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Kultur Kriegstagebuch aus der Ukraine

Aber es ist noch lange nicht vorbei

Ukrainische Soldaten tragen den Sarg eines Kameraden in Butscha. Er wurde bei den Kämpfen um Bachmut getötet Ukrainische Soldaten tragen den Sarg eines Kameraden in Butscha. Er wurde bei den Kämpfen um Bachmut getötet
Ukrainische Soldaten tragen den Sarg eines Kameraden in Butscha. Er wurde bei den Kämpfen um Bachmut getötet
Quelle: Emilio Morenatti/AP/dpa
Seit dem ersten Kriegsmorgen hält uns der preisgekrönte Übersetzer Juri Durkot aus Lemberg über die Lage in der Ukraine auf dem Laufenden. Lesen Sie hier seine Tagebucheinträge von Oktober 2022 bis März 2023.

Lemberg, den 26. März, nachmittags

„Jeder Händler träumt davon, seine Ware schnell zu verkaufen und nach Hause zu gehen“, sagt Switlana. Es ist bereits später Nachmittag, aber ihr Marktstand leert sich nur langsam. Es ist kälter geworden; sie verstaut die Hände immer wieder in den Taschen ihrer Fleecejacke. „Nehmen Sie eine andere Sorte, diese Tomaten schmecken nicht besonders“, reagiert sie schnell, als ich meinen Blick auf eine Kiste mit knallroten Früchten richte. Wir kaufen bei Switlana regelmäßig ein. Sie ist immer freundlich und zuvorkommend, selbst dann, wenn ihre Augen am Ende eines langen Tages müde wirken. Und wenn man bei ihr nur zwei Äpfel nimmt, bedankt sie sich dafür so herzlich, als hätte man ihr auf einmal den ganzen Stand leergekauft.

Eigentlich ist es kein Marktstand, sondern ein winziger Obst- und Gemüseladen. Italienische Rucola, marokkanische Mandarinen, türkische Tomaten, chilenische Avocados, polnische Äpfel, ukrainische Gurken und Radieschen sowie Kartoffeln aus dem eigenen Garten. Im Sommer kommen Früchte und Grünzeug aus dem Eigenanbau dazu. Um die Einkäufe kümmert sich ihr Mann Mychajlo; der 51-jährige hat gerade den Krebs besiegt. Der Sohn Oleh, knapp über zwanzig, hilft aus. Es ist ein typisches Familiengeschäft. Nur läuft es zuletzt nicht ganz rund, und dafür gibt es einen Grund. Es ist der Krieg.

Nein, Switlana muss keine Toten unter ihren Angehörigen beklagen. Ihr Haus wurde nicht durch einen Zufallstreffer zerstört, und die Ernte wurde nicht von Schädlingen befallen. Einige Wochen nach dem russischen Überfall lief das Geschäft sogar besser als sonst. Lemberg platzte aus allen Nähten, die Stadt wurde von Flüchtlingen – von armen und von reichen – geradezu überschwemmt, der Markt lag günstig in der Stadt, zwei Schulen in der Nähe wurden zu temporären Herbergen umfunktioniert. Plötzlich gab es Dutzende Neukunden, alle wollten Kiwis, Orangen und Bananen kaufen. Die Familie hatte kaum eine ruhige Minute während des gesamten Arbeitstages.

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Die ersten Probleme deuteten sich im Mai ab. Da Switlanas Haus mitsamt eigenem Garten etwa 30 Kilometer von Lemberg entfernt liegt, mietete die Familie eine Wohnung in der Stadt. Plötzlich wollte die Vermieterin die Miete um die Hälfte erhöhen. Switlana und Mychajlo überlegten sich sogar kurz, wieder ins eigene Haus in die Provinz zurückzukehren. Aber der Treibstoff war nicht nur teuer geworden, er war nach den russischen Raketenangriffen damals auch knapp. Also verwarf die Familie diese Option, fand mit Müh und Not eine kleinere Mietwohnung und zog um. Der kleinere Sohn war inzwischen in Lemberg eingeschult worden. Seitdem kränkelt er immer wieder.

Dann stiegen die Preise auf Obst und Gemüse. Für exotische Früchte aus dem Süden und der Übersee war durch die russische Blockade ukrainischer Häfen die Logistik wesentlich komplizierter geworden. Der ukrainische Süden stand unter russischer Besatzung und lieferte gar nichts mehr. Im Frühherbst kosteten Mandarinen, Tomaten, Gurken und Wassermelonen bereits das Doppelte. Nur die Kartoffelpreise stiegen kaum. Das war nicht gut. Der Eigenanbau rentierte sich kaum noch.

„Unser Umsatz ist eingebrochen“, klagt Switlana. Die Menschen kaufen viel weniger, bei vielen reicht das Geld nicht mehr aus. Hat früher eine Familienmutter gleich ein Kilo Mandarinen gekauft, nimmt sie nun ein halbes oder noch weniger. Und guckt genau auf die Preise. Den anderen Händlern geht es genauso. Am Jahresanfang hatte Switlana Angst, dass der Wettbewerb noch härter werden würde. Ein Markt in der Stadt war aufgelöst worden, dort soll nun ein Einkaufszentrum gebaut werden. Sie befürchtete, dass die Händler von dort auf ihrem Markt landen würden. Zum Glück sind die neuen Konkurrenten ausgeblieben, für sie waren die Mietpreise zu hoch. Und diese sind zuletzt wieder gestiegen. So zahlt Switlana für ihren winzigen Laden jetzt ein Drittel mehr Miete als vor dem Krieg.

„Eigentlich lohnt es sich nicht mehr. Wenn wir beide arbeiten würden, hätten wir mehr verdient. Aber uns wird kein Arbeitgeber einstellen – einen Mann über fünfzig mit einer schweren Vorerkrankung sowieso nicht.“ Für eine Frau Mitte Vierzig ist es auch schwierig, einen Job zu finden. Wäre sie älter und hätte sie keinen Sohn im Grundschulalter, hätte sie sich auf ihr Elternhaus zurückgezogen und nur noch Gemüse angebaut. „Aber wir müssen den Kleinen auf die Beine stellen“, sagt Switlana mit dem müden Lächeln auf ihrem freundlichen rundlichen Gesicht, während sie drei Äpfel für eine ältere Frau auf die Waage legt.

Eine Fahne der Ukraine
Eine Fahne der Ukraine
Quelle: Robert Michael/dpa/Symbolbild

Man kommt nicht gleich auf die Idee, mit einer Gemüsehändlerin über Literatur zu sprechen. Zwar kommt Switlana aus einer Provinzstadt (oder aus einem Dorf in der Nähe), die keine ganz großen Schriftstellernamen hervorgebracht hat. Immerhin ist dort, im galizischen Mykolajiw, die erste ukrainische Dichterin Galiziens geboren worden. Womöglich hat Switlana in der Schule ihre Gedichte sogar auswendig gelernt. Der Vater der Lyrikerin, ein gewisser Julius Schneider, war österreichischer Staatsbeamter deutscher Abstammung. Sie wurde auf den Namen Julia getauft. Bekannt geworden ist sie unter ihrem Künstlernamen Uljana Krawtschenko. Das ist aber eine neue Geschichte. Vielleicht erzähle ich sie bei anderer Gelegenheit.

Lemberg, den 18. März, abends

Eigentlich bekommt man nicht viel zu sehen. Das Video zeigt nur die Hände eines Soldaten und ein Messer. Die Kamera macht einen Schwenk, nun kommt ein Buch zum Vorschein, auf dem etwas Weißes liegt – gerade so, dass man den Buchtitel lesen kann. Es ist der Koran. Eine Stimme fragt im schlechten Ukrainisch, ob das denn ein Schneidebrett sei. Nun wird die weiße Masse tatsächlich aufgeschnitten. Es ist der Salo, ein dicker Rückenspeck vom Schwein. Schnitt.

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Einen Augenblick später werden aus einem schwarzen Plastikbeutel ein paar Bücher herausgeschüttelt. Wiederum ist ein Exemplar des Korans dabei. Nun geht es darum, Feuer zu machen. Ein Soldat – es ist wiederum nur eine Hand zu sehen – reist aus dem Buch ein paar Blätter heraus und schiebt sie unter einen Haufen Reisig. Das gesamte Video ist voller obszöner Witze.

Veröffentlicht hat es zunächst ein zum russischen nationalistischen Onlinemedium „Readovka“ gehörender Telegram-Kanal. Der polnische TV-Sender Belsat hatte berichtet, dass nach dem russischen Überfall auf die Ukraine einige Mitarbeiter des Chefs der Söldnergruppe „Wagner“ Jewgeni Prigoschin von „Readovka“ angestellt worden waren.

