Geschichten produzieren im Ohr des Lesers ihre eigenen Hintergrundgeräusche, eine Art innere Tonspur: das Kinderkreischen eines Spielplatzes, Kirchenglocken, das Plingpling eingehender Nachrichten. In Bodo Morshäusers vor 40 Jahren erschienener Erzählung ist dieser Soundtrack der Klang von Martinshörnern: „Jetzt wieder Sirenen. Nein, sie waren gar nicht fort gewesen. Sie hatten weitergeheult im Kopf, immer auf und ab in einer eindringlich geringen Lautstärke.“
Das System gegen das Milieu
Im Sommer 1981 taumelt der Erzähler durch ein chronisch nervöses West-Berlin, in dem der Alarm- zum Normalzustand geworden ist. Hausbesetzungen, Straßenschlachten mit der Polizei, Kneipenrazzien, Verkehrsblockaden und Brandstiftungen. Auf der einen Seite das „System“, auf der anderen das kulturell tonangebende Milieu.
Der genervte Polizist bringt die Fronten auf den Punkt: „Was wollen Sie? Sie sind eine Minderheit. Wir stehen hier für die Mehrheit. Verstehen Sie das doch mal.“ – „Ja, für die Mehrheit; aber nicht fürs Ganze.“
Ähnliche Diskussionen könnten sich heute wieder abspielen, wo Berlin für Aktivisten wie jene der „Letzten Generation“ zu einem Kampffeld geworden ist und so mancher erneut auf dem schmalen Grat zwischen Protestaktionen und gewaltbereitem Widerstand wandelt.
Wie damals der Westteil ist heute die ganze Stadt Gravitationskern von kulturellen und politischen Eliten wie Gegeneliten, aber zugleich auch Objekt ewigen Spottes. „Von Berlin aus ist es fast unmöglich, eine andere Stadt zu empfehlen. Wo schon spielen senatsgeförderte Rockgruppen von zehn bis halb sieben auf den Ubahnhöfen?“ Morshäuser, geboren 1953 in Berlin, erzählt in diesem schmalen, aber hoch konzentrierten Buch nebenbei auch eine autobiografisch gefärbte Lokalgeschichte der bewegten 50er- bis 70er-Jahre.
„Die Berliner Simulation“, erschienen 1983 bei Suhrkamp und 2014 im Hanani Verlag neu aufgelegt, gehört zur ersten Welle deutschsprachiger Popliteratur, deren Verfahren von Film, Musik oder bildender Kunst angeregt wurden. Einen Mitschnitt der Gegenwart will Morshäuser liefern; zugleich aber den Wiederholungscharakter der Realität zeigen, das Inszenierte und Theatralische gerade des politischen Protests, der nur die Muster der Studentenrevolte in ewig erstarrten Fronten nachspielt. Überall sind Skripte am Werk. Einmal gerät man in eine Taxischießerei, die sich als Filmdreh herausstellt. Die vermeintlichen Protagonisten sind nur Statisten wider Willen. „Engagiert“ ist Morshäusers Schreiben daher trotz seines Stoffes gerade nicht.
Vordergründig erzählt er von einer amourösen Obsession nach dem Vorbild des surrealistischen Klassikers „Nadja“ von André Breton: Auch wenn der Erzähler seine Sally im Großstadtdschungel sucht, verliert und wiederfindet, folgt er also einem bekannten Muster.
Einmal vergleicht ihn Sally mit Christopher Isherwood, dem Autor von „Goodbye to Berlin“ (1939), und meint es als Vorwurf: „Aufmerksam zwar … aber vielleicht auch schon zu aufmerksam. Immer registrieren! Input. Immer mehr Input als Output. Output dann am lieben Schreibtisch.“ Gerade weil Morshäuser in jenen bewegten, von Sirenentönen unterlegten Sommertagen stets Beobachter bleibt, hat er einen Berlin-Roman auch für unsere Gegenwart geschrieben.