WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Kultur
  3. Literatur
  4. Brigitte Reimann: Nur deutsch, nicht ostdeutsch

Literatur Brigitte Reimann

Nur deutsch, nicht ostdeutsch

Redakteur Feuilleton
Die Zweiflerin, 1962: Brigitte Reimann (1933–1973) in Hoyerswerda Die Zweiflerin, 1962: Brigitte Reimann (1933–1973) in Hoyerswerda
Die Zweiflerin, 1962: Brigitte Reimann (1933–1973) in Hoyerswerda
Quelle: bpk/Gerhard Kiesling
Hier können Sie unsere WELT-Podcasts hören
Um eingebettete Inhalte anzuzeigen, ist deine widerrufliche Einwilligung in die Übermittlung und Verarbeitung von personenbezogenen Daten notwendig, da die Anbieter der eingebetteten Inhalte als Drittanbieter diese Einwilligung verlangen [In diesem Zusammenhang können auch Nutzungsprofile (u.a. auf Basis von Cookie-IDs) gebildet und angereichert werden, auch außerhalb des EWR]. Indem du den Schalter auf „an“ stellst, stimmst du diesen (jederzeit widerruflich) zu. Dies umfasst auch deine Einwilligung in die Übermittlung bestimmter personenbezogener Daten in Drittländer, u.a. die USA, nach Art. 49 (1) (a) DSGVO. Mehr Informationen dazu findest du hier. Du kannst deine Einwilligung jederzeit über den Schalter und über Privatsphäre am Seitenende widerrufen.
Bei der Sanierung eines Wohnblocks in Hoyerswerda fanden Arbeiter eine verloren geglaubte Handschrift von Brigitte Reimann. Zum 50. Todestag der Schriftstellerin kann ihr Schlüsselroman „Die Geschwister“ nun so gelesen werden, wie sie es gewollt hätte – mit einigen Überraschungen.

Es müssen sogenannte lesende Arbeiter gewesen sein, die beim Sanieren eines Häuserblocks in Hoyerswerda ein Papierbündel unter der Treppe fanden und erkannten, welchen Schatz sie in den Händen hielten: Zwischen Schneeschiebern und Straßenbesen lag ein Schulheft mit den ersten fünf Kapiteln eines Frühwerks von Brigitte Reimann. „Die Geschwister“ erschien 1963 in der DDR. Das Manuskript galt als verschollen – bis es in der Liselotte-Herrmann-Straße 20 im vergangenen Frühjahr wieder auftauchte. Heute liegt es im Stadtmuseum unter Glas mit weiteren Schriftstücken des „Hoyerswerdaer Fundes“, zwischen Briefen, Zeitungsausschnitten und einem Typoskript mit Korrekturen zum Roman.

Der lesende und schreibende Arbeiter war auch Brigitte Reimanns Ideal des Proletariers im Sozialismus. 1959 hatte im Kulturpalast von Bitterfeld die Konferenz zum „Bitterfelder Weg“ getagt. Der Losung „Greif zur Feder, Kumpel!“ folgte 1960 auch die Jungschriftstellerin aus bürgerlichem Haus. Sie zog in einen neuen Q3A-Bau, um den Aufbau ihres Staates literarisch zu begleiten und im Braunkohlenkombinat den „Zirkel schreibender Arbeiter“ zu leiten. Aufträge erhielt Brigitte Reimann reichlich: Sie schrieb Hörspiele fürs Radio und das Jugendbuch „Ankunft im Alltag“. „Die Geschwister“ schrieb sie zwischendurch und nebenher, aber mit stärkerem Willen zum Werk und nach den Worten, die ihr Anna Seghers bereits zehn Jahre zuvor mit auf den Weg gegeben hatte: „Schreiben Sie nur, was Sie wirklich denken und erleben!“

Lesen Sie auch
Brigitte Reimann (1933 bis 1973)
DDR-Autorin Brigitte Reimann

Nun bringt Aufbau, der Verlag von Anna Seghers und Brigitte Reimann, „Die Geschwister“* neu heraus, anhand der Quellen von Hoyerswerda. Erst am Manuskript wurde ersichtlich, wo der Lektor auch der Zensor war. Brigitte Reimann lebt seit 50 Jahren nicht mehr, sie starb am 20. Februar 1973 in Berlin an Krebs, mit 39 Jahren. „Die Geschwister“ war ihr populärstes Buch zu Lebzeiten im Osten, ihr Vermächtnis war ihr unvollendeter, ein Jahr nach ihrem Tod erschienener Roman „Franziska Linkerhand“. Die Heldin, eine junge Architektin, wirkt im Braunkohlerevier am Bau der Neustadt mit, reibt sich an der Partei und ihren eigenen Utopien. Der letzte Satz der ersten unzensierten Auflage von 1998 lautet: „Fr. hatte den Zweikampf verloren, noch ehe sie ihn antrat.“