Auch wenn man schon etliche Lügen der russischen Propaganda kennt, hört man nicht auf zu staunen. Offenbar sind der Phantasie bei der Erfindung von Parallelwelten keine Grenzen gesetzt. Der Salo, also der Schweinespeck, gilt in Russland quasi als ukrainisches Nationalgericht. Das Rezept liegt also auf der Hand und ist im Grunde genommen ganz simpel: Man nehme den Salo und zeige, wie ihn „ukrainische Soldaten“ auf dem Koran aufschneiden. Das wäre für jeden Moslem ja eine tödliche Beleidigung. Dass dies unmittelbar vor Beginn des Ramadans „passiert“, der in diesem Jahr auf den 23. März fällt, soll diese Freveltat noch einmal verstärken.

Doch die Geschichte ist ziemlich grob geflickt. Ein ukrainischer Mufti hat nach der Betrachtung des Videos erklärt, dass darin eine russische Ausgabe des Korans zu sehen sei, die man zwar in Moskau oder Sankt Petersburg kaufen könne, nicht aber in der Ukraine. Ansonsten werden hierzulande sowieso längst ukrainische Übersetzungen verwendet. Der Schweinespeck wird mit einem Armeemesser aufgeschnitten, das laut einem Waffenexperten ausschließlich von russischen Fallschirmjägern und Kadyrow-Kämpfern verwendet wird. Und ein pejorativer Ausdruck zur Bezeichnung der moslemischen Bevölkerung des Kaukasus und Zentralasiens ist zwar im Russischen, nicht aber im Ukrainischen gebräuchlich.

Russische Feierlichkeiten in Jalta zum neunten Jahrestag der Krim-Annexion
Russische Feierlichkeiten in Jalta zum neunten Jahrestag der Krim-Annexion
Quelle: Uncredited/AP/dpa

Die russische Propaganda folgt schon seit langem dem klassischen Goebbels-Muster: Je dreister die Lüge, desto eher wird sie geglaubt. Nicht umsonst hat Wladimir Putin den Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda vor einigen Jahren als „einen talentierten Mann“ bezeichnet. Und das ausgerechnet bei einem Treffen mit Rabbinern und Vertretern jüdischer Organisationen.

Lemberg, den 10. März, nachmittags

Es war ein recht ausgeklügeltes und fest reglementiertes Verfahren. Ein Abgesandter band sich ein wollenes Band um den Kopf und begab sich an die Grenze. Dort rief er Jupiter zum Zeugen auf und trug in einer Formel, die einem bestimmten Muster folgte, seine Forderungen vor. Er wiederholte sie noch einmal gegenüber jedem, der ihm als Erster zufällig begegnete. Wurden nach dreiunddreißig Tagen, einer Art Schonfrist, die Forderungen nicht erfüllt, fuhr der Abgesandte in die Hauptstadt zurück, um die Ältesten zu konsultieren.

Der Senat wurde befragt. Wenn die Mehrheit der Senatoren der Meinung war, dass die Forderungen nur durch einen gerechten Krieg durchzusetzen seien, fuhr ein für Außenbeziehungen und Zeremonien zuständiger Priester, ein sogenannter Fetial, an die Grenze zum Nachbarvolk. Es war üblich, dass er eine blutverschmierte Lanze mit einer eisernen oder versengten Spitze in Anwesenheit von mindestens drei erwachsenen Männern über die Grenze warf. In Verbindung mit einer weiteren Formel, die er dabei aufsagte, war es die offizielle Kriegserklärung. Dieses Verfahren, vom römischen Historiker Titus Livius beschrieben, war im antiken Rom in der Zeit des Königtums in Gebrauch, also vor der Republik.

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Auch die Kiewer Fürsten pflegten im frühen Mittelalter ihren bevorstehenden Angriff gegenüber fremden Stämmen anzukündigen. Auch sonst war es im damaligen Europa üblich, einem Gegner den Krieg zu erklären. Die italienischen Stadtstaaten schickten dem künftigen Feind einen Fehdehandschuh. Selbst wenn die Rituale mit der Zeit immer formeller wurden, folgte man dabei den Normen ritterlicher Kriegsführung. Es ist bemerkenswert, dass in jenen Zeiten, als Brudermord und Giftanschlag zum Standardrepertoire der Politik gehörten, die Kriegserklärung als eine Regel des guten Tons galt. Alles andere hätte man wohl als Handwerk von Wegelagerern und Räubern betrachtet.

Anderswo, wie zum Beispiel in Amerika, gab es nicht nur Kriegsrituale, sondern auch Ritualkriege. Bei den von Azteken geführten „Blumenkriegen“ ging es nicht um die Unterwerfung der Nachbarvölker und Tributzahlung; deren Ziel war es, lebende Männer für das Opferritual gefangenzunehmen. Einige Forscher glauben sogar, dass die spanischen Eroberungen auf dem amerikanischen Kontinent dadurch erleichtert wurden, dass sich die Azteken und die Inkas zu stark an bestimmte Kriegsrituale gebunden fühlten.

In der Neuzeit wie in der Antike ging der offiziellen Kriegserklärung oft ein Ultimatum voraus. Es wurde in der Regel so formuliert, dass die andere Seite es nicht wirklich akzeptieren konnte. Die Weiterentwicklung der Zivilisation brachte mit Entstehung von totalitären Staaten und Diktaturen ein neues Ritual – die Erfindung von Gründen für einen Angriffskrieg. Der inszenierte Überfall auf einen Radiosender, die „Befreiung“ bestimmter Gebiete und Wiedervereinigung der Völker im kommunistischen Paradies, internationale Hilfe, die Bekämpfung der Konterrevolution im Nachbarland… Im 21. Jahrhundert ist nun noch die „Entnazifizierung“ hinzugekommen.

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Doch nach dem russischen Überfall auf die Ukraine folgen auch die westlichen Länder einem bestimmten Ritual. Es ist wohl das erste Mal überhaupt in der Geschichte der Kriege, dass es stets vorher bekannt gegeben wird, wann genau welche Waffen geliefert werden, und in welchen Stückzahlen. Die Frage, ob dieses Ritual Russland bei seiner Kriegsplanung hilft, ist eher rhetorisch. Auf jeden Fall wissen alle, dass die USA bis Dezember vergangenen Jahres etwa 20 Mehrfachraketenwerfer HIMARS geliefert haben, dass die ersten Leopard-Panzer aus Deutschland Ende März in der Ukraine eintreffen werden, dass die Slowakei zehn ihrer alten MiG-29 Kampfflugzeuge übergeben will, und dass das erste Flugabwehrraketen-System Patriot nicht vor Ende April zu erwarten ist. Was wir nicht wissen ist, welches Kraftwerk oder welche Stromleitung in der eigenen Region beim letzten russischen Raketenangriff getroffen wurden. Es heißt nur, ein „Objekt der Energieinfrastruktur“ sei beschädigt worden.

Hier gibt es keine Nachschubprobleme: Ein aufblasbarer M1 Abrams-Panzer der tschechischen Firma Inflatech
Hier gibt es keine Nachschubprobleme: Ein aufblasbarer M1 Abrams-Panzer der tschechischen Firma Inflatech, der zu Täuschungszwecken verwendet werden kann.
Quelle: AFP/MICHAL CIZEK

Die tschechische Firma Inflatec spezialisiert sich auf Herstellung von aufblasbarem Militärgerät. Die Modelle sollen als Köder dienen und den Gegner in die Irre führen. Zum Sortiment des Unternehmens gehören unter anderem Flugzeuge, Panzer, gepanzerte Mannschaftswagen, Haubitzen und seit einiger Zeit auch HIMARS-Raketenwerfer. Es dauert zehn Minuten, um ein Panzermodell, das lediglich 100 kg wiegt, aufzublasen. Die Frage, ob und was die Firma in die Ukraine liefert, ließ man unbeantwortet. Wir wissen also, wie viele echte HIMARS geliefert worden sind, aber nicht wie viele aufblasbare Modelle davon. Das ist auch gut so. Man muss ja schließlich nicht alles wissen.

Lemberg, den 2. März, abends

2014 ist Anton von Luhansk nach Lemberg umgezogen. Wenn man es denn einen Umzug nennen kann. Es war eine Flucht. Eine Flucht von der „russischen Welt“, die dort gerade angefangen hatte, um sich zu schießen. Ich weiß nicht, ob er mit dem Zug gereist ist. Als ich in meiner Schulzeit einmal in Luhansk war, musste die Fahrt um die 30 Stunden gedauert haben. Die Züge waren nicht besonders schnell, und die Strecke mit rund 1400 km nicht gerade kurz. So viele Kilometer trennen beide ukrainische Großstädte, bis zur russischen beziehungsweise polnischen Grenze ist es jeweils nur noch ein Katzensprung.

