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Literatur Schriftsteller Martin Amis ✝︎

Meister des Ausnahmezustands

Herausgeberin Literarische Welt
Martin Amis (1949 bis 2023) Martin Amis (1949 bis 2023)
Martin Amis (1949 bis 2023)
Quelle: Alejandro Garcia/epa/dpa
Der britische Schriftsteller Martin Amis war ein literarischer Superstar der Achtziger und Neunziger. Ein Autor des Dooms, Mann der Rebellion und feiner Sprachkünstler der Ironie. Jetzt ist Amis im Alter von 73 Jahren gestorben.

Schriftsteller seien wie Marsmenschen, hat Martin Amis einmal in einem langen Gespräch über sein Schreiben gesagt: Sie behaupten, jeder wieder für sich aufs Neue, dass man die Welt noch nicht richtig gesehen habe – und erschaffen dann ihre eigene.

Im Fall von Martin Amis, 1949 in Oxford geboren, war diese Welt eine englische Welt des misanthropischen Witzes, der Ironie, der sprachlichen Distanz zum Betrachteten, umgeben von großem Selbstbewusstsein. Wichtig sei für einen Schriftsteller, sagte Amis in jenem Gespräch weiter, die Stimme.

Er selbst, der zu seinen literarischen Vorbildern Saul Bellow und Vladimir Nabokov zählte und gern auch theoretisch über das Schreiben sprach und noch in seinem letzten Roman dozierte, wie gute Sätze auszusehen hätten, sei jemand, dessen Romane darauf wesentlich aufbauten: Ton und Haltung des Erzählers.

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Plots seien nur bei Thrillern wichtig, wenn aber in einem Roman die Tonlage und Erzählstimme nicht funktioniere, sei man als Schriftsteller erledigt. Martin Amis’ lebenslange Obsession mit dem Ton in seinen literarischen Welten lässt sich nur dann verstehen, wenn man berücksichtigt, in welcher Welt er selber zum Schriftsteller wurde.

Amis wuchs in englisch-bohemienhaften Kreisen auf: Sein Vater Kingsley Amis wurde mit seinem Roman „Lucky Jim“ in den Fünfzigerjahren zum Großschriftsteller, der den Booker Prize gewann und als Vertreter der „Angry Young Men“ galt; eine Berühmtheit, mit der sein Sohn lange hadern sollte – der Legende nach soll der junge Martin ein gemeinsames Porträt für die National Portrait Gallery in London verweigert haben. Den älteren Amis zog es später in Richtung Thatcher, den jungen Amis zunächst in die wilde, linke, rebellische Richtung der Intelligenz, die sich zwischen Oxbridge und dem „Times Literary Supplement“ angesiedelt hatte.

In eine Schriftstellerfamilie hineingeboren: Martin Amis als Kind
In eine Schriftstellerfamilie hineingeboren: Martin Amis als Kind
Quelle: Daniel Farson/Getty Images

Martin Amis’ erster Roman, „The Rachel Papers“, wurde 1973 veröffentlicht, als er als Redaktionsassistent beim „Times Literary Supplement“ arbeitete und ein Jahr später mit dem Somerset-Maugham-Preis für Debüts ausgezeichnet (sein Vater hatte den Preis für „Lucky Jim“ erhalten). In den späten Siebzigerjahren arbeitete Amis als Literaturredakteur des „New Statesman“, wo er auch seinen späteren Freund Christopher Hitchens traf, und schrieb den Roman „Success“ (1978).

Amis’ literarischer Durchbruch kam mit Romanen, die in London spielten und Männer als halb kaputte, halb schillernde Antihelden, die der Middleclass-Gesellschaft, aus der sie kommen, entfliehen wollen und sie damit doch nur bestätigen, zum Zentrum hatten: In den Achtzigerjahren erschienen „Money“ (1984, Deutsch: „Gierig“) und „London Fields“ (1989), Anfang der Neunziger kam „The Information“ (1995, Deutsch: „Information“) hinzu.

Ein Mick Jagger der Literatur

Amis selbst hat diese „London Trilogy“ bezeichnet als Beschreibung eines Zustands von „disorder“ – in jedem Fall zeigt sich in diesen Romanen am deutlichsten Amis’ Sinn für Ironie, in die sich immer melodramatisches Pathos mischt, was ihm, vor allem in seinen späteren Werken, auch als pathologisches Bedürfnis, immer das Allercleverste ausdrücken zu wollen, ausgelegt worden ist.

Vielleicht stammt aus Amis‘ früher Zeit als englischer Kritiker auch sein obsessives Interesse an eigenwilligen, gestelzten, altmodischen Wörtern – in jedem Fall aber die etwas herablassende Distanz zu dem Gewerbe, das ihn in späteren Jahren oft genüsslich verreißen sollte.

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Amis gehörte zu einer Clique von Schriftstellern wie Salman Rushdie, Ian McEwan, Clive James, James Fenton und Julian Barnes, die die britische Literaturszene der Achtziger- und frühen Neunzigerjahre Jahre prägten, mit ihren Werken wie mit ihren Hahnenkämpfen um Frauen und Platzierungen auf Bestsellerlisten. Christopher Hitchens, der bis zu seinem Tod ein enger Freund Amis’ war, verglich den jungen Amis in seiner Autobiografie mit Mick Jagger (nur sei er noch etwas kleiner).

Kritiker legten ihm die Rock’n’Roll-Attitüde als Größenwahn aus, spätestens als Amis Mitte der Neunzigerjahre seine langjährige Agentin Pat Kavanagh, Frau von Julian Barnes, zugunsten des New Yorker Agenten Andrew Wylie und eines Riesenvorschusses fallen ließ. Für jeden Streit schien es aber immer eine Art Wiedergutmachungsangebot in gedruckter Form zu geben: Im Memoir „Experience“ (2000) setzte sich Amis mit der komplizierten Beziehung zu seinem Vater auseinander; nachdem Amis Hitchens für dessen angeblich prostalinistische Haltungen kritisiert hatte, versöhnten sich die beiden – natürlich öffentlich.

Amis’ Romane, die in den Nullerjahren und danach erschienen, wurden fast alle gemischt besprochen. In England auch der Roman über Auschwitz, „Interessengebiet“, der in Deutschland 2015 kurz eine Debatte auslöste, nachdem Amis’ langjähriger deutscher Verlag das Buch nicht veröffentlichen wollte; Amis wechselte daraufhin zum Schweizer Verlag Kein & Aber.

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„Die schwangere Witwe“ (2010) beschäftigte sich mit der sexuellen Revolution der Sechzigerjahre und dem Verhalten von Massenbewegungen: Viele verhielten sich „wie eine Herde Gnus, die beim Wassertrinken etwas wittern und dann stur in dieselbe Richtung losgaloppieren; solche Bewegungen sind zerstörerisch – Ideologien ebenso“, sagte Amis, der sich in jenen Jahren politisch zwischen Kritik am Islamismus, New Labour und Neocon bewegte.

In seiner literarischen Autobiografie, „Inside Story“, die seinen Freunden und Vorbildern Philip Larkin, Christopher Hitchens und Saul Bellow huldigt und vergangenes Jahr auf Deutsch erschien, schreibt Amis: „Der beschleunigte Roman ist die literarische Antwort auf die beschleunigte Welt.“ Am Samstag ist Martin Amis mit 73 Jahren in Florida gestorben.

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