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Kultur Anschlag in Paris

Kein Staatsdichter

Korrespondent
Ahmet Kaya (* 28. Oktober 1957 in Malatya; † 16. November 2000 in Paris) war ein kurdisch-türkischer Sänger und Komponist der Özgün Müzik. Ahmet Kaya (* 28. Oktober 1957 in Malatya; † 16. November 2000 in Paris) war ein kurdisch-türkischer Sänger und Komponist der Özgün Müzik.
War einer der bekanntesten und kommerziell erfolgreichsten Musiker der Türkei des 20. Jahrhunderts: Ahmet Kaya (1957-2000)
Quelle: raillynews.com
Der Terroranschlag in Paris galt einem kurdischen Kulturzentrum, genauer: dem Ahmet-Kaya-Kulturzentrum. Wer aber war Ahmet Kaya, was ist seine Geschichte und welche symbolische Bedeutung hat dieser Angriff?

Nach dem mutmaßlich rassistisch motivierten Angriff in Paris, bei dem am Freitag mindestens drei Menschen getötet wurden, ist in deutschen Medien von „Schüssen in einem kurdischen Kulturzentrum“ die Rede, das neben einem Café und einem Friseursalon Ziel der Attacke war. Türkische und kurdische Medien hingegen versäumen es nicht, die angegriffene Einrichtung im zehnten Pariser Arrondissement namentlich zu benennen: das Ahmet-Kaya-Kulturzentrum.

Denn der Name Ahmet Kaya lässt in der Türkei aufhorchen, erst recht in Kombination mit der Ortsangabe Paris.

Ahmet Kaya, war einer der bekanntesten und kommerziell erfolgreichsten Musiker der Türkei des 20. Jahrhunderts – und starb im November 2000 in Paris, wohin er im Jahr zuvor ins Exil gegangen war.

Mit seinen Songs zwischen politischem Songwritertum, melancholischem Pop und Arabeskschnulzen begann Kaya seine Karriere in den Achtzigerjahren, in jener vom Militärputsch vom September 1980 geprägten Atmosphäre, als hunderttausende in den Foltergefängnissen der Junta verschwanden.

1985, als sein erstes Album „Aglama Bebegim“ (in etwa: „Weine nicht, mein Kind“) erschien, gaben die Militärs noch den Ton an. Doch im vorpolitischen Raum war es bereits möglich, vorsichtig Kritik zu äußern. Die Satirezeitschrift „Girgir“ etwa verkaufte damals Woche für Woche mehr als eine halbe Million Exemplare, weil sie Dinge drucken konnte, die anderen Zeitungen nicht erlaubt waren – oder die sich diese nicht trauten.

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Eine vergleichbare Rolle übernahm der Musiker Ahmet Kaya. Ende der Siebzigerjahre hatte er selbst einige Monate in Haft verbracht. Nun wurden Gefängnis, Folter und Hinrichtungen zu seinen wiederkehrenden Themen. Er sang über das Leid und die Enttäuschung einer Generation, die von der Revolution geträumt, dafür einen hohen Preis gezahlt hatte und nun die Erfahrung machen musste, dass sich der Rest der Gesellschaft noch für sie interessierte. Ahmet Kaya wurde zum Sprachrohr dieser Generation, mehr noch: zu einer Art Therapeuten.

Auch außerhalb des linken Milieus, dem Kaya entstammte, erfreute er sich wachsender Beliebtheit, allen voran unter jugendlichen Anhängern der islamistischen Milli-Görüs-Bewegung – in jener Genration also, die später die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) gründen oder als Anhänger der Gülen-Bewegung sich anschicken sollte, den Staatsapparat zu übernehmen. Die Melancholie, auch die Volkstümlichkeit seiner Musik traf auch in diesen Kreisen einen Nerv, wohl auch, weil der politische Islam in der Türkei abgesehen von ein, zwei Literaten keine Künstler hervorgebracht hat.

In dem Maße, in dem in den Neunzigerjahren eine politische Liberalisierung einsetzte, wuchs Ahmet Kaya auch aus diesen Kreisen hinaus und wurde zum Popstar. Erfolgreich, gefeiert, anerkannt – bis sich an einem Abend im Februar 1999 alles jäh änderte.

Istanbuler Prominenz buhte Kaya aus

Da war er zu einer Preisverleihung des Vereins der Boulevardjournalisten eingeladen, wo er als „Staatskünstler“ ausgezeichnet werden sollte. Bei seinem Auftritt sagte er, er sei teils kurdischer Abstammung und werde in seinem kommenden Album erstmals einen Song auf Kurdisch aufnehmen. Damit hatte Kaya an den Tabus jener Zeit gekratzt, was er noch Ort und Stelle zu spüren bekam. Die versammelte Istanbuler Prominenz aus Showbusiness und Medien buhte ihn aus und bewarf ihn mit Tafelbesteck. Während Kaya und seine Frau aus dem Saal flohen, schmetterte das Publikum nationalistische Märsche, um diesen Skandal – ein Lied auf Kurdisch! – aus der Welt zu schaffen. Ein beschämender Augenblick der jüngeren türkischen Kulturgeschichte, der daran erinnert, dass man diesem Land nicht erst seit Erdogan darin geübt ist, seinen kritischen und kreativen Geistern das Leben zur Hölle zu machen.

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Wegen seiner Rede wurde ein Strafverfahren eröffnet. Kaya verteidigte sich zunächst vor Gericht, sah sich aber angesichts der drohenden Haftstrafe von zwölf Jahren, der öffentlichen Anfeindungen und Morddrohungen dazu gezwungen, die Türkei zu verlassen. Anderthalb Jahre später starb er im Alter von 43 Jahren an einem Herzinfarkt. Er steht in einer langen, traurigen Reihe von im Exil Gestorbenen mit beispielsweise dem Lyriker Nazim Hikmet († 1963 in Moskau), dem Regisseur Yilmaz Güney oder dem Maler Abdi Dino († 1984 bzw. 1993, beide in Paris), von der es zeitweilig schien, als könnte er sie abschließen: Der letzte türkische Künstler, der in seinem Land verfemt, verfolgt und die Flucht vertrieben wurde – ehe man später um sie Krokodilstränen vergoss.

Auch Kaya gilt in der Türkei längst als rehabilitiert. Vor allem Abdullah Gül bemühte in seiner Zeit als Staatspräsident, das Grab in die Türkei zu überführen, sein früherer Weggefährte und Nachfolger Recep Tayyip Erdogan hält dem Establishment der alten Türkei gerne vor: „Ihr wart doch alle da, als Ahmet Kaya mit Messern und Gabeln beworfen wurde!“ – was die Vertreter eben dieses Establishments verleugnen oder zerknirscht als „Fehler“ einräumen.

Der Verein der Boulevardjournalisten hat sogar einen nach Ahmet Kaya benannten Preis gestiftet. Zugleich hat die Türkei wieder damit angefangen, politisch missliebige Künstler und Intellektuelle einzusperren und außer Landes zu jagen. „Wird das immer so, immer so weitergehen?“ heißt es in einem Lied von Ahmet Kaya. Offenbar ja, muss die Antwort vorläufig lauten. Und das Exil kann oft Freiheit und Sicherheit bedeuten. Aber, wie der mutmaßliche Terroranschlag von Paris zeigt, auch nicht immer.

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