Ich kann mich nicht wirklich an Luhansk erinnern, nur zwei breite und lange Straßen im Zentrum sind mir in Erinnerung geblieben. Vielleicht waren es sogar vier. Eine davon war jedenfalls die Lenin-Straße, die andere trug den Namen „Sowjetische“, und irgendwo kreuzten sich die beiden. Aus politischer Sicht war das zumindest konsequent. In keiner Stadt der Sowjetunion war es anders.

In Lemberg gab es sogar einen dreifachen Lenin, damit man ihn hier nicht so schnell vergaß – als Boulevard, als Straße und selbstverständlich als Denkmal. Der „Führer des Weltproletariats“ stand auf der städtischen Flaniermeile, den Rücken der Oper zugewandt, und drückte somit seine Verachtung für diese bourgeois-dekadente Kunstform aus. Die bronzene Figur blickte streng von der Tribüne irgendwohin Richtung Süden, als wollte sie den Kommunismus in Draculas Burg tragen. Kurzum, in die Walachei. Den Zerfall der Sowjetunion erlebten alle drei Lemberger Inkarnationen Lenins nicht mehr, sie verschwanden schon kurz vorher spurlos aus dem Stadtbild.

Das Lenin-Denkmal in Luhansk blieb mir nicht in Erinnerung, aber es muss auch 2014 noch dort gestanden haben. An das Stadtviertel „Myrnyj“, wo Anton wohnte, kann ich mich ebenso wenig erinnern. Es liegt am Stadtrand, dorthin verirren sich die Stadtführer und Stadtführerinnen nicht. Es ist nur irgendwie symbolisch, dass die „russische Welt“ eben dort angegriffen hat, denn „Myrnyj“ bedeutet „friedlich“.

An jenem Tag, dem 2. Juni 2014, sollte Anton seine Latein-Prüfung an der Uni machen. Am frühen Morgen, noch im Halbschlaf, vernahm er ein Geräusch. Es hörte sich wie ein entfernter schwacher Donner an. Die Thermofenster dämpfen gut. Erst als Anton aufstand und die Balkontür aufschloss, war ihm klar, dass er zum ersten Mal in seinem Leben Maschinengewehrsalven hörte. Die russischen Milizen griffen einen Stützpunkt des ukrainischen Grenzschutzes an. Auf einmal spielten ukrainische Soldaten die Nationalhymne über die Lautsprecher. Am Ende mussten sie sich vor einer feindlichen Übermacht zurückziehen. Inzwischen wurde der Widerstand der kleinen Garnison verfilmt. Das Action-Drama von Achtem Seitablajew, dem ukrainischen Kultregisseur krimtatarischer Herkunft, kam zwei Tage vor dem Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine in die hiesigen Kinos.

Anton ging nicht zur Prüfung. Die Uni weigerte sich, ihm einen neuen Termin zu vergeben. Das Rektorat befand, dass der Student keinen triftigen Grund gehabt hatte, die Prüfung zu versäumen. Anton packte die Sachen und fuhr nach Lemberg, dorthin, wo es keine Lenins gab. Zwei Jahre später, bereits fest im Griff von russischen Marionetten, meldete sich die Luhansker Uni wieder bei ihm. Sie wollte das Latein-Lehrbuch zurück haben.

Lemberg, den 23. Februar, abends

Im Februar 2022 saß ich an einem Text über Fußball und Erwachsenwerden und las zum zweiten Mal Hannah Arendts „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“. Eine merkwürdige Verbindung. Die Lage war düster, der Aufmarsch russischer Truppen an der ukrainischen Grenze sah bedrohlich aus. Es verdichteten sich die Anzeichen, dass Russland bald die Ukraine überfallen wird. Wir haben es alle gewusst, aber nicht wirklich daran geglaubt. Man glaubt ja nicht gerne an das Unvermeidliche. Man glaubt nicht gerne an den Krieg.

Der Fußballtext ist romantisch geraten. Vielleicht deswegen, weil mich die Lektüre der „Ursprünge“ nachdenklich machte. Sie ließ mich immer wieder an das Regime bei unserem immer mehr vom Hass gegenüber der ganzen Welt erfassten Nachbarn denken. An vielen Stellen war es fast ein Déjà-vu. Am 24. Februar war es vorbei. Der Fußballtext, der bis dahin noch nicht veröffentlicht wurde, war plötzlich obsolet (später erschien er doch – als eine Art Nachruf auf die alte, nicht mehr existierende Welt). Und lesen konnte ich sowieso gar nicht mehr. Es ging uns allen so.

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Ein Jahr. Seit einem Jahr tötet Russland uns Ukrainer. Nein, es tötet uns seit neun Jahren, seit 2014. Nur dass es jetzt ganz andere Dimensionen erreicht hat. Es tötet ukrainische Männer und Frauen, alte Menschen und Kinder. Soldaten und Zivilisten, ukrainischsprachige und russischsprachige. Es tötet deine Freunde und Bekannten, deine Angehörigen und völlig fremde Menschen. Der Aggressor will deinen Glauben an die Welt und an Gerechtigkeit töten. Er hat unseren Glauben getötet, dass Kriege in Europa im 21. Jahrhundert nicht mehr möglich sind. Dieser Glaube hat sich als Illusion erwiesen. Wie konnte es denn anders sein, wenn man nur zugeschaut hat, wie ein Monster heranwuchs und gezüchtet wurde? Ein Monster, das alles Menschliche in sich längst getötet hat?

Russland zerstört. Es zerstört ukrainische Städte und Dörfer, macht ganze Gegenden dem Erdboden gleich. Es zerstört Kraftwerke und Stromleitungen, Trafos und städtische Infrastruktur in der Hoffnung, dass wir Ukrainer im Dunkel und in der Kälte schnell verzweifeln. Das werden wir nie. Russland zerstört ukrainische Museen und Bibliotheken, verbrennt ukrainische Bücher, entführt ukrainische Kinder und will sie „umerziehen“. Es hat europäische, vor allem aber deutsche Illusionen zerstört, dass sich durch Handel und engere Wirtschaftsbeziehungen Kriege verhindern lassen. Aber das hat man schon alles vor dem Ersten Weltkrieg gehört. Lernt man denn nichts aus der Geschichte?

Und doch haben wir alle etwas gelernt. Europäische Politiker haben gelernt, dass es irgendwo in diesem unverständlichen europäischen Osten noch unverbesserliche Romantiker gibt, die bereit sind, für ihr Land, für Freiheit, Demokratie und europäische Werte zu kämpfen und zu sterben. Und sie haben sich davon begeistern lassen. Wir Ukrainer waren überwältigt von der Hilfsbereitschaft und Solidarität von Menschen in Polen, Deutschland und anderen europäischen Ländern. Wir haben gelernt, dass das Böse, selbst das absolut Böse, nicht grenzenlos ist. Dass man es stoppen kann, wenn man Mut genug aufbringt. Wir Ukrainer haben gelernt, dass das unermüdliche Engagement von Zig- und Hunderttausenden Berge bewegen kann. Dass die ukrainischen Streitkräfte der „zweitbesten Armee“ der Welt Paroli bieten können. Wenn es tatsächlich die „zweitbeste Armee“ ist, dann ist es wirklich nicht zum Besten um die Armeen dieser Welt bestellt. Darüber sollten sich die Pazifisten eigentlich freuen. Stattdessen fordern sie den Westen auf, die Waffenlieferungen an die Ukraine einzustellen und vergessen – absichtlich oder nicht, – dass der größte Waffenlieferant Russland ist, das seine Invasionstruppen versorgt.

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Die westlichen Regierungen haben schließlich erkannt, dass man Freiheit und Demokratie nicht mit bloßen Händen verteidigen kann. Dass man dafür Waffen braucht. Es war ein langer Weg, und er hat viele Menschenleben gekostet. Trotzdem hat man die zunächst scheinbar unüberwindbare Kluft zwischen Schutzhelmen und Raubkatzen überwunden. Und die deutschen Medien haben sogar gelernt, die Namen der ukrainischen Orte aus dem Ukrainischen und nicht aus dem Russischen zu übertragen. Außer Kiew. Als würden sie immer noch glauben, dass das spätere Fürstentum Moskau etwas mit dem früheren Kiewer Reich gemeinsam hat.

Wir haben uns alle verändert. Besser gesagt: Dieses Jahr hat uns alle verändert. Wir sind älter geworden, aber viele von uns nicht um ein Jahr, eher um ein Jahrzehnt, als folgte die extrem verdichtete Zeit anderen physikalischen Gesetzen. Aber es ist nicht nur das Alter. Unsere Augen und unsere Sprache haben sich verändert, wie Serhij Zhadan betont. Es ist wichtig, dass es die Sprache der Liebe bleibt, nicht die Sprache des Hasses.

