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Kultur So wird der Münchner „Tatort“

Der Agatha-Christie-Ähnlichkeitsgewinner steht fest

Redakteur Feuilleton
Lightmyer (Udo Wachtveitl, l.) und Partridge (Miroslav Nemec) Lightmyer (Udo Wachtveitl, l.) und Partridge (Miroslav Nemec)
Lightmyer (Udo Wachtveitl, l.) und Partridge (Miroslav Nemec)
Quelle: BR/Bavaria Fiction GmbH/Hendrik
„Mord unter Misteln“ testet die Grenzen des „Tatort“ nach hinten aus. Der neue Fall für Leitmayr und Batic erzählt von einem Krimi-Dinner und einem klassischen Whodunnit in einem britischen Herrenhaus. Der ideale Begleiter in ein sanftes Dominostein-Koma.

Die Deutschen haben, das hat sich gerade auch in diesem in diesem Zusammenhang eher traurigen Jahr wieder gezeigt, eine gewaltige Sehnsucht nach Britishness. In wahrscheinlich keinem nicht-anglophonen Land trauerten mehr Menschen um die Queen und träumten sich mehr des Streamens Fähige nach Downton Abbey.

In überhaupt keinem Land der Welt (nicht mal in England) wäre es auch möglich, dass seit Jahrzehnten an Silvester Millionen einem britischen Butler beim Betrunkenwerden binnen 18 Minuten samt elfmaligem Stolpern über ein Tigerfell zuschauen.

Gut, das mit der anderen urbritischen Tradition, mit der kriminalliterarischen, das haben wir inzwischen etwas verlernt. In der Agatha-Christie-Nachfolge. Darin waren wir im Fernsehen bis tief in die Achtziger eigentlich ganz gut. In der guten, alten Kunst des Whodunnit.

Wo Inspektoren ohne psychischen Leistenbruch und ohne psychologische Tiefsinnigkeit an einen, wenn möglich, herrschaftlichen Tatort kommen und ohne Ansehen irgendwelcher möglicherweise vorhandener gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge einfach versuchen durch logisches Denken und absurde Gespräche einen Tathergang zu rekonstruieren und nach einer finalen Vollversammlung der Verdächtigen einen Täter dingfest zu machen. Gern, das wissen wir von Reinhard Mey, war es am Ende der Butler, aber nicht immer.

Im britischen Fernsehen wird diese Post-Poirot-Kunst immer noch hochgehalten. Funktioniert selbst in der Südsee – bei „Mord unter Palmen“ beispielsweise – prächtig.

Mörderische Krimi-Dinner

So prächtig gerade um Weihnachten herum, dass Netflix den Ex-Bond Daniel Craig als Poirot-Nachfolger Benedict Blanc in seinem „Knives out“-Nachfolge-Abenteuer, das „Glass Onion“ heißt, schon zum zweiten Mal auf herrlich modernisierte altertümliche Mörderjagd schickt. Da geht es um das fiese Spiel eines Technikmilliardärs, der auf seiner griechischen Insel eine Art mehrtägiges Krimi-Dinner inszeniert.

Robert Löhr wird von dem Plot nichts gewusst haben. Wollte sich einen Scherz machen mit dem, was im „Tatort“ geht, und dessen Grenzen sozusagen wieder rückwärts in die Tradition austesten. Und hat einen Fall geschrieben, in dem es – der Bayerische Rundfunk ist halt bescheidener als Netflix – um ein Münchner Krimi-Dinner geht.

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Das halbe Dezernat hat Kalli, der Assistent von Leitmayer und Batic, eingeladen. Zum Essen und Mörderjagen. Angetan in beste Zwanzigerklamotten sitzen sie da, als wäre Kallis Bude der Salon der Dowager Countess.

Und dann kommt das Silberlocken-Gespann Leitmayer und Batic im Räuberzivil an, die von keinem Krimi-Dinner nichts wussten, sich aber in ihrer üblichen Altes-Ehepaar-Art angranteln, weil der eine sich vom andern hintergangen fühlt, hat er doch herausgefunden, dass der bald in Pension gehen will, ohne ihn erst mal zu fragen.

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Dass der Butler der Mörder sein könnte, darf gleich ausgeschlossen werden, weil er gerade noch „Gift“ hauchen kann, während er an seiner Hemdbrust herum hantierend in den Salon von Beckford Hall stolpert wie ein waidwunder Freddy Frimpton. Dann ist er tot.

Der Butler war ein schlimmer Finger

Jetzt müssen wir kurz erklären, wie wir da hinkommen. „Mord unter Misteln“, der 90. Fall für Leitmayr und Batic in 32 Amtsjahren, funktioniert ein bisschen nach demselben Prinzip wie die Jumanji-Filme. Kaum ins Spiel eingetaucht, taucht Robert Löhrs Geschichte samt aller am Münchner Dinner Beteiligten dahin ab, wo Kallis Spiel theoretisch beheimatet war – ins Jahr 1922 und irgendwo in die Mitte Englands.

Der sattsam bekannte „Tatort“-Pathologe darf sich ausnahmsweise um Lebende kümmern und Kalli, die immer ein bisschen vernachlässigte Randfigur aus dem Münchner Kommissariat, ist der Sohn des Hauses. Es gibt einen zwielichtigen Reverend, einen salonsozialistischen Mediziner, ein liebreizendes Hausmädchen, eine schlüpfrige Sängerin.

Kaum ist der schlimme Finger von Butler (von einem Gärtner ist übrigens weit und breit keine Spur) tot, tauchen Detective Chief Inspector Francis Lightmyer und Detective Constable Ivor Partridge in Beckford Hall auf. Und fangen – angetan mit erklärungsbedürftigen Bärten, dickwolligem Anzug, körpernahsitzender Uniform und langhalsiger Pfeife – mit dem Abarbeiten des Agatha-Christie-Whodunnit-Workoutprogramms an.

Zwischen den Zeit- und Spielebenen britzelt es genauso wie zwischen den beiden Grauköpfen. Es wird mit Krimi-Klischees und Briten-Klischees gespielt. Es geht sehr stilvoll und liebevoll zu in Beckford Hall. Die Musik stimmt, der Stil stimmt, das Schloss, das fürs Herrenhaus herhalten musste, gibt sich alle Mühe britischer als bayerisch zu sein.

Löhr betreibt ein angenehm heiteres Metaspiel. Immer wenn der eher dünne Plotfaden durchhängt, ergeben sich herrliche Dialoge, fliegen Anspielungen durch die Gegend. Das ist lustig, ein bisschen selbstsatirisch, ohne tiefere Bedeutung.

Ein Krimi wird da zwar nicht draus. Aber ein feines Gesellschaftsspiel, das einen prima in die saloppe Katatonie jenes Spekulatiuskomas begleitet, von dem man am zweiten Weihnachtstag unterm Christbaum verlässlich überfallen wird.

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