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Medien Nachruf auf Peter Lilienthal

„Unterwegs bleiben“, das war seine Lehre aus dem Holocaust

Filmredakteur
Peter Lilienthal im Jahr 2011 Peter Lilienthal im Jahr 2011
Peter Lilienthal im Jahr 2011
Quelle: picture alliance/BREUEL-BILD/Karin Mohren
Peter Lilienthal gehört in die Reihe großer Regisseure aus Deutschland. Mit Wim Wenders und Hark Bohm gründete er den „Filmverlag der Autoren“. Aus der Geschichte – die Lilienthals flohen 1939 nach Uruguay – zog er den Schluss, jede Art von Zugehörigkeit zu einer Nation abzulehnen. Ein Nachruf.

Derjenige, der den Kameramann Michael Ballhaus bei dessen ersten festen Job Ende der Fünfzigerjahre beim SWF in Baden-Baden unter seine Fittiche nahm, war der Hausregisseur des Senders, ein Mann namens Peter Lilienthal. Man muss das heute so sagen, denn der Nachruhm hat sich äußerst ungerecht verteilt: Ballhaus, der berühmte Kameramann von Fassbinder und Scorsese - doch wer war Peter Lilienthal?

In Ballhaus‘ Autobiografie kommt er ausführlich vor. „Lilienthal hatte einen ganz anderen Stil als die Leute, die ich sonst so bei der Arbeit kennenlernte“, schreibt Ballhaus. „Er war ein paar Jahre älter als ich, und er hatte sehr viel mehr erlebt. Als die Familie, weil sie jüdisch war, fliehen musste, versteckte seine Mutter ihren Schmuck in einem Wäschebeutel; da die Lilienthals eine wohlhabende Familie waren, handelte es sich um Brillanten. Die Kontrolleurin entdeckte sie bei der Ausreise nicht. Sie nahmen ein Schiff nach Uruguay, und in Montevideo eröffnete die Mutter, dank des Schmucks, ein kleines Hotel.“ In dem der kleine Peter nie ein eigenes Zimmer hatte, sondern stets in jenem wohnte, das gerade frei war.

Als Mittzwanziger kehrte Lilienthal nach Europa zurück, studierte in Paris (wo er meistens in der Cinemathèque zu finden war) und in Berlin an der Hochschule der bildenden Künste, und die erste Hälfte der Sechziger verbrachte er beim Südwestfunk in Baden-Baden, damals fast eine ex-territoriale, quotenfreie Oase, wo er das Regiehandwerk lernte (und Ballhaus traf, der sechs seiner Filme fotografierte).

1971 gründete Peter Lilienthal – ein Nachkomme des Flugpioniers Otto Lilienthal - mit Wim Wenders, Hark Bohm und zehn anderen Regisseuren den „Filmverlag der Autoren“. Der Vertrag, den sie im dritten Jahr der sozialliberalen Koalition unterschrieben, setzte der Alt-Branche ein Anti-Modell entgegen; nicht mehr der einzelne Privatunternehmer sollte Filme produzieren, sondern die Gesamtheit der Verlagsmitglieder würde „Unternehmer“.

Jedes Mitglied - ob Regisseur, Autor, Kameramann oder Komponist ­- besaß zwar Anspruch auf Autorentantiemen, verpflichtete sich aber, jene 45 Prozent vom Gewinn, die es erhalten würde, in neue Filme zu investieren. Weitere 45 Prozent des Gewinns würden vom Verlag kassiert und - per Mehrheitsentscheidung der Delegierten - anderen Autoren für ihre Projekte zur Verfügung gestellt.

Gegenpol zu Volker Schlöndorff

Es war das Äquivalent der Studentenrebellion gegen ihre Väter im Kinobereich. Doch war Lilienthal im Filmverlag eigentlich ein Fremdkörper. Er hatte keinen Grund, gegen seinen Vater zu rebellieren. Im Gegenteil, der hatte 1939 die Villa im Berliner Grunewald aufgelöst und war mit der Familie noch rechtzeitig geflohen. So wurde Peter Lilienthal von allen Zugehörigen des „Neuen Deutschen Films“ der am wenigsten hier Beheimatete, der Gegenpol zu Volker Schlöndorff, der inzwischen sein „Deutschsein“ in allen Schattierungen akzeptiert.

Aber als der „Jungfilmer“ Lilienthal mit 40 ins Kino wechselte, drehte er in London mit einem Franko-Amerikaner (Eddie Constantine), und sein Held war ein italienischer Anarchist im Exil: „Malatesta“. Und in den Siebzigern, als in Deutschland mehr Demokratie gewagt und diese Demokratie mit Bomben attackiert wurde, war Lilienthal in seinen Filmen weit weg. „La Victoria“ schilderte Chile kurz vor dem Pinochet-Putsch (welcher Lilienthals Hauptdarstellerin Paula Moya das Leben kostete).

In Portugal entstand „Es herrscht Ruhe in Land“ über die Unterdrückung der Bevölkerung in einem vom Militär regierten Land - kaum verhüllt: Chile. Und „Der Aufstand“ zeichnete den Sandinisten-Aufstand gegen den Diktator Somoza nach. Ja, diese Filme spielten weit weg, aber es gab auch eine „Heimatfront“, wo sich die richtige Regierung für das falsche Regime engagierte und umgekehrt: Franz-Josef Strauß hofierte Pinochet, und Erich Honecker bot den Pinochet-Verfolgten Asyl.

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Lilienthals „Helden“ stammen aus dem ärmeren Mittelstand, wollen ein ruhiges Leben. Doch die Zeiten lassen sie nicht. In „David“ (Goldener Bär-Gewinner 1979) sucht die 18-jährige Titelfigur nach der Pogromnacht verzweifelt einen Weg, um aus Deutschland zu fliehen. In „Dear Mr. Wonderful“ wird ein Barbesitzer in New York von Immobilienspekulanten um sein Lebenswerk gebracht. Und Lilienthals letzter Film „Camilo - Der lange Weg zum Ungehorsam“ dokumentiert das Leben des ersten Irakkrieg-Deserteurs der US Army.

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1995 drehte Edgar Reitz „Die Nacht der Regisseure“, in der er zum 100. Geburtstag des Kinos die Geschichte des deutschen Films erzählte. Er führte viele Einzelinterviews, darunter mit Kluge, Herzog, Wenders, Schlöndorff und selbstverständlich auch mit Lilienthal. Da er natürlich nie alle an einem Ort zusammenbekam, montierte er sie digital zusammen – und erntete einen enormen Eklat. „Peter Lilienthal“, erinnert sich Reitz in seinen Memoiren, „der es in der analogen Welt abgelehnt hätte, im selben Raum wie Riefenstahl aufzutreten, empfand die zufällige Nähe zur Nazi-Regisseurin auch im virtuellen Raum als unerträglich.“

Lilienthals Großvater, den der neunjährige Peter am Abschiedsmorgen im Grunewald das letzte Mal sah, trug die Vornamen Siegfried Israel, Ausdruck des jüdischen Versuchs der Assimilation in Wilhelms Reich. Sein Enkel zog daraus die Lehre: „Keine falsche Assimilation, unterwegs bleiben, jede Art von Zugehörigkeit zu einer Nation ablehnen, eher fliehen als angreifen.“ Lilienthal lebte seit vielen Jahren in München und fühlte sich dort wohl. Aber nicht beheimatet. Nun ist er 95-jährig dort gestorben.

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