Ein Jahr. Man hat uns drei Tage gegeben. So lange sollte es dauern, bis die russischen Truppen Kiew einnehmen. Ein ehemaliger Abgeordneter des Deutschen Bundestages rief mich Ende Februar oder Anfang März an – genauer weiß ich es nicht mehr – und fragte, wieso Präsident Selenskij seine Evakuierung aus Kiew abgelehnt hatte. Für den deutschen Politiker sah es total unvernünftig aus, quasi einem Selbstmord gleich. Kiew werde doch fallen. Ich hatte damals eine vielleicht irrationale Hoffnung, dass es noch lange nicht vorbei ist. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass alles nicht so eindeutig ist. Aber was ist ein Bauchgefühl eines ahnungslosen verzweifelten Intellektuellen gegen die Einschätzungen der westlichen Thinktanks und Aufklärungsdienste?

Die Ukrainer haben die Welt eines Besseren belehrt. Wir haben bewiesen, dass Freiheit und Menschenwürde keine hohlen Worte sind. Wir waren bereit, für unsere Freiheit zu kämpfen und zu sterben, was anfangs für manch einen Europäer fast wie ein Anachronismus erschien. Das waren wir auch schon 2014 beim Euromaidan, als die Parole „Sklaven werden ins Paradies nicht hineingelassen“ populär wurde. Sie klingt übrigens viel poetischer und rhythmischer auf Ukrainisch als in deutscher Übersetzung.

„Unterschätzen Sie nicht die Stärke der Demokratie“, rief Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dem russischen Präsidenten in seiner Rede nach der Wiederwahl Anfang Februar 2022 zu. Es klang wie eine schöne stilistische Figur, fast wie ein Wunschdenken zu einer Zeit, als sich die dunklen Wolken des Unvermeidlichen immer bedrohlicher am Himmel über die Ukraine zusammenzogen. Heute sieht es so aus, als ob er recht haben könnte. Und die Ukraine hat einen essenziellen Anteil daran. Denn ohne den ukrainischen Widerstand würde die Welt heute wohl anders aussehen.

Aber es ist noch lange nicht vorbei. Nur gemeinsam können wir – Ukrainer, Europäer, Demokraten aller Welt – das Monster besiegen. Es ist wie im Märchen. Zunächst haben alle vor einem Monster Angst, aber dann fasst man sich ein Herz und bezwingt das Ungeheuer. Wir können und müssen alle dafür sorgen, dass dieses Märchen wahr wird. Sonst werden es uns unsere Kinder nicht verzeihen.

Lemberg, den 16. Februar, nachmittags


Ich wollte nicht wieder ein neues Abc erfinden. Zumindest nicht so schnell nach dem Kriegsalphabet (siehe unten, 25. Januar). Es hat sich einfach so ergeben. Der Vorteil bei der Erstellung von Alphabeten und Wörterbüchern ist, dass man nicht an einem zusammenhängen Text basteln und an logische Übergänge achten muss. Man erklärt nur kurz einen Begriff oder lässt die Definition ganz aus. Das Schwierige dabei ist, die Begriffe auszuwählen. Denn fast für jeden Buchstaben gibt es mehrere Kandidaten, man muss sich für einen oder höchstens für zwei entscheiden. Bei dem Alphabet des Putinismus war es echt keine einfache Wahl.

A – Aggression
Die Aggressoren seien immer die anderen – die USA, die Nato, die Ukraine ... Russland sei nie aggressiv gewesen, sondern immer nur von anderen bedroht und überfallen worden. In diesem Jahrhundert musste sich das flächenmäßig größte Land der Erde in Tschetschenien, Georgien, Syrien und der Ukraine „verteidigen“.

B – Berlin
Etwas, das man wiederholen will: die Einnahme Berlins 1945. Eine beliebte Drohung russischer Propagandisten in Talkshows und sonstigen Hasssendungen lautet, Berlin zu zerstören. Die Computeranimationen sollen dies veranschaulichen. Siehe auch: Vergangenheit.

C – China
Wunschpartner Putins in seinem Kampf gegen den Westen. Bisher hat diese Partnerschaft nur teilweise funktioniert. Symbolisch dafür stehen die Fernsehbilder vom einsamen Wladimir Putin während der Eröffnungszeremonie bei den Olympischen Winterspielen in Peking im Februar 2022. Als das ukrainische Team an der Tribüne vorbeimarschierte, waren seine Augen demonstrativ geschlossen. 20 Tage später ließ er seine Armee die Ukraine angreifen.

D – Dresden
Dienstort eines unbedeutenden KGB-Agenten.

E – Entnazifizierung
Neben der Entmilitarisierung die ursprüngliche Begründung des russischen Überfalls auf die Ukraine. Später kam das Ziel der „Entsatanisierung“ dazu.

F – Faschist
Potenziell jeder, der mit der offiziellen Meinung der russischen Führung nicht einverstanden ist und sich weigert, deren Weltbild, die Größe der russischen Zivilisation und die Tiefe der russischen Seele zu akzeptieren.

G – Geheimdienste
Tscheka – GPU – NKWD – MGB – KGB – FSB. Diese Reihe von Kürzeln steht für eine ununterbrochene Tradition der Überwachung, Terror, Brutalität und Hinterlist. Das Wesen des Regimes und seine wichtigste Stütze. (Beim Buchstaben „G“ war die Wahl besonders schwierig. Es gibt viele Begriffe, die zum Regime passen würden: Gasprom, Gewalt, Gräueltaten, Gulag, Glorifizierung der Geschichte ... Aber es sind die Geheimdienste, die seit dem bolschewistischen Umsturz das zentrale Element des Systems ausmachen).

H – Heilige Rus
Ein mysteriöser Begriff, in späteren Jahrhunderten zum Gründungsmythos der Romanow-Dynastie konstruiert. Besonders wichtig für den letzten russischen Zaren Nikolaus II., der daran glaubte, dass unter seiner Führung die Heilige Rus eine Wiedergeburt erlebte. Nach dem Zerfall der Sowjetunion ein wichtiger Teil der Rhetorik russisch-nationalistischer Gruppierungen und politisch-religiöse Begründung für die Einheit von Russland, Ukraine und Belarus. Wird von Patriarch Kyrill oft erwähnt.

I – Iljin
Iwan Iljin wird als Philosoph des russischen Faschismus bezeichnet. Der politische Emigrant und Gegner der Bolschewiken sah Hitler vor dem Zweiten Weltkrieg als Beschützer der Zivilisation vom Bolschewismus und attestierte ihm „enorme Dienste für ganz Europa“. Nach dem Krieg kritisierte er die Fehler des Faschismus und begeisterte sich für den spanischen General Franco und den portugiesischen Diktator António Salazar. Sah den Faschismus als Politik der Zukunft. Putin zitiert Iljin gerne, allerdings nicht diesen einen, aus dem 1948 erschienenen Essay „Über den Faschismus“ stammenden Satz: „Die russischen Faschisten haben das [die Fehler des Faschismus] nicht verstanden. Wenn es ihnen gelingt, in Russland an die Macht zu kommen (was Gott verhüten möge), werden sie alle staatlichen und gesunden Ideen kompromittieren und in Schande scheitern.” Die Ukraine (Kleinrussland) sah Iljin als immer an Russland gebunden an.

J – Jubelrufe
Gehören zur Entourage jedes Diktators. Er betrachtet sie als Ausdruck der Loyalität und will irgendwann nichts anderes hören.

K – Kiew
„Mutter russischer Städte“. Dieser konstruierte Mythos wurde auch von der traditionellen westlichen Geschichtsschreibung weitgehend übernommen. Tatsächlich hatte die spätere Gründung des Moskauer Fürstentums keinen direkten Zusammenhang mit der alten Kiewer Rus, und die Moskauer Herrscher verstanden sich nicht als Erben von Kiew. Den Anspruch darauf haben sie erst viele Jahrhunderte später erhoben. „Das Überdenken der üblichen russischen Nationalmythen, von denen die meisten auch zu Mythen der Weltrussistik geworden sind, ist keineswegs eine sinnlose Übung“, schrieb der US-amerikanische Historiker Edward L. Keenan Anfang der 1990er Jahre. Damals haben diese Mythen noch nicht als Begründung für den Angriffskrieg gedient, dessen Anfang der 2015 verstorbene Keenan nicht mehr erlebt hat.

L – Lügen
Das wichtigste Instrument der russischen Propaganda hat zwei Dimensionen – eine absolute und eine relativierende. Bei der ersten wird dreist gelogen, man verdreht Fakten, erfindet frei Geschichten und schafft parallele Wirklichkeiten. Die zweite Spielart behauptet, dass alle lügen. Es ist also der Normalzustand dieser Welt.