Grüne Elefanten

„Die Geschwister“ von 2023 ist für Kenner des Literaturkanons der DDR erstaunlich, weil die Ausgabe von 1963 immer als Paradebeispiel für die „Grünen Elefanten“ galt: Autoren schrieben extra schlimme Sachen, um ihre Zensoren zu beschäftigen und von den schöneren, subtileren und wirklich subversiven Stellen abzulenken. Der Roman über eine geplante Republikflucht wurde allerdings nur marginal zensiert. Es ist ein Wunder, dass er damals überhaupt gedruckt wurde. Als Ich-Erzählerin verwandelt sich Brigitte Reimann in Elisabeth „Betsy“ Arendt, eine jugendlich-naive Künstlerin, die einen Tag pro Woche in einer Brigade arbeitet und sonst in einer Werksbaracke den Betriebsalltag zeichnet und malt. Sie hat zwei Brüder, beide arbeiten als Schiffbauingenieure. Einer, Konrad, hat das Land bereits verlassen und im Westen Fuß gefasst. Der andere, Ulrich, hadert mit der Heimat und bereitet seine Übersiedlung vor. Die Mauer ist noch nicht gebaut, aber sie schwebt als Menetekel schon über den zwei deutschen Nationen.

Nicht nur Ulrich schimpft über die DDR, ihre Partei und das System: „Der Sozialismus ist eine schöne Sache, solange man ihn nicht im eigenen Land hat.“ Er sei ein „Gefangener hinter einem Gitter von Dummheit und Bürokratie“, er fühle sich missbraucht, er sagt: „Am meisten hasse ich euch dafür, dass ich mit schlechtem Gewissen weggehe!“ Aber auch seine Schwester, die dieses Gewissen mit ihren Gefühlen füttert, ist nicht frei von Zweifeln. „Warum machen Sie uns immer Schwierigkeiten?“, fragt ihr Parteisekretär. Elisabeth sieht die Partei als „Haufen schwarzer Männer“.

Auch vom malenden Arbeiter hält sie nicht viel: „Es gab einige Leute, die nichts mitbrachten außer ihrer Lust und Liebe zum Malen, und ein paar viel zu geschickte Dilettanten, die weinerlich-violette Heidelandschaften und idyllische Fischerkaten kopierten.“ Es ist trostlos, 1960 in der DDR. Das in Parteitagsreden und auf Plenen bessere Deutschland wirkt zu klein für große Worte wie Freiheit und Glück.

Im Sommer 1962 schreibt Brigitte Reimann in ihr Tagebuch: „Entsetzliche Aufregung wegen der ‚Geschwister‘. Das Manuskript mit den Änderungsvorschlägen ist zurückgekommen, die Stasi-Szene gestrichen, die Kunst-Diskussion gestrichen; alles, was an Gefühl oder gar – horrible dictu! – an Bett gemahnt, ist gestrichen, und jetzt kann man meine schöne Geschichte getrost in jedem katholischen Mädchenpensionat auslegen. Wenn der Verlag starr bleibt, gehe ich zu einem anderen.“ Er blieb nicht starr. Getilgt wurde nur, woran allzu einfältige SED-Spießer sich hätten stören können. Von Versorgungsengpässen bei Kleinwagen bis zu einer Bemerkung über Betsys tolle Taille.

1968 hat Reimann „Die Geschwister“ stilistisch überarbeitet. Es war die Zeit des Prager Frühlings und der blühenden Selbstzweifel. Die Neuausgabe ist ein Destillat aus allem, was sie dazu schriftlich hinterlassen hat. Gut drei Jahrzehnte nach dem Untergang der DDR und einer westdeutschen Literaturdebatte über „Gesinnungskitsch“ in den Romanen von Brigitte Reimann, Christa Wolf und anderen wird „Die Geschwister“ mit einem Glossar, das Wegmarken wie „XX. Parteitag“ und Wörter wie „Kombinat“ erklärt, von einem Schlüsselwerk der DDR einfach zu einem Werk der deutschen Nachkriegsprosa. Ohne ost vor deutsch.

An dieser Stelle finden Sie Inhalte von Drittanbietern
Um eingebettete Inhalte anzuzeigen, ist deine widerrufliche Einwilligung in die Übermittlung und Verarbeitung von personenbezogenen Daten notwendig, da die Anbieter der eingebetteten Inhalte als Drittanbieter diese Einwilligung verlangen [In diesem Zusammenhang können auch Nutzungsprofile (u.a. auf Basis von Cookie-IDs) gebildet und angereichert werden, auch außerhalb des EWR]. Indem du den Schalter auf „an“ stellst, stimmst du diesen (jederzeit widerruflich) zu. Dies umfasst auch deine Einwilligung in die Übermittlung bestimmter personenbezogener Daten in Drittländer, u.a. die USA, nach Art. 49 (1) (a) DSGVO. Mehr Informationen dazu findest du hier. Du kannst deine Einwilligung jederzeit über den Schalter und über Privatsphäre am Seitenende widerrufen.

*Dieser Text enthält Affiliate-Links. Das bedeutet: Sollten Sie über die mit einem Stern gekennzeichneten Links einen Kauf abschließen, erhält WELT eine kleine Provision. Die Berichterstattung beeinflusst das nicht. Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter axelspringer.de/unabhaengigkeit

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema

Themen