WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Kultur
  3. Film
  4. Cannes-Gewinner: „Wir brauchen mehr Babyklappen in Japan“

Film Cannes-Gewinner

„Wir brauchen mehr Babyklappen in Japan“

Filmredakteur
Szene aus "Broker" Szene aus "Broker"
Szene aus „Broker“
Quelle: PLAION PICTURES
Der japanische Filmregisseur Hirokazu Kore-eda ist Spezialist für ungewöhnliche Familien-Modelle. Mit „Broker“ hat er im vergangenen Jahr in Cannes die Goldene Palme gewonnen. Ein Gespräch über Blutsbanden, Zufallsfamilien und was der Staat für die Anerkennung nicht-traditioneller Familien tun kann.

Lange hat das japanische Kino von dem Ruhm seiner Heroen gezehrt. Die folgenden Generationen hatten es schwer, aus den Schatten von Kurosawa, Ozu und Miyazaki zu treten. Geschafft hat es Hirokazu Kore-eda, spätestens seit seiner Goldenen Palme für „Familienbande“.

Kore-edas Lieblingsthema sind Familien jenseits der Norm: „Nobody Knows“ handelt von vier Kindern, die von ihrer Mutter verlassen werden, in „Unsere kleine Schwester“ entdecken drei Geschwister, dass sie noch eine Halbschwester haben, und in „Familienbande“ kommt nach und nach heraus, dass die Mitglieder einer Patchworkfamilie gar nicht verwandt sind.

In seinem neuen Film „Broker“ treibt Kore-eda das auf die Spitze: Ein Kleinkind wird in Korea in einer Babyklappe deponiert, entführt, und bald erheben mehrere Parteien Anspruch auf das Kind. Ein Gespräch mit Japans wichtigstem Filmemacher über den hochkonservativen Familienbegriff in seiner Heimat, das schwierige Verhältnis zwischen Korea und seiner früheren Kolonialmacht Japan – und wie man einen Film dreht, wenn man kein Wort von dem versteht, was die Schauspieler sagen.

Lesen Sie auch

WELT: Japanische und koreanische Filme, beide sind auf ihre Art weltberühmt. Aber es scheint – abgesehen von Ihrem „Broker“ – so gut wie keine Koproduktionen zu geben.

Hirokazu Kore-eda: Das ist richtig. Man muss leider sagen: Es gibt da eine Mauer, die nicht leicht zu übersteigen ist. Zunächst ein formales Hindernis: Bei internationalen Koproduktionen muss man zusichern, sich an gewisse Rechtestandards halten zu wollen. Japan hat aber die Verträge zu diesen Standards nie ratifiziert. Und dann ist da natürlich die japanisch-koreanische Geschichte, die lange von Spannungen geprägt war. Es gibt auch Beispiele gelungener Zusammenarbeit, wie die gemeinsam ausgetragene Fußball-Weltmeisterschaft vor zwanzig Jahren. Danach ist allerdings die Begeisterung wieder erheblich abgeflaut, erneut aus politischen Gründen. Was die Kultur angeht, haben Korea und Japan sich aber immer gegenseitig beeinflusst.

Lesen Sie auch

WELT: Darf ich noch eine Erklärung vorschlagen? Japanische Filme sind im Westen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts populär, seit Kurosawa. Der koreanische Film fand erst 50 Jahre später im Westen Anerkennung. Ist dieses Ungleichgewicht auch Teil des Problems?

Kore-eda: Es mag sein, dass es in Südkorea eine Art Minderwertigkeitskomplex gab, aber das hat sich mit dem Sieg der Demokratie dort in den 1990ern gründlich geändert. Das koreanische Kino hat viel dazugelernt: über die Wichtigkeit, seine Industrie zu schützen von Frankreich, über die Drehorganisation von Amerika, auch einiges von Japan. Die Filmindustrie in Japan befand sich, auch dank der Erfolge von Kurosawa, Ozu oder Mizoguchi, in einer sehr komfortablen Lage. Das hatte aber in den vergangenen zwanzig Jahren die Folge, dass japanische Filme sehr insular geworden sind, sich sehr mit dem eigenen Land beschäftigen. Man konnte das auch bei internationalen Festivals beobachten, wo immer die gleiche Handvoll japanischer Regisseure eingeladen wurde. Das ist aber gerade dabei, sich zu ändern. Es gibt neue japanische Namen. Im Gegensatz dazu hat das koreanische Kino seit der Jahrhundertwende die Welt erobert. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, dass Japan etwas von der koreanischen Filmindustrie lernt.

