Die Geschichte der letzten großen Bankenkräche ist eine der Verantwortungsverflüchtigung. Weder bei Lehman Brothers noch bei der Silicon Valley Bank noch bei der Credit Suisse gibt es Schuldige, für die das Desaster mit Schande, Schuldgefängnis und sozialem oder gar tatsächlichem Tod endete, so wie es den Verursachern solcher Pleiten in Bank-Romanen früher drohte. In den Analysen ist immer nur die Rede von vielen anonymen „Bankern“, die zu gierig waren und Fehler gemacht haben.
Die Bank, die einen Familiennamen trägt, an dessen Namensträger die Schmach hängenbliebt, ist ein Auslaufmodell. Im 19. Jahrhundert war sie der Normalfall. Und von einem solchen Unternehmen handelt auch das Urbild aller Bank-Erzählungen, das nicht ganz zufällig – so wie das Urbild aller Kaufhaus-Romane, Zolas „Das Paradies der Damen“ – aus Frankreich stammt, wo derartige Geschäftsmodelle deutlich früher weit entwickelt waren als in Deutschland. Die Rede ist von „Das Bankhaus Nucingen“, einer kürzeren Geschichte Honoré de Balzacs von 1837, die zu seinen Szenen aus dem Pariser Leben im Romanzyklus „Die menschliche Komödie“ zählt.
Erzählt wird aus der Perspektive von vier Habitués, deren Konversation im Restaurant belauscht wird. Sie bestaunen den Aufstieg des Bankiers Baron Frédéric von Nucingen, der arm war, als er in Paris ankam. Mithilfe von Strohmännern, wie dem zwielichtigen Rastignac, den er benutzt, obwohl er der Geliebte von Nucingens Frau Delphine ist, schafft er es durch komplizierte Spekulationen, das zu werden, was man heute einen „Superreichen“ nennen würde. Denn ihm ist schon früh klar geworden, dass es im Kapitalismus ein flüchtiger und immer gefährdeter Zustand ist, nur ein bisschen reich zu sein.
Nucingens Geschäfte, bei denen er einmal auch den bevorstehenden Ruin seines Bankhauses vorspiegeln lässt, bewegen sich im Dunkelfeld zwischen tatsächlicher Illegalität und knallharten Geschäftspraktiken. Damit er reich wird, müssen andere arm werden oder zumindest sehr viel Geld verlieren.
Einige wenige, die schlau genug waren, Nucingens Machenschaften wenigstens ansatzweise zu begreifen, verdienten aber mit ihm: „Sie erkannten die großartige Inszenierung dieses Finanzcoups, erkannten, dass er seit elf Monaten vorbereitet gewesen, und feierten Nucingen als den größten Finanzmann Europas.“ Die realen Vorbilder für Nucingen waren Baron de Rothschild und Beer Léon Fould. Beide nutzten wie er die Chancen, die frühzeitig erfolgte Emanzipation den Juden in Frankreich bot.
Im Alter zeigt der eiskalte Baron Schwäche. Für eine Millionensumme versucht er, die Liebe einer Halbweltschönheit namens Esther zu kaufen. Diese begeht allerdings Selbstmord, um ihm zu entgehen. Es ist eine typische Balzac-Pointe, dass die verachtete, ebenfalls jüdische Prostituierte mehr Moral hat als der Reiche. Dass Moral überhaupt ein Wert ist, ist allerdings das aus heutiger Sicht Antiquierteste an dem Buch.