M – Medienfreiheit
Eine in Russland inzwischen ausgestorbene Spezies. Durch systematische Ausrottung seit Anfang der Nullerjahre nicht mehr existent. Zwanzig Jahre haben gereicht, um nun nicht mehr wirklich zu wissen, was in der Gesellschaft los ist. Ein typischer Weg für jeden Diktator.

N – NATO
Das superaggressive Teufelsbündnis, bevölkert vor allem von Homosexuellen, Hundefressern, Liliputanern, Genderfreaks und sonstigen Kannibalen. Ständige Bedrohung für alle Liliputiner, die sich heimtückisch an die Grenzen des Großen Russischen Reiches heranschleicht und es wie ein Oktopus mit Tentakeln umzingelt. Vor dem russischen Überfall auf die Ukraine grenzte Russland an fünf NATO-Staaten: Norwegen (als Folge der Annexion von finnischen Gebieten im Winterkrieg 1939-1940), drei baltische Staaten – Estland, Lettland und Litauen – und Polen (durch die Exklave Königsberg/Kaliningrad). Somit hat die NATO etwa fünf Prozent der gesamten russischen Landesgrenze bereits umzingelt.

O – Orban, Orthodoxe Kirche (Russische)
Das trojanische Pferd Putins in der EU. Der verlängerte Arm des Staates und des KGB-FSB (bitte richtig zuordnen).

P – Propaganda
Das wichtigste Ernährungsmittel, die Droge russischer Bürger, die morgens, mittags und abends in verschiedenen Formen verdünnt oder unverdünnt verabreicht wird – als Vorspeise, Hauptgericht und Dessert. Entzug nicht in Sicht.

Q – Querdenker, QAnon
Als Verschwörungstheoretiker mit oft rechtsextremen Hintergrund natürliche Verbündete des Putin-Regimes. Die meisten von ihnen haben den russischen Überfall auf die Ukraine begrüßt. Weit verbreitet ist bei dieser Gruppe die Übernahme der Narrative russischer Propaganda, die sie in ihre Verschwörungstheorien integrieren. Der Aggressor seien die USA und die NATO, es gebe eine geheime Weltregierung, Putin wollte mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine einen Kinderhandel-Ring sprengen sind nur einige in diesem Milieu weitverbreitete Thesen. Die „Weisen von Zion“ lassen grüßen.

R – Russische Welt
Zentraler Begriff des großrussischen Neoimperialismus. Bringt Krieg, Zerstörung, Terror, Gewalt, Menschenverachtung und Unterdrückung mit sich. Zu dieser „Welt“ gehört alles, worauf Russland Anspruch hat und wo nur ein Satz auf Russisch jemals gesprochen wurde. Geopolitische und ideologische Doktrin des Putinismus. Nach Darstellung von ihren besonders eifrigen Adepten ist die „Russische Welt“ die letzte Stütze der Zivilisation.

S – Spezialoperation, militärische
Im putinschen Neusprech eine euphemistische Bezeichnung für den brutalen Überfall auf ein souveränes Land. Wer in Russland den Krieg beim Namen nennt, kann im Gefängnis landen. Generell war man bei der Erfindung der Gründe für die Angriffe nie besonders kreativ. Bei der sowjetischen Invasion in Afghanistan im Jahr 1979 haben die Soldaten ihre „internationale Pflicht“ erfüllt. Beim Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei im August 1968 habe man nur der Bitte einer Gruppe tschechischer Kommunisten um sofortige Hilfe mit militärischen Mitteln entsprochen, und 1956 in Ungarn – einen konterrevolutionären Aufstand bekämpft.

T – Tolstojewski
Eine Symbiose zweier großer Klassiker der Weltliteratur, die oft in einem Atemzug genannt werden, und gleichzeitig ein Beispiel für eine besonders perfide Instrumentalisierung russischer Kultur durch das putinsche Regime. Tatsächlich steht das heutige Russland den vor allem von Dostojewski beschriebenen seelischen Abgründen viel näher, als man denkt.

U – Ukraine
Etwas, das mal gar nicht existiert, mal wahlweise eine Erfindung der Habsburger, des kollektiven bösen Westens oder Lenins ist. Der Traum und das Trauma sämtlicher großrussischen Nationalisten.

V – Verschwörungstheorien, Vergangenheit
Damit lässt sich fast alles erklären.

W – Washington
Sitz aller Dämonen, Inkarnation des Satans.

X – Xenophobie
Eine feindliche Einstellung gegenüber allen Fremden ist ein Markenzeichen von Despotien (kommt aber leider nicht nur dort vor). Mit der Zeit und bei wachsendem Bedarf nach neuen Feinden kann auch jeder Bürger des eigenen Staates zum Feind erklärt werden. Unter Stalin waren es Volksfeinde, unter Putin sind es „ausländische Agenten“.

Y – Yacht
Das bevorzugte Fortbewegungsmittel und das wichtigste Statussymbol jedes ernstzunehmenden russischen Oligarchen, vor allem wenn er loyal zum Regime ist und diesem dabei hilft, politische Ziele durchzusetzen.

Z – Zombie, Zivilisation
Der tote Körper des Sowjetischen, der nicht begraben wurde, habe sich heute erhoben und drohe der ganzen Welt mit Vernichtung (Wladimir Sorokin). Das Land dieser Zombies hat dazu noch den Anspruch, eine eigene, bessere oder gar einzig richtige Zivilisation zu sein. Siehe auch: Russische Welt.

Lemberg, den 9. Februar, nachmittags

Manchmal wird Politik mit Schach verglichen. Dadurch wird suggeriert, dass Politiker in der äußerst komplizierten Verflechtung von oft einander entgegengesetzen Interessen besonders klug und strategisch denken und handeln sowie taktische Finessen jeder Art beherrschen müssen. Die politische Weltkarte wird im geostrategischen Denkmuster als großes Schachbrett betrachtet, wie der englische Originaltitel des 1997 erschienenen, wohl bekanntesten Buchs von Zbigniew Brzezinski andeutet: „The Grand Chessboard“. In der deutschen Übersetzung ist diese Anspielung des ehemaligen US-amerikanischen Politikwissenschaftlers und Sicherheitsberaters von Präsident Jimmy Carter auf das Brettspiel verschwunden, es erschien 2015 unter dem Titel „Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft“.

Ob der Vergleich der Politik mit Schach zutreffend ist, bleibt dahingestellt. Die verschiedenen Gesellschaften und Interessen der Staaten sind wesentlich kompliziertere Phänomene als das vom Menschen vermutlich in Nordindien zwischen dem 3. und 6. Jahrhundert erfundene Spiel. Auf jeden Fall haben aber Politiker und Schachspieler etwas gemeinsam – sie machen Fehler. Zuletzt waren es vor dem russischen Überfall vor allem Vertreter westlicher Regierungen, seitdem ist es Wladimir Putin. Die Leidtragende dieser langen Reihe von Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen war und bleibt die Ukraine.

Man könnte es auch etwas anders formulieren: „Die Fehler sind alle da, sie müssen nur noch gemacht werden“, wie einmal Savielly (Xavier) Tartakower sagte, einst einer der besten Schachspieler der Welt. Und einer der witzigsten – seine pointierten Sprüche sind unter Schachspielern als „Tartakowerismen“ bekannt.

Brzezinski (1928-2017) und Tartakower (1887-1956) haben kaum etwas gemeinsam, außer dass der Krieg beide zur Suche nach der neuen Heimat zwang. Bei dem älteren – Tartakower – war es der Erste Weltkrieg, bei dem jüngeren – Brzezinski – der Zweite. Eine Generation trennte die beiden. Tartakower wuchs in Rostow am Don im russischen Zarenreich als Kind einer polnischen Mutter und eines österreichischen Vaters auf, von dem er die österreichische Staatsbürgerschaft besaß. Brzezinskis Familie gehörte zum polnischen Kleinadel. Tartakower wurde in eine wohlhabende, zum römisch-katholischen Glauben konvertierte jüdische Kaufmannsfamilie hineingeboren. Brzezinskis Vater Tadeusz, der im ukrainisch-galizischen Solotschiw zur Welt kam, kämpfte in den Jahren 1918-1920 als Freiwilliger zunächst im Polnisch-Ukrainischen und dann im Polnisch-Sowjetischen Krieg; später trat er in den diplomatischen Dienst für den neuen polnischen Staat ein. Savielly Tartakower, nur elf Jahre älter als Tadeusz Brzezinski, diente im Ersten Weltkrieg als Offizier in der österreichisch-ungarischen Armee; sein jüngerer Bruder fiel an der Front. Sowohl Savielly als auch Tadeusz studierten Jura – der ältere vor dem Krieg in Wien, der jüngere in den Kriegsjahren in Wien und in Lemberg.

