„Wer etwas von einem Menschen erzählen und verstehen will, muss hundert Jahre erzählen“, heißt es in „Die Verwandelten“, dem neuen Roman von Ulrike Draesner, der es auf die Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse geschafft hat. Die auf 600 Seiten aufgefächerte Zeitspanne umfasst sogar ein wenig mehr als ein Jahrhundert. Erzählt wird von 1900 bis in die Gegenwart. Dabei legt Draesner den Fokus auf weibliche Erfahrungswelten. Es geht um deutsch-polnische Mutter-Tochter-Verbindungen und anderweitige komplizierte Verwandtschaftsverhältnisse. Um Erziehung, Gene und Rassenwahn, um Frauenschicksale vor, während und nach Ende des Dritten Reichs. Um Flucht, Gewalt und um Traumata, die von einer Generation auf die nächste übergingen.
Unter dem halben Dutzend Heldinnen, die lange Beschwiegenes und Tabubelegtes zur Sprache bringen, sticht eine als Verwandlungskünstlerin besonders hervor: Renate Valerius, 1928 in Breslau als Tochter einer bildungsbürgerlichen deutschen Familie geboren. Nach 1945 wurde aus Breslau das polnische Wrocław und aus „Reni“ die Polin Walla, deren eigentliche Herkunft bald noch nicht mal mehr ein Akzent verriet. Was genau während dieser Transformation passiert ist, hat Draesner vor Beginn ihres ziegelsteindicken Buchs angedeutet. So ist den „Verwandelten“ ein Zitat aus Ovids „Metamorphosen“ vorangestellt. Es geht darin um Philomela, der nach einer Vergewaltigung vom Täter die Zunge herausgeschnitten wurde, damit sie ihn nicht verraten kann.
Walla/Reni hat Ovids Metamorphosen ganz gelesen und darin insgesamt 50 Vergewaltigungsszenen gezählt. Sie selbst hat kurz vor ihrem Identitätswechsel vermutlich mehr durchleben müssen. Draesner gelingt es, das bestialische Geschehen klar zu benennen, ohne ihre Figur dem Voyeurismus preiszugeben. Das liegt an ihrem großen sprachlichen und dramaturgischen Ideenreichtum und unbedingten Formbewusstsein. Dass hier nicht zuletzt auch eine mit Auszeichnungen bedachte Lyrikerin schreibt, wird auf jeder Seite klar. Im Grunde wäre es auch nicht weiter erwähnenswert, dass diese Kunstfertigkeit manchmal ein klein wenig zu überbordend und selbstbezüglich ist.
Waren Frauen immer Opfer?
Doch die eigentliche Frage, mit der Draesner einen ratlos zurücklässt, ist eine andere: Ist es wirklich eine so gute Idee, die Kategorie „Frau“ nun ausgerechnet vor diesem historischen Hintergrund mit der Kategorie „Opfer“ zusammenfließen zu lassen? So befindet sich in dieser weiblichen Schicksalsgemeinschaft auch Gerda – die älteste der Protagonistinnen, um die vorletzte Jahrhundertwende geboren. Auch sie weist sämtliche Symptome des unterdrückten, an sich selbst, dem Zeitgeist und der Männerwelt leidenden Frauseins auf. Ihren vergötterten Gatten versucht sie durch Sexpraktiken, die ihr selbst keinerlei Vergnügen bereiten, an sich zu ketten.
„Wir, die Frauen von 1900, wurden in jedem der deutschen Reiche benutzt wie Teig“, so ihre Klage, „durch die Kriege hindurch: geknetet, geknechtet, gebraucht.“ Nur hatte Gerda dabei keinerlei Hemmungen, sich ihren jeweiligen Unterdrückern bedingungslos anzudienen. Sie wurde zur „Hitlerette“ und gab als Nazi-Pädagogin à la Johanna Haarer Kurse für Schwangere und junge Mütter.
Gerdas eigenen und dringlichen Kinderwunsch lässt Draesner in einer persönlichen Tragödie enden. Es bleibt ihr nur noch die Adoption eines vermeintlich „arischen“ Mädchens aus einer Lebensborn-Anstalt. In ihrem zynisch-mitleidheischenden Tonfall wirkt die Gerda-Unfigur, die als Gespenst zu Wort kommt, nahezu grotesk, eigentlich extrem amüsant. Vielleicht will die Schriftstellerin Draesner hier den inneren Kompass ihrer Leserschaft testen, ob er nicht einfach blind in Richtung Empathie bei allem ausschlägt, insofern es sich als „weibliche Perspektive“ etikettieren lässt? Oder handelt es sich doch um humorig getarnten Geschlechter-Essenzialismus, der in Revanchismus zu kippen droht? Das muss jeder für sich selbst entscheiden.
Ulrike Draesner: Die Verwandelten. Penguin, 608 Seiten, 26 Euro