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Pop Partyhype Singeli

Die schnellste und schmutzigste Musik der Welt

„Die Präsidentin hat zu unserer Musik getanzt“: Sholo Mwamba, Singeli-Superstar „Die Präsidentin hat zu unserer Musik getanzt“: Sholo Mwamba, Singeli-Superstar
„Die Präsidentin hat zu unserer Musik getanzt“: Sholo Mwamba, Singeli-Superstar
Quelle: Jonathan Fischer
Wenn nur noch die Schnösel HipHop hören: Der ostafrikanische Singeli erweckt die ermüdete Clubkultur zwischen Berlin und New York. Dass so ein musikalischer Kult in europäischen und amerikanischen Metropolen gar nicht mehr entstehen kann, liegt nicht nur am Wohlstand.

Wer mit offenen Ohren durch die Straßen der tansanischen Hauptstadt Daressalam streift, der wird es bald merken: je abgerockter das Viertel, je schlechter die Straßen, desto aufgekratzter und schneller die Musik.

Wenn rund um die verglasten Bürotürme von Downtown noch HipHop und R&B aus Bars und schicken Restaurants schallen, dann pumpen auf dem Kariokoo-Markt, in den heillos überquellenden Dala-Dala-Minibussen und auf Blockpartys sehr viel anarchischere Sounds: Quirlige, auf 160 bis 300 Beats pro Minute hochgepitchte Beats. Nervöses Keyboard-Genudel. Und Swahili-sprachige Chants, die von Armut, Arbeitslosigkeit und der Ekstase der samstäglichen Kidogoro-Partys erzählen, benannt nach den Kidogoro, Schaumstoffmatratzen oder auch nur Fetzen davon, auf denen die völlig verausgabten Tänzer irgendwann zusammensacken.

Singeli heißt dieses tönende Aufputschmittel. Ein Rhythmus schneller als Drum and Bass oder gar mancher Gabber. Ein Musik gewordener Rauschzustand, der mehr als jedes andere Genre Tansanias Jugend repräsentiert.

„Wir reden von Autos, sie nur von Telefonen“, hat sich ein tansanischer HipHop-Star über die Singeli-Konkurrenz mokiert. Und dabei unwillkürlich den Punkt getroffen: Der Singeli projiziert anders als die ostafrikanische HipHop-Variante Bongo Flava keine Mittelstandsträume. Er ist die Musik der Minibus-Schaffner in abgerissenen Plastikschuhen, die jedes Wort eines Singeli-Hits wie ein Glaubensbekenntnis mitsingen, und wenn Bongo Flava nach Gucci und Chanel riecht, dann transportiert der Singeli, nun ja, eher den Rauch von Kohlefeuern.

In Tansania ist rund die Hälfte der Bevölkerung jünger als 16 Jahre. Es gibt für sie kaum Jobs auf dem formellen Arbeitsmarkt, während die Landflucht die Gettos von Daressalam jedes Jahr um eine halbe Million Einwohner anschwellen lässt. Es ist ein Biotop der Armut und des Überlebenskampfes, wie geschaffen für die Entstehung einer Musik, die gleichzeitig Frustrationsventil und Partydroge sein will. Oder: Was wäre eine Samstagnacht, wenn man sich nicht am Singeli berauschen könnte?

Wie ein frischer Brennstab im Reaktor

Dabei ist der Singeli nicht die erste Elektro-Variante aus Afrika. Auch der südafrikanische Shangaan, malischer Balani Show oder die unter dem Label „Congotronics“ firmierenden kongolesischen Likembe-Orchester mit ihren übersteuerten Fingerklavieren haben seit einigen Jahren einen Nerv der westlichen Elektronik-Avantgarde getroffen. Bands von Animal Collective über die Berliner Techno-Produzenten Mark Ernestus und Errorsmith bis zum HipHop-Tüftler Flying Lotus ließen sich von ihnen inspirieren.