WELT: Koreanisch und Japanisch sind sehr unterschiedliche Sprachen, nicht einander verwandt wie Italienisch und Spanisch. Wie haben Sie sich mit Ihren koreanischen Schauspielern verständigt?

Kore-eda: Ich habe mir einfach angesehen, wie die ihre Rolle gespielt haben. Das, was ich sah, hat mir viel über die Gefühle gesagt, die sie hineingelegt haben, über den Rhythmus, das Tempo. Ich habe also alles verstanden – abgesehen von ihren Worten. Ich bin mit dem Selbstvertrauen nach Korea gegangen, dass ich alle nonverbalen Aspekte begreifen würde. Außerdem ist mein Hauptdarsteller Song Kang-ho nach jeder Szene zu mir gekommen und hat mir in jeder Nuance erklärt, was sich gerade vor der Kamera abgespielt hat.

Anzeige

WELT: Ihr Film handelt von Babyklappen. Ich habe gelesen, dass es die in Japan kaum geben soll.

Kore-eda: Es gibt exakt eine, in Kumamoto.

Lesen Sie auch
Regisseur Bong Joon Ho. © Koch Films
Oscar-Gewinner Bong Joon-ho

WELT: In Südkorea sind sie recht verbreitet.

Kore-eda: Einer der Gründe dürfte sein, dass sie dort von Kirchen betreut werden, von christlichen Kirchen. Die suchen für die Babys dann Eltern und geben sie in der Regel an Mitglieder ihrer Kirche weiter, also Christen. Nun gibt es nicht viele Christen in Japan. Die einzige Babyklappe wird von einem Krankenhaus betrieben, und dieses wiederum ist ein christliches Hospital. Ich vermute stark, dass es eine Verbindung von Babyklappen und Glauben gibt. Meiner Meinung nach brauchen wir mehr Babyklappen in Japan.

WELT: Im Westen sehen wir, dass neben der Vater/Mutter/Kind-Familie alle möglichen neuen Arten von „Familie“ entstehen. Auch Sie erzählen von neuen Familien, aber von „zufälligen“, wie ich das nennen würde.

Kore-eda: Sagen wir es so: Meine Familien gehen über das Blutsverwandtschaftliche hinaus, Menschen bilden eine Gemeinschaft, die keine biologische Verbindung besitzen. Solche Beziehungen – zum Beispiel von Homosexuellen – werden in Japan nicht anerkannt, sie sind die Zielscheiben von Vorurteilen. Heiraten dieser Art können offiziell nicht eingetragen werden. Ich hoffe, dass sich das im Lauf der Zeit ändern wird, und deshalb drehe ich Filme über „Familien“ anderer Art.

Auf der Suche nach der Identität – Szene aus "Broker"
Auf der Suche nach der Identität – Szene aus "Broker"
Quelle: PLAION PICTURES

WELT: Was sollte Ihrer Meinung nach der Staat tun, um diese neue Art von Familien anzuerkennen?

Anzeige

Kore-eda: Die Antwort fällt mir nicht schwer, und sie gilt für jede Art der nicht-traditionellen Familie, nicht nur für homosexuelle oder lesbische: Es geht um gleiche Rechte für alle, und gleiche Rechte bedeutet auch soziale Absicherung. Nehmen Sie den Film „Love Life“ meines Kollegen Kōji Fukada, der voriges Jahr in Venedig lief. Darin sagt die Großmutter zu ihrer Schwiegertochter, die ein Baby in die Ehe mitgebracht hat: „Lass mich das nächste Mal unsere eigenen Kinder umarmen.“ Sie ist keine böse Person, aber sie betrachtet dieses Kind als nicht zu ihrer Familie gehörend, weil es keine Blutsbande besitzt. Auch in einem meiner Filme sagt eine Großmutter etwas Ähnliches. Diese Sicht der Dinge ist in Japan noch weitverbreitet. Sie muss an die neuen Zeiten angepasst werden. Aber das dauert.

WELT: Ist diese Diskussion bereits im Gang oder eilen Sie mit Ihren Filmen der öffentlichen Meinung noch weit voraus?

Kore-eda: Ich versuche, das Thema mit eher leichter Hand anzugehen, nicht bierernst. Für mich geht es immer darum, das Leben an sich zu feiern.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema

Themen