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Medien So wird der Kölner „Tatort“

Den Opfern des Kohleabbaus ein Gesicht geben

Redakteur Feuilleton
Konrad Baumann (Jörn Hentschel) steht an der Abbruchkante Konrad Baumann (Jörn Hentschel) steht an der Abbruchkante
Konrad Baumann (Jörn Hentschel) steht an der Abbruchkante
Quelle: WDR/Bavaria Fiction GmbH/Martin
Der neue Kölner „Tatort“ erzählt eine Geschichte von der „Abbruchkante“ eines Braunkohlegebiets. Früher wäre aus der Geschichte von Bützenich eine antikapitalistische Anklage geworden. Jetzt wird etwas ganz anderes daraus.

Es gibt ein ganz wunderbares Musikvideo, vielleicht ist es das wunderbarste Musikvideo überhaupt. Da tanzen alte Menschen miteinander, es rührt einen zu Tränen. Hinter ihnen, an der Wand, sieht man Bilder, sieht man die, die sie mal waren.

Schöne Paare. Sie sind immer noch schöne Paare. Manche tanzen allein, weil jene, mit denen sie mal tanzten, gegangen sind. Das macht das Leben halt mit Menschen. Das macht es so schön und so traurig. Und Leonard Cohen singt „Dance Me to the End of Love“ dazu.

Am Anfang von „Abbruchkante”, des neuen Kölner „Tatort“, tanzen Peter und Inge miteinander. Sie haben sich fein gemacht. Sie haben sich noch. Sie sind nicht mehr jung. Champagner haben sie getrunken. Sie tanzen zum Ende der Liebe, der Zeit. Ihrer Zeit.

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Dann legen sie sich aufs Bett wie Stefan Zweig und seine Frau damals im Urwald von Brasilien. Und dann schlafen sie ein. Zwei, die ihre Heimat verloren haben. Ihren Trauspruch haben sie noch mal aufgesagt. Da, wo du hingehst, will auch ich hingehen, da wo du stirbst, will auch ich sterben.

Es geht ja immer irgendwie ums Sterben im „Tatort“. In „Abbruchkante“ geht es ums Weiterleben. Ums Weiterleben von Gestorbenenen. Gestorbenen Menschen, gestorbenen Gemeinschaften. Der Peter war nämlich mal Ortsvorsteher in Bützenich. Das ist nicht weit weg von der Kölner Stadtgrenze weg. Bützenich gibt es nicht. Es ist die Quersumme von Garzweiler und Lützerath und einem Dutzend anderer Dörfer, die vom Braunkohleabbau ganz oder beinahe gefressen wurden.

Seit die Abbruchkante des Kohleabbaus bis an Ortsgrenze kam, gibt es Alt-Bützenich und Neu-Bützenich. Das verlassene Dorf und das neue Dorf, das der „Konzern“ (man muss ihn sich wohl als RWE denken) den Heimatvertriebenen von der Abbruchkante in die Gegend gestellt hat.

Den Opfern ein Gesicht geben

Das verlassene Dorf – gelebte, verlebte Architektur, alte Höfe, die Kirche, ein herrliches Backsteinding, steht trotzig mitten drin – wird allmählich von der Natur eingeholt. Und das neue Dorf – aseptische Architektur, gezirkelte Straßen, mustermannmäßige Häusern, die Kirche, ein pervertiertes Autobahnkapellending, steht mitten drin, in den zementierten Vorgärten des Grauens hat die Natur keine Chance. Tot sind sie beide. „Abbruchkante“ ist eigentlich ein Zombiefilm.

Eva und Volker A. Zahn, die das Drehbuch schrieben, und Torsten C. Fischer, der es inszenierte, geht es nicht um einen wohlfeilen Debattenbeitrag zum Thema Widerstand gegen den Braunkohleabbau. Das machen sie schnell klar. Es geht ihnen um eine Tiefensondierung jener Gegend, in der sich das alles abspielt, darum, den wirklichen Opfern der Zwangsumsiedlung ein Gesicht, eine Geschichte zu geben.