Und nun vom Singeli. Er ist die womöglich räudigste, lauteste und schnellste aller afrikanischen Dancehall-Varianten. In den Westen gelangte diese Straßenmusik erstmals 2017. Damals veröffentlichte das Afro-Electro Label Nyege Nyege Tapes „Sounds Of Sisso“, eine Kassette mit den bis dato nur auf Daressalams Schwarzmarkt kursierenden Aufnahmen des Singeli-Pioniers Sisso. Für die ermüdete westliche Technoszene eine Offenbarung: Als ob ein frischer nuklearer Brennstab einen abbruchreifen Reaktor noch einmal auf Schmelztemperaturen hochführe.

Sholo Mwamba auf der Bühne
Sholo Mwamba auf der Bühne
Quelle: Jonathan Fischer

Der Hype ließ nicht auf sich warten. Sisso, MCZO und Duke, junge Männer ohne jede Ausbildung oder Englischkenntnisse wurden zu DJ-Auftritten ins CTM nach Berlin und das Londoner Café OTO, bis nach Warschau und New York geladen. Die Tansanier brachten ihre Kidogoro-Energie mit. Und zauberten – auch ohne Schaumstoffmatten und Kohlefeuergeruch – hyperkinetische Soundkreisel, wie sie hierzulande noch keine DJ-Kanzel gehört hatte. Darf es noch schneller sein? Der schmutzige Drive und die Hypernervosität machte den Singeli jedenfalls zum Versprechen für alle, die den Ausbruch aus den Genreklischees des globalisierten Techno suchen.

Wobei ja gerade die konstruktiven Missverständnisse, die funkifizierten Fehler den Reiz des Singeli ausmachen. Das beginnt schon beim Namen seines zur Zeit größten Stars: „Sholo bedeutet kleine Vögel und Mwamba ist der Felsen“, erklärt der Sänger und Rapper Sholo Mwamba, ein drahtiger Typ mit blondiertem Afro, eingeflochtenen Zöpfchen und Sonnenbrille. „Eigentlich heißen die Vögel ja Sholwe. Als Kind konnte ich das nicht gut aussprechen und habe immer Sholo gesagt. Das brachte alle zum Lachen.“

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Sholo Mwamba und seine Crew rauchen unter einem Strohdach, gerade haben sie den Soundcheck für einen Open-Air-Auftritt bei der Musikkonferenz ACCES in Makumbusho im Zentrum von Daressalaam absolviert. Eine Schulklasse läuft vorüber, auf ihrem Weg in das benachbarte Village Museum. Riesengeschrei, als sie den Musikstar erkennen. Alle wollen Fotos machen. Sholo Mwamba stimmt einen seiner Hits an: Wie auf Kommando ergänzen die Schulkinder den Refrain: „Wenn ich dich rufe, dann kommst du!“

Er selbst, sagt Mwamba, und erst jetzt bemerkt man, wie ausgemergelt er wirkt, ist als Waise und Straßenkind aufgewachsen. „Ich hatte nie die Möglichkeit, eine Schule zu besuchen. Erst der Singeli hat mir viele Türen geöffnet.“ Wobei: Es brauchte auch Mwambas Chuzpe. Bei Festen wie dem Erwachsenwerden eines Jungen, der Beschneidung oder einer Hochzeit, passte er die DJs ab, die auf ihrem Laptop traditionellen Lieder und Trommelrhythmen spielen, und sprang einfach als Master of Ceremony auf die Bühne. Als Singeli-Rapper.

Ursprünglich verwendeten DJs und Produzenten Bruchstücke von Taraab, einer an der Swahili-Küste bei Hochzeiten und Familienfeiern gespielten Orchestermusik, mischten sie mit anderen Rhythmen und beschleunigten sie. „Die Taarab-Musik hat einen langsamen Beat. Wenn der DJ aber die Geschwindigkeit erhöht, kann niemand mehr mitsingen – dafür fangen die Menschen an, wie wild zu tanzen.“ Wenn DJs es schon immer liebten mit solchen Aufputschmitteln zu experimentieren, dann funktioniert auch dieses hervorragend. Schnell, Schneller, Singeli.

