Muss man sehen. Bis zum Schluss. Muss man.

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