Will man wissen, wie es um das zeitgenössische Theater steht, muss man nur auf die Münchner Kammerspiele schauen. Es ist nicht lange her, da wütete dort noch Matthias Lilienthal gegen die „Kunstkacke“, ein großartiges Schauspielerensemble ergriff die Flucht vor den anrückenden Performern. Als nach fünf Jahren für Lilienthal Schluss war, folgte mit Barbara Mundel zwar eine im Ton weniger großsprecherische Intendantin, die jedoch zuvor in Freiburg bewiesen hatte, dass sie ganz auf Lilienthals Linie ist: Wer braucht noch Schauspielkunst? Heute macht man Projekte, Recherchen oder Interventionen.
Was einst als Regietheater verschrien war, nämlich den Bezug zur Sache durch den Selbstbezug zu ersetzen, hat sich inzwischen weiter entsinnlicht. Heute ist der letzte Schrei das Dramaturgentheater: Diskurse tummeln sich auf der Bühne, verschiedene Communitys werden kräftig empowert, nichts läuft ohne klar definiertes gesellschaftspolitisches Anliegen. Dramaturgentheater ist, wenn selbst dramatische Stoffe am Ende wie ein Wochenendseminar der Heinrich-Böll-Stiftung rüberkommen. Glücklich die Zeiten, als es verpönt war, Theater wie einen Messenger-Dienst zu betreiben, das vor allem Botschaften verbreitet.
Es ist kein Zufall, dass – wie auch Lilienthal – Barbara Mundel als Dramaturgin gearbeitet hat, bevor sie Theater leitete. Sie sind die Vorreiter einer Entwicklung, die mit den Schlagworten Projektifizierung, Performeritis und Biennalisierung einhergeht. Wie im großen Kunstbetrieb setzt sie auf kaum verschlüsselte Wertbekenntnisse, der Umweg übers Kunstwerk wird gespart. Fahnenworte wie Inklusion und Diversität markieren vor allem den eigenen Geltungsanspruch, die Rede von der Veränderung bleibt so abstrakt wie die vom „Change“ im Managementseminar. In rasender Geschwindigkeit hat das Dramaturgentheater das erreicht, was es dem Klassikersprechtheater immer vorgeworfen hat: eine Bühne, auf der es weder Menschen noch Gesellschaft zu sehen gibt, sondern nur erstarrte Thesenträger.
Nur, wer will das sehen? Kürzlich musste Mundel vor dem Kulturausschuss katastrophale Auslastungszahlen von um die 55 Prozent erklären. Bereits Monate im Voraus ausverkauft ist mit „A scheene Leich“ von Gerhard Polt nur jener Abend, der am wenigsten typisch für Mundels Programm ist – und der wohl überall in Bayern ausverkauft wäre. Die Titel im Programm lesen sich sonst eher als Einladung an die englischsprachige „global class“, beispielhaft genannt sei das Festival „Female Peace Palace“ mit „Assembly“, „Anti War Woman“, „Green Corridors“ oder „Intimacy Quarterly Playground“. Dass die Ibsen-Überschreibung „Nora“ zum Theatertreffen eingeladen wurde, sorgte beim Münchner Publikum eher für ungläubiges Erstaunen.
Beispielhaft für die Kammerspiele ist die Diskussion über die „Antigone“-Aufführung in leichter Sprache. Fünf bis acht Wörter pro Satz, keine Fremdwörter, aber eben auch kein Hölderlin oder Sophokles. Selbst der Internetauftritt der Kammerspiele ist nun in leichter Sprache. Ein Meilenstein der Inklusion? Keine Frage, eine Stadt wie München verträgt auch solch eine ungewöhnliche Aufführung, zudem auf der anderen Straßenseite im Residenztheater eine ganz andere „Antigone“ zu sehen ist. Doch sind die Kammerspiele eines der bekanntesten Theater des Landes, inklusive Theater gibt es in München und anderswo bereits. So schrumpft das Engagement zur symbolpolitischen Ersatzhandlung.
Münchner „Kummerspiele“
Werden die Kammerspiele wieder zu den „Kummerspielen“, wie bereits bei Lilienthal gespottet wurde? In der Maximilianstraße spricht man von einem Kommunikationsproblem, der Stadtrat folgt dieser Darstellung – unter Auflagen. Künftig soll ein regelmäßig tagender „Kammer-Rat“ für einen besseren Austausch zwischen Stadtpolitik und Theater sorgen. Das verprellte Publikum findet bei dieser ungewöhnlichen kulturpolitischen Maßnahme allerdings keine Berücksichtigung. Immerhin muss Mundel nicht wie Lilienthal wegen ihres Vertrages zittern, der wurde bereits vorzeitig – auch das ungewöhnlich – bis 2028 verlängert. Es wirkt, als sollte der Kurs beibehalten werden.
Wie zuvor in Zürich oder Dortmund zeigt sich auch bei der Debatte in München, dass der Kunstbegriff durch das Dramaturgentheater nicht mehr erweitert, sondern verengt wird. Wer mit Bekenntnissen nach Zustimmung heischt, bringt weder Gefühl noch Verstand ins Spiel. Wer alles ins Schema der Identitäten presst, stellt das ideologisierte Bewusstsein weder durch Fantasie noch Poesie auf die Probe. Wer von Statements lebt, braucht keine Schauspielkunst. Das beschränkt sich nicht auf die Münchner Kammerspiele, nur sieht man es dort wieder einmal sehr deutlich.