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Die Brzezinskis blieben nach dem Zweiten Weltkrieg am letzten Dienstort von Vater Tadeusz im kanadischen Montreal – ins nunmehr kommunistische Polen wollte die Familie nicht zurückkehren. Tartakower lebte nach dem Ersten Weltkrieg in Paris als professioneller Schachspieler, Journalist und Buchautor. Da es keine Doppelmonarchie mehr gab, wurde er kraft Geburt zunächst ganz kurz ukrainischer (sein Geburtsort Rostow gehörte nach dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk zur kurzlebigen Ukrainischen Volksrepublik), und dann – durch polnische Abstammung seiner Mutter – polnischer Staatsbürger. Er sprach Deutsch und Französisch, aber kein Polnisch. Zu diesem Zeitpunkt lebten seine Eltern schon lange nicht mehr, sie sind vor dem Krieg in Russland während eines Raubüberfalls ermordet worden.

In den 1920er Jahren, also in dem Jahrzehnt, als Zbigniew geboren wurde, gehörte Tartakower zur Weltspitze, auch wenn er nie um die Weltmeisterschaft spielte. 1957, als der junge Harvard-Professor Zbigniew Brzezinski zum ersten Mal sein Geburtsland Polen besuchte und sich in der Vorstellung, dass Osteuropa die sowjetische Dominanz irgendwann abwerfen wird, bestätigt fühlte, war Tartakower bereits tot. Ein Jahr zuvor ist er in Paris verstorben. In den letzten Jahren seines Lebens hatte er die Staatsbürgerschaft seiner Wahlheimat Frankreich angenommen, für die er im Zweiten Weltkrieg kämpfte.

Macht er die besseren Schachzüge? Wolodymyr Selenskyj
Macht er die besseren Schachzüge? Wolodymyr Selenskyj
Quelle: Efrem Lukatsky/AP/dpa

Zbigniew Brzezinski wurde 1958 US-amerikanischer Staatsbürger. Sein Weltbild und politische Auffassungen wurden nach eigenen Aussagen von den Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs, vor allem gegenüber Polen, geprägt. Bei Savielly Tartakower muss es vor allem der Erste gewesen sein. Ob er sich dazu jemals öffentlich geäußert hat, ist nicht überliefert.

Zum Thema Taktik und Strategie hatte Tartakower übrigens auch einen Spruch: „Taktik bedeutet zu wissen, was zu tun ist, wenn es etwas zu tun gibt. Strategie bedeutet zu wissen, was zu tun ist, wenn es nichts zu tun gibt.“ Das gilt für Politiker genauso wie für Schachspieler: Man muss beides beherrschen. Vielleicht hat Politik doch mehr mit Schach zu tun als man glaubt.

Lemberg, den 2. Februar, abends

Laut der jüngsten Umfrage unterstützen 87 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer den EU-Beitritt. 86 Prozent wollen ihr Land in der Nato sehen. Ganze drei Prozent sind dagegen – es müssen vor allem die unverbesserlichen Anhänger der „russischen Welt“ oder die ganz naiven Optimisten sein. Rund 10 Prozent konnten sich nicht entscheiden.

Im ersten Augenblick habe ich meinen Augen nicht getraut. Vielleicht habe ich mich zu lange nicht wirklich für Meinungsumfragen interessiert. Nein, selbstverständlich wusste ich, dass seit dem russischen Überfall die Unterstützung für die Mitgliedschaft im Nordatlantischen Verteidigungsbündnis in die Höhe schoss und kurz danach bereits über 70 Prozent lag. Bei der letzten Umfrage war es jedoch noch mal eine deutliche Steigerung. Nun gibt es praktisch keine Unterschiede mehr zwischen West und Ost oder jung und alt – in allen ukrainischen Regionen und allen Altersgruppen ist der Wunsch nach dem Nato- und EU-Beitritt überwältigend.

Wahrscheinlich ist es der höchste Wert überhaupt, der je in einem Land gemessen wurde. Und eine „Meisterleistung“ von jener Person, die dazu entscheidend beigetragen hat: Wladimir Putin. Nach der Annexion der Krim und dem von Russland angezettelten Krieg im Donbas gab es 2014 in der ukrainischen Bevölkerung zum ersten Mal eine Mehrheit für den Nato-Beitritt (für die EU-Mitgliedschaft waren es bereits Jahre zuvor über 60 Prozent). Seitdem wuchs die Unterstützung nur langsam, und es gab eine klare Korrelation: Im Osten und im Süden sowie in der Gruppe der über Fünfzigjährigen war sie deutlich geringer, im Westen und im Zentrum sowie bei den jüngeren Menschen wesentlich höher. Der Überfall im Februar 2022 änderte alles. Elf Monate nach der Invasion sprachen sich nun auch in den östlichen Regionen 80 Prozent der Ukrainer für den Nato-Beitritt, in der Gruppe über 51 Jahren waren es sogar 85 Prozent. Es ist das endgültige Ende des alten sowjetischen Propagandamythos über die „böse“ westliche Allianz.

Ob diese Werte dem russischen Präsidenten mitgeteilt werden? Wohl eher nicht. Es sei denn, man würde nach der „8“ noch ein Komma hinzufügen, dann wäre es nur noch ein Zehntel von der Realität. Aber vielleicht interessieren Putin gar keine Umfragewerte bei einem Volk, das in seinem Kopf überhaupt nicht existiert.

Am Grab eines ukrainischen Soldaten in Charkiw
Am Grab eines ukrainischen Soldaten in Charkiw
Quelle: dpa/Francisco Seco

Irgendwann scheitern alle Diktatoren und Autokraten, weil sie ab einem bestimmten Zeitpunkt in ihrer eigenen Welt an der Realität vorbei leben. Das ist eine gute Nachricht. Es gibt aber auch eine schlechte – bis dahin richten sie in der Regel sehr viel Schaden an.

Lemberg, den 25. Januar, abends

Damit Kinder das Abc besser lernen, werden in Kinderbüchern die Buchstaben schön bebildert. So sieht zum Beispiel ein Kind in einem englischen Buch neben dem Buchstaben „B“ und dem Wort „Butterfly“ einen Schmetterling. Auf diese Weise kann es sich das fremde Alphabet und die neuen Wörter schneller aneignen.

Nach elf Monaten russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine könnte man ein Abc mit Namen der von Russland zerstörten ukrainischen Städten und Dörfern zusammenstellen. Man könnte es auch bebildern. Zu jedem Buchstaben hätte es da mehrere Namen gegeben. Es wäre ein unentbehrliches Handbuch für Richter in einem internationalen Prozess gegen die Kriegsverbrecher in der russischen Führung und beim russischen Militär.

Ich habe nun versucht, ein etwas anderes Abc für Erwachsene zusammenzustellen. Man könnte es ein politisches Kriegsalphabet bezeichnen.

A – Abrams
Ein Wunder in Gestalt eines US-amerikanischen Panzers, das die Ukrainer dringend brauchten, damit Deutschland seine Leoparden liefert. Nun weiß man, dass Wunder manchmal wahr werden.

B – Bedacht
Das Lieblingswort der Bundesregierung, wenn sie bestimmte Waffen nicht liefern will. Dann heißt es, man handle „mit Bedacht“. Synonyme: Unentschlossenheit, Verzögerungstaktik. Siehe auch: Scholzing.


C – Caesar
Auch wenn Wikipedia bei diesem Begriff immer noch Julius Caesar an der ersten Stelle führt: Die meisten Ukrainer werden heute auf die selbstfahrende französische Haubitze als richtige Antwort tippen, nicht auf den römischen Staatsmann und Feldherrn.

D – Diesel, Drohne
Jedes ukrainische Kind weiß inzwischen, dass Panzer Diesel als Treibstoff brauchen. Und dass eine Drohne nicht nur ein Spielzeug ist.

E – Eskalation
Etwas, wovor westliche Politiker Angst haben. Besonders die deutschen Sozialdemokraten, bei denen das schwere Erbe der Russland-Annäherung tiefe Spuren hinterlassen hat. Es ist interessant, dass viele kleinere Staaten weniger Angst vor Eskalation haben. Und die Ukrainer verstehen sowieso nicht, wie man noch weiter eskalieren kann. Eins haben sie aber sehr wohl verstanden: Wenn sich das Opfer nicht wehrt, wird es nur schlimmer kommen. Es reicht, an Butscha oder Mariupol zu denken.

F – F 16
Dieses Kampfflugzeug steht nach den Panzern ganz oben auf der Wunschliste Kiews.

G – Gepard
Als Raubkatze kann ein Gepard schnell laufen. Als Flugabwehrkanonenpanzer kann er schnell schießen. Besonders effizient beim Abschuss iranischer Kamikaze-Drohnen, die seit Herbst von Russland eingesetzt werden.