Die Madonna von Alt-Bützenich wird sichergestellt
Die Madonna von Alt-Bützenich wird sichergestellt
Quelle: WDR/Bavaria Fiction GmbH/Martin

Mit Volker und Inge machen sie das klar. Damit Menschen zu zeigen und ihre Namen einzublenden, die aber nicht die Namen der Schauspieler sind, sondern die jener Figuren, die da am Rand der gigantischen Wunde in der Landschaft mit den Wunden kämpfen, die der Kampf um ihre Heimat, um ihr Dorf, um ihr Miteinander in ihrem Innern geschlagen hat.

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Der obligatorische Tote, ohne den Freddy Schenk und Max Ballauf, der Kommissar, der immer stärker auf die Abbruchkante seiner (privaten) Existenz zu fährt, vermutlich niemals aus ihrem eigentlichen Großstadt-Biotop ins Land der baggernden Dinosaurier gefahren wären, liegt erschossen in seinem verlassenen Haus in Alt-Bützenich. Dr. Franzen hat er geheißen.

Er war der Dorfarzt von Bützenich. Ein netter Mensch war er nicht. Er hat die Häuser aufgekauft der Leute, die nicht an den Konzern verkaufen wollten. Als Alt-Bützenich dann aber doch nicht unter die Bagger kam und die alten Bützenicher zurückkehren wollten, hat er die Grundstücke nicht mehr zurückverkauft.

Es ist nicht allzu lange her, da wäre „Abbruchkante“ ein ganz anderer Film geworden. Da hätte man die Geschichte von Alt-Bützenich als antikapitalistische Horrorgeschichte erzählt. Mit einem Bösewicht aus irgendeiner Führungsetage, den man am Ende dingfest machen konnte, verantwortlich für das Desaster, das Menschen einander unter ökonomischem Druck antun.

Die Küsterin (Barbara Nüsse) und der Kommissar (Klaus J. Behrendt)
Die Küsterin (Barbara Nüsse) und der Kommissar (Klaus J. Behrendt)
Quelle: WDR/Bavaria Fiction GmbH/Martin

Eine Horrorgeschichte ist „Abbruchkante“ natürlich auch. Aber es ist etwas geworden, das ein Trend zu werden verspricht im „Tatort“, zu einem gewissermaßen postideologischen. Eine Milieustudie. Ein Fall von Traumafolgenforschung.

Die Kommissare kommen in das Dorf, wie Kommissare gern in Dörfer kommen. Und je länger sie bleiben – Freddy Schenks herrlicher alter, aber nicht sehr funktionstüchtiger Ford Caprice zwingt sie dazu – desto tiefer graben sie sich in die Geschichten der Gespenster, die mal eine Dorfgemeinschaft waren.

Der Vater, dessen Tochter beim Protest gegen die Baggerei ums Leben kam. Die Küsterin der Kirche, die jetzt die Dorfkneipe („Zum krummen Ochsen“) führt, in die keiner mehr kommt. Die schöne Witwe des Doktors, die im seelenlosen neuen Haus sich und das Sorgerecht für ihren Sohn an den Rotwein verloren hat.

Leonard Cohen "Dance me to the End of Love"

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Der Peter, dem die Inge versprochen hat, überall hin zu folgen, wo er hin geht, da zu sterben, wo er stirbt, und die jetzt tot ist, während der Peter, den die Sanitäter retten konnten, wie ein Geist im eigenen Leben herumläuft, zwischen zwei Häusern in zwei Dörfern, die beide nicht die seinen sein können.

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Gesichter sind wichtig in diesem Film. Bildgewordene Einsamkeiten. Drohnenflüge übers geschundene Land. Der Kommissar an der Wegscheide seines Lebens (schafft man mit Anfang Sechzig noch den Wechsel von Alt-Ballauf zu Neu-Ballauf).

Für Politik interessiert sich niemand in Bützenich. Und am Ende weiß man nicht, ob das wirklich eine gute Nachricht ist.

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