Diese Frau braucht definitiv ein Zimmer für sich allein. Virginia Woolf hat diesen Ausdruck zur Metapher schlechthin für die geistig kreative, schreibende Frau geprägt: Ohne ein eigenes Zimmer wird es nämlich nichts.
Und bei der jüngeren Kollegin der großen englischen Romanschriftstellerin und Essayistin, also bei Annie Ernaux, die in diesem Jahr mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, war genau dies das Problem. Es fehlte lange an einem solchen Rückzugsort.
Sie kam erst spät zum Schreiben und hatte noch dazu als berufstätige Ehefrau und Mutter ein schlechtes Gewissen, dass sie diesen unbändigen Drang verspürte, ihr Leben der Literatur zu widmen.
Als ob es ihr darum ginge, dieses Zerrissensein zwischen familiärer Verpflichtung und dichterischer Neigung ein für alle Mal auch durch private Dokumente zu beglaubigen, hat die 82-Jährige nun zusammen mit ihrem Sohn eine einstündige filmische Dokumentation ihres Familienlebens in den 1970er-Jahren zusammengestellt. Sie trägt den für Annie Ernaux typischen lakonischen Titel „Die Super-8-Jahre“.
Der Film zeigt tatsächlich in Permanenz eine Frau, die sich nicht wohl zu fühlen scheint. Immer sieht man sie am Rande des Geschehens, gequält lächelnd, verkrampft blinzelnd. Dabei kann sie in ihren wenigen entspannten Momenten aussehen wie die damals weltbekannte Schlagersängerin Francoise Hardy mit ihren schönen langen glatten Haaren!
Übrigens gibt es hier auch nie eine liebevolle Geste gegenüber ihren Kindern. Ihren Mann, der allerdings meist die Kamera hält, sieht man kaum auf diesen Amateuraufnahmen.
Der Gatte wird übrigens auch in den Büchern der Annie Ernaux lediglich emotionslos erwähnt, nirgends einfühlsam beschrieben. Sie trennte sich von ihm nach 15 Jahre Ehe Anfang der 1980er-Jahre. Er kam im Gegensatz zu Annie Ernaux aus einer bürgerlichen Familie, wurde Jurist, starb aber offenbar relativ früh an Krebs.
Er scheint für den Einrichtungsstil des jungen Paares, Stilmöbel, verantwortlich gewesen zu sein, denn die Kamera gleitet oft geradezu liebevoll über die Mahagonikommoden und das mit dickem Velour bezogene Louis-Philippe-Sofa. Klar, auch das war nicht nach dem Geschmack der Autorin.
Durchgesetzt hat sie sich aber anscheinend in der Wahl der Reiseziele. Zum großen Teil dokumentieren diese Super-8-Filme nämlich die Urlaube der jungen Familie Ernaux. Die klassischen, im eigenen Land gelegenen Destinationen der französischen Bourgeoisie jener Jahre kommen kaum vor.
Einmal geht es immerhin ins Ardèche, vor allem um das einfache Leben am Busen der Natur zu erleben, in einem verlassenen Bergdorf ohne Elektrizität und fließendes Wasser. Raus aus dem „Konsumzwang“ wollten damals viele. Epochentypisch auch das Reisen aus politischer Neugierde.
Die Welt hinter dem „Eisernen Vorhang“ wurde damals, nicht zuletzt durch die weltweite Entspannnungspolitik, interessant. Die Ernaux’ entscheiden sich für das wohl unbekannteste Land des gesamten Ostblocks und reisen 1975 nach Albanien!
Die Bilder sind von erwartbarer Trostlosigkeit. Ihre letzte gemeinsame Reise zu viert, mit den beiden Söhnen, führt sie im Herbst 1981 sogar nach Moskau. Von Perestroika ist dort noch nicht das Geringste zu spüren, aber es ist wohl auch eher das Fasziniertsein durch die sozialistische Wirklichkeit, die damals Linke in die Sowjetunion zog.
Von der Welle der Ernüchterung, die seinerzeit zumindest unter französischen Intellektuellen einsetzte, ist in dem stummen und eben doch sehr privaten Bilderreigen naturgemäß nicht das Mindeste zu spüren.
Auch die Kommentare der Schriftstellerin, die ihm unterlegt sind, schweigen sich über Politik aus. So wortreich Annie Ernaux in ihren Büchern das Aufbruchsgefühl von 1981 heraufbeschworen hat, das Jahr in dem Mitterrand am 10. Mai an die Macht gelangte – „das hier war unser 1936, die Volksfront unserer Eltern, unsere Befreiung von der deutschen Besatzung“, heißt es in „Die Jahre“ –, so stumm bleibt die Autorin hier, was diese Zäsur betrifft, die den als arrogant und korrupt verschrienen Giscard d’ Estaing hinwegfegte.
Ja, „Die Super-8-Jahre“ bleiben strikt im Privaten. Sie richten sich wohl vor allem an die Fans der Literaturnobelpreisträgerin. Und ihrer melancholisch einschmeichelnden, schon ein wenig gebrochen wirkenden Stimme sechzig Minuten lang zu lauschen, hat in der Tat seinen nicht unerheblichen Reiz.
Wie wäre es mit einem Lob des Herkommens?
Was trägt die Dokumentation aber zum Verständnis ihres Werkes bei? Die Magna Mater jener Abrechnungsliteratur mit der eigenen prekären Herkunft, die in den Anklagen eines Didier Eribon oder Edouard Louis fortlebt (allerdings in einem weit weniger ausgefeilten Französisch), diese Magna Mater also wirkt tatsächlich in diesem privaten Rahmen genauso unfroh wie in ihren Büchern.
Wie wäre es, mit Gottfried Kellers „Grünem Heinrich“ zu sprechen, versuchsweise mal mit einem „Lob des Herkommens“? Hat gegenwärtig keine Konjunktur. Wäre aber zur Abwechslung auch mal wieder ganz schön.