H – Haubitze
Ein ziemlich vielseitiges Artilleriegeschütz. Kann sowohl in einem steilen als auch in einem flachen Winkel schießen. Je nach Modell fährt die Lafette auf Rädern oder Ketten selbst. Oder sie wird gezogen. Dank Lieferungen von westlichen Haubitzen und Raketenwerfern hat Russland nun keinen überwältigenden Vorteil bei der Artillerie mehr.

I – IRIS-T
Eines der besten Luftverteidigungssysteme aus deutscher Produktion. Ein IRIS-T wird inzwischen in der Ukraine eingesetzt. Drei weitere sollen folgen. Die Soldaten der ukrainischen Luftabwehr sind begeistert.

J – Javelin
Der Lieblingsname für ukrainische Katzen. Diese Panzerabwehrlenkwaffe spielte – zusammen mit Stinger-Luftabwehrraketen – eine entscheidende Rolle beim Zurückschlagen der russischen Truppen in den ersten Tagen (und Wochen) nach dem Überfall. Andere westliche Waffen hatten ukrainische Streitkräfte zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Inzwischen glauben manche Kinder, dass sich die englische Bezeichnung für den Wurfspeer von dieser Panzerabwehrwaffe ableitet.

K – Kalibr
Klingt zum Verwechseln ähnlich mit dem Namen des südamerikanischen Vogels Kolibri. Anders als der kleine Vogel kann diese russische Präzisionsrakete großen Schaden anrichten. Allerdings verdichten sich die Anzeichen dafür, dass Russland nicht mehr so viele Kalibr-Raketen hat und sparsam damit umgehen muss.

L – Leopard
Na endlich, geht doch! Warum sich die deutschen Waffenhersteller bei ihrem fahrenden gepanzerten Gerät für Raubkatzennamen entschieden haben, ist Nebensache. Bis vor kurzem war mir nur ein Beispiel für massive Verwendung von Raubkatzennamen bekannt – in einer Reihe von Betriebssystemen für Apple-Computer während der Steve-Jobs-Ära.

L wie Leopard. Ein Kampfpanzer während einer Bundeswehrübung.
L wie Leopard. Ein Kampfpanzer während einer Bundeswehrübung.
Quelle: Peter Steffen/dpa


M – Moskwa
Die teuerste Anschaffung der russischen Meeresbodentruppen. Grundsätzlich wünschen sich die Ukrainer, dass das gesamte russische Kriegsgerät dem Beispiel des ehemaligen Flagschiffs der Schwarzmeerflotte folgt.

N – Neptun
Dieser ukrainische Flugkörper soll den Kreuzer „Moskwa“ versenkt haben. Außerdem ist möglich, dass dabei der römische Gott der Meere seine Hand im Spiel hatte, weil ihn die russischen Kriegsschiffe ständig irritiert hatten.

O – OSINT
Dieses unverständliche Kürzel steht für „Open Source Intelligence“. Dabei geht es um Informationsbeschaffung aus offenen, frei zugänglichen Quellen. Bei der Aufklärung sollen etwa 90 Prozent aller Informationen aus offenen Quellen gesammelt werden.

P – Patriot
Hat nichts mit Patriotismus zu tun. Zumindest nicht direkt. Ein US-amerikanisches Flugabwehrsystem, das auch ballistische Raketen abschießen kann. Für den Schutz gegen den russischen Raketenterror unentbehrlich. Zwei davon sollen demnächst in der Ukraine eintreffen. Derzeit kann man die Systeme aus der Ferne im polnischen Rzeszow bei der Fahrt zum Flughafen sehen, den sie beschützen.

Q – Quadrocopter
Eine Drohne mit vier Rotoren. Solche Modelle, die ursprünglich für privaten und kommerziellen Gebrauch entwickelt wurden, kommen an der Front vor allem für Aufklärungszwecke zu Hunderten und Tausenden zum Einsatz.

R – Ringtausch
Hat nie funktioniert.

S – Scholzing
Eine Neuschöpfung aus dem englischen politischen Lexikon. Laut der Definition des britischen Historikers Timothy Garton Ash bedeutet es so viel wie „gute Absichten kommunizieren, nur um dann jeden erdenklichen Grund zu nutzen/finden/erfinden, um sie zu verzögern und/oder zu verhindern“.

T – Torpedo
Ein in Russland bei Fußballclubs verbreiteter Name. Als Unterwasserwaffe im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine bisher nicht eingesetzt.

U – Unterstand
Hier sitzen Sanitäter zwischen ihren Einsätzen, bei denen sie unter Beschuss Verwundete evakuieren.

W – Wagner
Richard Wagner würde sich im Grabe umdrehen, wenn er hörte, dass heutzutage sein Name für eine russische Söldnertruppe steht. Die Männer nennen sich selbst „Musikanten“, werben für ihr „Orchester“ und rekrutieren im Krieg gegen die Ukraine Strafgefangene als Kanonenfutter. Bisher haben die russischen Söldner ihre blutigen Spuren in Syrien und in mehreren afrikanischen Staaten hinterlassen.

X – Russische Marschflugkörper
X-22, X-55 oder X-101 sind russische Bezeichnungen für die Hauptwerkzeuge des Terrors gegen die ukrainische Zivilbevölkerung. Eigentlich ist es ein Buchstabe aus dem kyrillischen Alphabet, der als „Cha“ ausgesprochen wird. Vorrangige Angriffsziele: Wohnhäuser, Handelszentren, Umspannwerke usw. Zivile Opfer interessieren russische Piloten nicht. Für russische Generäle gilt eher: Je mehr Opfer unter der Zivilbevölkerung, desto besser.

V, Z – zusätzliche Buchstaben im russischen Alphabet, die eine aggressive Unterstützung des Angriffskriegs gegen die Ukraine symbolisieren. Inzwischen auch zwei neue Wodka-Sorten. Gerüchten zufolge steigert deren Konsum die Unterstützung der sogenannten „Spezialoperation“. Und umgekehrt.

Lemberg, den 20. Januar, abends

Jaropolk kehrte vom Einsatz krank zurück. Sein Rücken tat höllisch weh, er hatte Fieber und war nach zwei Tagen an der Frontlinie total entkräftet. Kräftezehrend waren die Einsätze eigentlich immer gewesen, aber diesmal sah es schlimmer aus als sonst. Jaropolk ist im Sanitätsdienst eines Bataillons, und seine Aufgabe ist, Verwundete zu evakuieren.

Die Männer und – seltener – Frauen arbeiten zu zweit, die Schicht dauert 48 Stunden. In den kurzen Feuerpausen, aber oft auch unter Beschuss verlassen sie ihren Unterstand, um Erste Hilfe zu leisten und die Verwundeten ins Feldlazarett zu bringen. Nicht selten hängt das Leben eines Soldaten davon ab, wie schnell er abtransportiert wird. Es ist ein Rennen gegen den Tod. Da hat man keine Zeit, sich mit dem eigenen Fieber zu beschäftigen.

Um den Jahreswechsel wurde Jaropolks Einheit nach Osten verlegt. Dort toben seit Wochen schwere Kämpfe. Seitdem arbeitet er fast wie am Fließband. Wie viele ukrainische Soldaten täglich sterben, weiß man nicht genau. Es werden keine Zahlen veröffentlicht. Im Krieg will man die Moral der eigenen Bevölkerung nicht auf die Probe stellen. Der ukrainische Generalstab meldet nur geschätzte Verluste der russischen Invasoren. Zuletzt bewegten sich diese Zahlen zwischen 700 und 900 Toten. Womöglich sind es größtenteils die ehemaligen russischen Gefangenen, die als Kanonenfutter für die Wagner-Söldnergruppe angeheuert worden sind. Selbst der Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin räumt große Verluste unter seinen Männern ein. In einer solchen Situation versteht man intuitiv, dass es auf der ukrainischen Seite auch mehr als nur ein paar Dutzend Verwundete gibt. Deutsche Medien berichten über dreistellige Zahlen der täglich gefallenen ukrainischen Soldaten. Andere unabhängige Quellen wollen diese Schätzungen nicht bestätigen.

Neulich geriet Jaropolks Geländewagen, mit dem er einen Verwundeten evakuierte, unter Beschuss. Alle haben überlebt, aber der Wagen ist nicht mehr zu gebrauchen. Vielleicht hätte der junge Arzt weniger zu tun, wenn die ukrainische Armee mehr Panzer und gepanzerte Mannschaftstransporter hätte. Aber so kostet die politische Panzerschlacht um die Lieferung von schwer gepanzertem Militärgerät mit Raubkatzennamen aus deutscher Produktion jeden Tag neue Menschenleben.

