Seit ich meine Mittagspausen auf dem Campusgelände verbringe, fühle ich mich manchmal wieder wie eine Studentin. Das Platznehmen auf einer der wenige Schritte von meiner Wohnung entfernten Sonnenbänke, umgeben von jungen Frauen in abgeschnittenen Schlaghosen und Schnauzbart-Boys, versetzt mich gleich in die Zeit der Handapparate und ECTS-Punkte zurück. Manchmal werde ich im Copyshop sogar nach meinem Studentenausweis gefragt.
Dass mir das nicht schmeichelt, wäre gelogen. Lange genug wurde ich von den Medien und meiner Mutter auf den Tag vorbereitet, an dem ich mich über eine derartige Schätzung nach unten freuen würde. Dabei ging es die komplette Jugend hindurch doch immer nur darum, den Lauf der Zeit zu beschleunigen und sein körperliches mit dem gefühlten Alter in Einklang zu bringen.
Endlich vierzehn sein (alt genug für Dr. Sommer), endlich sechzehn (für Bier und Bacardi Breezer), und mit achtzehn würde ich die Weltherrschaft an mich reißen. In den Zwanzigern war es irgendwie egal, wie alt man war, wobei ich siebenundzwanzig als das Sterbejahr von Kurt Cobain, Amy Winehouse etc. noch mal auf eine heroin-chic-verdrehte Art glamourös fand.
Mit Anfang dreißig freute ich mich dann zum ersten Mal, wenn mich jemand für Ende zwanzig hielt. Geht es von nun an nur noch bergab?
Körperfett, BMI und Eiweißanteil
„Man ist so jung, wie man sich fühlt“, was für ein abgegriffener und doch immer noch gültiger Satz. Studien legen nahe, dass das subjektive Alter einen enormen Einfluss auf die physische Gesundheit hat. Menschen, die sich jünger fühlen, sind nicht nur offener für neue Erfahrungen, sondern auch besser geschützt gegen Depressionen und sogar frühzeitigen Tod.
Interessant auch jene Versuchsanordnung, die zeigt, dass der Glauben an ein geringeres biologisches Alter leistungsfähiger macht. Nachdem einer Gruppe gesagt wurde, sie performten in einer Handübung besser, als ihr Alter es vermuten ließe, war sie anschließend tatsächlich besser als die entsprechende Kontrollgruppe. Dazu fällt mir meine futuristische Digitalwaage ein, die neben Körperfett, BMI und Eiweißanteil auch das biologische Alter angibt. Zugegeben: Neunundzwanzig fühlt sich schon ziemlich geil an.
Falls das nicht die Körperfettwaage übernimmt: Was kann man tun, um sein gefühltes Alter nach unten zu korrigieren? Vorbild könnten die Silver Surfer sein, das ist der zeitgemäße Begriff für die ehemaligen rüstigen Senioren, deren physische Grundkondition ein Leben fast ohne Einschränkungen erlaubt, Golfen an der Algarve, Bellini auf der Düsseldorfer Kö, jedenfalls sofern das sogenannte Kleingeld vorhanden ist.
Aufdrehen nach der Menopause
Wortwörtlich surfen manche dieser auch Golden Ager Genannten auf Longboards durchs Münchner Glockenbachviertel. Nicht alle haben übrigens graue Haare, im Gegensatz zu jenen Millennials oder Angehörigen der Gen Z, die sie sich freiwillig grau färben. Die US-Autorin Tavi Gevinson beispielsweise wurde mit diesem Granny-Look überhaupt erst bekannt (heute ist sie blond und sieht aus wie die junge Scarlett Johansson).
Kürzlich tauchte bei TikTok der Coastal-Grandmother-Look auf, die Sehnsucht junger Frauen nach jenem selbstgenügsamen Strickjackendasein, das einen kurz nach der Menopause ereilt, wenn Männer endlich nur noch maximal eine Nebenrolle spielen und frau sich stattdessen dem Gesamtwerk Emily Dickinsons widmen kann. Das passende Outfit besteht aus weißen Leinenhosen, Grobstrickpullover und Basttasche. Merke: Nicht alle packt die Sehnsucht nach ewiger Jugend.
Gesund scheint es aber allemal zu sein. Was ebenfalls jung hält, ist die passende Gesellschaft. Ich kenne eine wunderbare ältere Dame, die auf den Anti-Aging-Effekt von Freundschaften mit deutlich jüngeren Personen schwört, ich bin eine davon. Noch effektiver sind wohl Liebesbeziehungen. Der dänische Film „Königin“ beispielsweise kreist um eine Fifty-Something-Protagonistin, die sich auf der Waschmaschine oral von ihrem sechzehnjährigen Stiefsohn befriedigen lässt und anschließend beim Erwachsenenaperitif aufdreht.
Warum sich viele, vor allem Männer, in der sogenannten Midlife-Crisis mit Frauen trösten, die ihre Töchter sein könnten, liegt auf der Hand: um der Angst vor der eigenen Sterblichkeit davonzulaufen beziehungsweise in einem Sportwagen davonzufahren, falls es das Budget erlaubt.
Vertrauen auf die biologische Uhr
Manchen reicht das nicht. 2018 zog der niederländische Motivationstrainer Emile Ratelband vor Gericht mit der Forderung, sein im Pass angegebenes Geburtsjahr seinem Lebensgefühl anpassen zu dürfen, weil das seine Erfolgschancen auf Tinder erhöhe. Er, damals 69 Jahre alt, fühle sich nun mal wie 49, und wenn Geschlecht nur eine soziale Konstruktion sei, warum nicht auch das Alter? Der Klage wurde nicht stattgegeben.
Überraschenderweise legen Forschungen nahe, dass ein fortschreitendes Alter keineswegs mit sinkender Zufriedenheit einhergeht, im Gegenteil. Vom „Zufriedenheitsparadox“ spricht der Glücksforscher Tobias Esch: Körperlichen Beschwerden zum Trotz seien ältere Menschen in der Regel glücklicher und zufriedener als Erwachsene in ihren mittleren Lebensjahren. „Der wichtigste Treiber dafür ist erstaunlicherweise das Älterwerden selbst.“
Demzufolge könnte man sich im Vertrauen auf die biologische Uhr die ganze Longboardsurferei sparen und stattdessen friedlich mit dem Golfcaddy in Richtung Lebensendeabendröte tuckern. Und mal ehrlich, wer will schon noch mal fünfzehn sein? Ich nicht, auch nicht fünfundzwanzig.
Daran denke ich oft, als Mimikry-Twenty auf dem Campus sitzend: wie sehr meine Unizeit geprägt war von Geldproblemen, Zukunftssorgen, nicht eingehaltenen WG-Putzplänen und Instant-Kaffee vom Discounter. Und wie viel besser ich es jetzt habe, als mit mir selbst gut auskommende Lohnerwerbstätige, mit einem richtig guten Hafercappuccino in der Hand.