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Wenn Ihr Tag so beginnt, müssen Sie etwas ändern!

Die Gefahr am Morgen Die Gefahr am Morgen
Die Gefahr am Morgen
Quelle: Getty Images/Nes
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Bisher ging der erste Griff am Morgen zum Smartphone. Zunächst, um den Alarm auszuschalten, um dann durchs Internet zu scrollen. Jetzt habe ich das Handy aus dem Schlafzimmer verbannt und dafür ein Relikt aus meiner Kindheit wiederentdeckt.

Es kam der Moment, an dem ich einen regelrechten Ekel empfand vor der Anwesenheit meines Handys im Schlafzimmer. Jahrelang hatte es als Wecker auf meinem Nachttisch gelegen, dann auf dem Fußboden daneben, zuletzt möglichst weit weg, ladend neben der Tür – das Handy war mir mit der Zeit zum Zeichen geworden für all die Mangel und Fehler, die jede Nacht in meinem Schlafzimmer herrschten: Allem voran die Schlaflosigkeit, die mich in den Wahnsinn trieb, die Träume, die ausblieben, die Fantasielosigkeit, die ich ebenfalls auf den ersten Wischer am Morgen schob. Auf den Griff nach dem läutenden Telefon, und dem zwanghaft folgenden ersten Blick des Tages, der schon so lange nicht mehr aus dem Fenster und in die frühmorgendlich ziehenden Wolken am Himmel ging, sondern auf den aggressiv leuchtenden Bildschirm meines Taschencomputers und immerwährenden Weltvermittlers. Und in dieser Schlucht der Hyperrealität, die im Telefon auf mich wartete, verlor sich mein Ich sofort in den ersten Sekunden des noch jungen Tages. Ich hatte genug!

Aber würde ich die Kraft haben, das durchzuziehen?

Klar war: Allein war ich nicht. Sehr viele Menschen lassen sich heute von ihrem Smartphone wecken. So wie Fotoapparat, Festnetztelefon oder Landkarte hat es auch den Wecker überflüssig gemacht, denn es ist einfach praktisch, hat coole Wecksounds und ist ja sowieso da. Weil es immer da ist. Für meine Frau zum Beispiel funktioniert das ganz wunderbar. Sie daddelt vor dem Schlafengehen noch etwas auf dem Ding herum, schreibt mit Freunden, kontrolliert ihre Social-Media-Kanäle, bestellt allerlei Sachen, lacht sich kaputt über süße Videos, legt es weg und schläft sofort ein. Ich konnte es nicht, ich war anders. Die Welt, die im Handy auf mich wartete, empfand ich zunehmend als Angriff. Ich brauchte Schutz im Schlafraum, ich ging los und kaufte mir einen Wecker.

Gruß aus der Vergangenheit

So voller Hass auf digitale Elektronik konnte ich allerdings das Produkt, das ich eigentlich im Auge hatte – einen zeitgenössischen, modernen, die Jetztzeit in seinem Design und seinen Funktionen ausdrückenden Wecker – nicht kaufen. Ich hatte etwa an einen minimalistischen Radiowecker gedacht, der mich morgens durch eine Sendung des angenehm langsamen Deutschlandfunk wecken würde und womöglich mit ganz neuen, mir noch unbekannten Optionen zum Snoozen. Gehört hatte ich auch von einem Lichtwecker, der mit einer Kombination aus Ton und „Wake-up Lights“ ganz sanft den Sonnenaufgang nachahmt. Im Geschäft schaute ich sie alle an und allein das grelle Leuchten der Zahlen auf der Digitalanzeige machte mir schlechte Laune.

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Da sah ich einen kleinen, analogen schwarzen Wecker am Rande der Auslage und die Vergangenheit fiel tief in mich ein. Oder kam sie von ganz unten in meiner Seele hoch zu mir? Ich weiß es nicht genau, aber dieser Wecker stellte eine Verbindung zu meinem jüngeren Ich her. Ich kannte ihn. Für einen Großteil meiner Kindheit und Jugend hatte ich so einen besessen. Er hat mich hochgeklingelt, während ich am Tage und in der Nacht alle möglichen wesentlichen Menschenerfahrungen meines Lebens zum ersten Mal gemacht habe. Das Modell damals war weiß, dieser hier nun schwarz. Es gab ihn aber sogar in Rot und einem schönen, modernen Grau, das ich noch nie gesehen hatte. Ich entschied mich für das klassische Modell in Schwarz.

Aus dem Laden ging ich also mit einem Braun Reisewecker, stellte ihn zu Hause auf den Nachttisch und glotzte ihn verliebt an. Und ich muss es so sagen, und deswegen schreibe ich ja auch diesen Text, der weniger Text ist, als Liebeserklärung: Dieser Wecker veränderte alles.