Schon der Vorgänger des Singeli, der Mchiriku, hatte sich in den Neunzigerjahren mit nudelnden Casio-Melodien und lärmender Lo-Fi-Ästhetik von sämtlichen westlichen Popnormen gelöst. Der Singeli übernahm dann dessen Energie, um dank besserer Produktionstechnik ein Crossover in den Popmarkt zu schaffen. Heute umarmen selbst HipHop-Stars wie Professor Jay die einst verpönte Arme-Leute-Musik. Den deutlichsten Indikator für die Popularität des Singeli aber liefert, wie könnte es anders sein, die Werbung: Ob Mofas, Seife oder Bier – keine Erfolg versprechende Marketingkampagne, die auf den Massenmarkt in Tansania zielt, kann es sich leisten, ohne Singeli-Getrommel daherzukommen.

Die Stimme der Respektlosen

„Früher sagten die Menschen, der Singeli sei die Musik der Wahuni, der Respektlosen.“ Ja, Sholo Mwamba sah sich mal selbst so. Tatsächlich haftet dem Genre immer noch ein zweifelhafter Ruch an: Das liegt an seinen Ursprüngen in Slum-Bars, die mit Insektiziden gepanschten Alkohol verkaufen, den oft aus dem kleinkriminellen Milieu stammenden Tänzern, den illegalen Straßenpartys, die regelmäßig von der Polizei aufgelöst wurden.

Doch noch bevor Fernsehsender und Radiostationen den Singeli aufgriffen, gewann er die Volksabstimmung mit den Füßen: Samstagnacht kann kein HipHop-DJ, keine glitzy Strandparty mit dem Singeli konkurrieren. Inzwischen ist dessen Popvariante längst über die Gettos hinausgewachsen. Sholo Mwambas Videos haben inzwischen Abermillionen Klicks gesammelt. „Selbst die Präsidentin hat öffentlich zu unserer Musik getanzt.“ Der schmale Mann rückt seine Sonnenbrille zurecht und reckt die Faust: „Wir sind respektiert.“

Für sein Konzert im Rahmen der vom deutsch-afrikanischen Nonprofit-Netzwerk „Music in Africa“ initiierten Musikmesse ACCES aber hat er zusätzlich zum DJ eine richtige Band mitgebracht: drei Trommler, zwei Gitarristen und einen Trompeter, Musiker, denen man ansieht, dass sie ihre Zeit nicht im Umfeld klimatisierter Studios verbracht haben. Eines aber verstehen sie meisterhaft: ihre Instrumente als rhythmische Waffen einzusetzen, auf der Bühne eine ganz und gar körperliche Euphorie zu entfachen, die in Wellen auf das Publikum überschwappt. Ein einziger schwitziger, sexy beschleunigter Schleudergang.

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Sholo Mwamba stolziert, ganz Märchenkönig, mit Plastikkrone, Hauer-bestückten Schulterschonern und Leoparden-Umhang über die Bühne. Auch seine Tänzerinnen scheinen dem Black-Panther-Filmset von „Wakanda Forever“ entstiegen. „Wir bleiben nie beim Alten“, hatte Sholo Mwamba erklärt: „Singeli verändert sich ständig.“

Jetzt feuert er Chants auf Stakkato-Suaheli ab. Zu schnell selbst für manche Landsleute. Ein Refrain aber bleibt hängen. Über „Ghetto la Bibi“, das Getto, wo seine Großmutter einst über den kleinen Sholo wachte: „Wie wäre es, wenn du endlich schlafen gehst/ Ihre Pfeile können uns nichts anhaben.“

Sholo Mwamba tritt am 25. Mai 2023 bei den African Music Days in München auf.

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