Das Piepen beginnt sanft und naiv

Der Wecker ist sehr bekannt. 1987 von Dietrich Lubs für Braun entworfen, offensichtlich die Maßgabe des großen Braun-Designers Dieter Rams („Less is more“) einhaltend und damals auch als „Tischuhr“ angepriesen, hielt er Einzug in viele Wohnungen Deutschlands. Spaß bringt neben dem schlichten Design zwei kleine grüne Farbkleckse und der gelbe Sekundenzeiger, der über das Zifferblatt huscht wie ein heiteres ironisches Lächeln.

Wenn ich morgens den Wecker ausdrücke, macht es so ein ganz banales „Klick“. Der Piepton, der mich zuvor aus dem Schlaf holte, klingt wie der allererste Piepton der Welt. Doch man sollte sich nicht täuschen. Das Piepen beginnt sanft und naiv, schwingt sich aber, wenn man es lässt, schon bald auf zu einem lauteren und gehetzteren Piepen, im zweiten Schritt gar zu einer brausenden Karlheinz-Stockhausen-haften-Minimal-Oper, die wirklich jeden aus den Federn holt. Im Vergleich zum Wecker liegt das Handy schwer und wertig in der Hand, der Klingelton klingt voll wie aus einer HiFi-Anlage.

Aber dieses Handy, es will so viel. Wie viel dieses Handy von einem will, das wurde mir erst klar, als es nicht mehr da war. Wie leicht alles wurde! So leicht wie der lustige Pappwecker, der Reisewecker, der irgendwie ja auch Kinderwecker ist. Aber für mich bedeutet er noch etwas anderes, und das fiel mir an einem dieser neuen Morgen ein, als ich nach dem Aufwachen einfach nur sinnierend da lag und Zeit gewann. Der Wecker bedeutet für mich eine seltsame, utopische Idee von Sozialdemokratie, die überhaupt nichts mit Olaf Scholz zu tun hat, sondern eher mit einem irgendwie gemeinsamen Nenner, einem dauerhaften Wert, etwas, auf das man sich ohne Zweifel einigen kann. Etwas einmal Selbstverständliches und heute irgendwie Verlorengegangenes. Vielleicht könnte man es ein Gefühl zur Ausgeglichenheit nennen.

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So fühle ich mich jedenfalls am Morgen mit meinem neuen Wecker. Ein Gefühl, das ich zum Beispiel auch zu dem Käsehobel meiner Eltern habe, die diesen vor 40 Jahren für wenig Geld gekauft haben und immer noch täglich benutzen. Er geht nicht kaputt. Dieser Wecker, das bilde ich mir ein, wird auch nie kaputtgehen. Er will nichts von mir, sondern sagt nur die Zeit an. Er selbst hat sich in der Zeit zurechtgefunden, hat sich über die Zeit gerettet, er hat sie gewissermaßen als Mode schon längst hinter sich gelassen. Ich schaue ihn an und spüre Verbindung. Zu meiner Kindheit, zu Dieter Rams und zur Zeit an sich.

Vorbei war die „Instinktzeit“ der Seemänner

Nun können Sie sagen: Pure Nostalgie, ein Mann, der sich sentimental in die Vergangenheit flüchtet, statt in die Zukunft zu schreiten. Und vielleicht haben Sie recht. Aber sie haben auch unrecht, denn ich lebe seit dem Wecker wieder mehr in der Gegenwart. Ich höre wieder die Vögel magisch zwitschern im Hof, wo sie die Luft zu verändern scheinen. Ich merke, eine Frau liegt neben mir! Ich springe, nachdem ich mit einem Füller meine Träume zu Papier gebracht habe, voller Freude hochgemut aus dem Bett, in dem ich fest die Nacht durchgeschlafen habe. Mein Smartphone nehme ich erst nach dem Frühstück, nach dem Sport, womöglich ein, zwei Stunden nach dem Aufstehen überhaupt zur Hand. Im Schlafzimmer bin ich allein und halte es aus. Alles habe ich diesem Wecker zu verdanken.

Nun geht die Sommerzeit los, eine Stunde früher aufstehen, abends bleibt es länger hell. Wann die mechanische Uhr genau erfunden wurde, ist unbekannt. Aber nicht wenige denken, dass sie die Welt mehr verändert habe als die Dampfmaschine. Vorbei war die „Instinktzeit“ der Seeleute, Hirten und Bauern, die noch auf einem natürlichen Zusammenspiel von Witterungs- und Lebensrhythmen beruhte. Ich glaube, dass das womöglich der nächste Schritt ist: ganz ohne Wecker. Aufwachen nach der „inneren Uhr“, lernen, ganz von selbst aufzuwachen. Wir haben noch viel vor. Schauen Sie, von wem Sie sich die Zeit anzeigen lassen.

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