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Nach dem Einsatz hat Jaropolk normalerweise zwei Tage Zeit, um sich ein paar Kilometer von der Frontlinie entfernt zu erholen. Auch hier kann jederzeit eine Granate einschlagen, also verbringen die Sanitäter die meiste Zeit im Keller einer Bauernkate, die für sie zu einem improvisierten Zuhause geworden ist. Die Zweier-Gruppen arbeiten im Zwei-Tage-Rhythmus. Zwei Tage evakuieren, zwei Tage ausruhen. Und eventuell eine Krankheit auskurieren. Diesmal ist es komplizierter. Das Fieber ist abgeklungen, der Unterrücken tut aber nach wie vor weh. Es gibt keine Alternative – Jaropolk wird nun für ein paar Tage ins Militärkrankenhaus nach Dnipro geschickt.

Nach dem Medizinstudium behandelte er Patienten mit chronischen Schmerzen. Sein Traum war, die Menschen vom Schmerz zu befreien, ihnen eine Rückkehr zum normalen Leben ermöglichen. Nun muss er selbst mit Schmerzen kämpfen. Vor allem mit seelischen Schmerzen. Und eine Rückkehr zum normalen Leben ist noch lange nicht in Sicht. Die Soldaten erzählen selten von ihren Erlebnissen an der Front. Die Ärzte tun es noch seltener. „Es ist auf jeden Fall nicht so, wie die Medien darüber berichten“, sagt Jaropolk, den alle seine Freunde einfach Jarko nennen. Auch ein polnischer Notfallsanitäter, der freiwillig in der Ukraine im Einsatz ist, äußert sich nur kurz dazu: Dass, was man in diesem Krieg manchmal sehe, sei selbst für einen Arzt schwer zu ertragen. Diejenigen, die nicht an der Front gekämpft haben, werden es wohl nie begreifen können. Es ist eine unüberwindbare Kluft.

Ich weiß nicht genau, wie alt Jaropolk ist. Bei unserem letzten Telefonat wollte ich ihn nicht danach fragen. Er müsste etwa Mitte Dreißig sein, ein paar Jahre hin oder her. Ich könnte mich bei seiner älteren Schwester nach seinem genauen Alter erkundigen, aber es ist nicht die Zeit für banale Fragen. Jaropolk, ein sehr sensibler, etwas impulsiver und emotionaler Mensch, telefoniert täglich mit ihr. Nein, nicht täglich – an der Front gibt es ja gar kein Netz, – nur, wenn er zwei Tage nicht im Einsatz ist. Dann erzählt er ihr ein bisschen vom Erlebten. Für alle anderen heißt es, er sei ok, und auch ansonsten sei alles in Ordnung.

Nach dem russischen Überfall hat er sich – wie viele seine Freunde – freiwillig gemeldet. Im Urlaub ist er seitdem nur einmal gewesen. Es war im Sommer, als seine neunjährige Tochter Justyna von einem Hund gebissen wurde und operiert werden musste. Zu Weihnachten haben viele seiner Kameraden freibekommen. Jaropolk wollte nicht. Er sagt, er würde nie mehr nach Hause fahren, solange dieser Krieg dauert. Der Gedanke, dass er nach dem Urlaub wieder in die Kampfgebiete zurückkehren müsse, sei für ihn einfach unerträglich. Und dann klingen ihm noch Justynas Worte in den Ohren. Im Krankenhaus sagte sie: „Papa, ich verstehe, dass du jetzt wieder an die Front musst. Aber wenn du wieder kommst, gehst du bitte nicht mehr weg.“ Er hat’s ihr versprochen.

Lemberg, den 11. Januar, nachmittags

Sie kamen nach Lemberg in den 1970er-Jahren. Die Zweizimmerwohnung war sonnig und fast leer. In der Stube stand nur eine schwere eiserne Truhe, von der Zeit geschwärzt. Die Familie zog ein – Iwan, ein Oberst der Sowjetarmee, in der Nähe von Charkiw geboren, seine Frau Lilia und zwei Töchter. Die Soldaten trugen die Möbel und Umzugskisten hinein. Die eingerollten Teppiche aus Aserbaidschan und Georgien, polnisches Essgeschirr, eingepackt in die Zeitung „Prawda”, die eingeschnürten gesammelten Werke von Puschkin, Dostojewski, Lenin und Shakespeare, unzählige Kartons mit Damenschuhen, einen weißen DDR-Schrank, selbstgebastelte Bücherregale, eiserne Betten. Ein typischer Familienbesitz eines sowjetischen Offiziers. Es war Iwans letzter dienstlicher Umzug.

Die beiden Töchter wuchsen heran, verließen die elterliche Wohnung, heirateten und kehrten – nachdem ihre Ehen gescheitert waren – pünktlich zum Zerfall des Imperiums zu ihren Eltern zurück. Jede von ihnen brachte eine Tochter mit. Der inzwischen pensionierte Fliegeroberst der sowjetischen Luftwaffe träumte vom Fliegen. Seine Frau, die Große Oma, saß nun im Sessel vorm Fernseher und roch nach Karamellbonbons, frischer Wäsche, starkem Tee, Hustenbonbons, nach Mehl, Garn und ein bisschen nach Erdöl. Sie war in Aserbaidschan aufgewachsen. Die ältere Tochter, Tamara, hatte einige Jahre in Deutschland verbracht, wo ihr Ehemann, ein sowjetischer Offizier, stationiert war. Den Abzug der Sowjettruppen erlebte sie als persönliche Tragödie.

Ukrainisches Militär mit Ziel Bachmut
Ukrainisches Militär mit Ziel Bachmut
Quelle: pa/AA/Diego Herrera Carcedo

Nun träumte sie von Deutschland und hasste Lemberg – genauso wie ihre pubertierende Tochter. Eine Stadt, in die sie zurückkehren mussten, aber nicht wollten, und die für beide fremd geblieben ist. Die jüngere Tochter, Olja, die einen Ukrainer heiratete, aber kaum eine glücklichere Ehe hatte, versuchte sich nun den neuen Umständen anzupassen und gleichzeitig ehrlich und prinzipienfest zu bleiben. Als Geschichtslehrerin warf sie das alte sowjetische Narrativ über Bord und eignete sich mühsam die neuen Fakten in der für sie neuen Sprache – Ukrainisch – an. Ihre kleine Tochter, Mascha, war die einzige, die in Lemberg, seine Stimmen, Gerüche und Geräusche verliebt war. Sehen konnte sie die Stadt allerdings nicht, nach einer schweren Krankheit war sie erblindet.

Es ist eine Familiensaga, ein Familiendrama sowie ein Panorama der Sowjetzeit und der ersten wilden Jahre der ukrainischen Unabhängigkeit, mit kleinen, dezenten Pinselstrichen liebevoll und einfühlsam skizziert von der 1986 geborenen ukrainischen Schriftstellerin Viktoria Amelina in ihrem Roman „Haus für Dom“ von 2017 (bisher nicht ins Deutsche übersetzt). Dom ist übrigens eine Kurzform von Dominik, einem Pudel, der zusammen mit der Familie in der Wohnung lebt, in der der polnische Science-Fiction-Autor und Essayist Stanislaw Lem aufgewachsen ist.

Leutnants, Majore, Obersten, Generäle… Alle zogen mit ihren Familien quer durch das Land, von Zentralasien nach Baltikum, vom Fernen Osten in die Ukraine, von Kaukasus nach Moldawien. Es war ein recht typisches Schicksal eines sowjetischen Offiziers. Nicht jede Familie, die nach Lemberg versetzt wurde, landete in einem österreichischen oder polnischen Altbau. Die Generäle durften alte Villen aus der Zwischenkriegszeit beziehen. Die unteren Chargen mussten sich mit einer engen Wohnung in einem sowjetischen Neubau begnügen. Manchmal wurden ganze Häuser oder Wohnblöcke für Militärangehörige reserviert, aber nicht selten einzelne Wohnungen in einem „zivilen“ Hochhaus.

Straßenszene aus Lemberg: Zu Sowjetzeiten wurden russischen Offizieren und ihren Familien oft Wohnungen in Privathäusern zugewiesen.
Straßenszene aus Lemberg: Zu Sowjetzeiten wurden russischen Offizieren und ihren Familien oft Wohnungen in Privathäusern zugewiesen.
Quelle: Mark Mvohlhaus/attenzione/Agentur Focus

Die Offiziere und ihre Familien sprachen Russisch. Ihre Kinder besuchten Schulen mit Russisch als Unterrichtssprache. Ukrainisch wurde in diesen Schulen zwar als Fach unterrichtet, die Offizierstöchter und Jungs waren jedoch vom Erlernen dieser „überflüssigen Fremdsprache“ befreit. Die offizielle Begründung lautete: Man darf den Kindern nicht bei jedem Wechsel des Dienstortes ihrer Väter die Nationalsprache einer weiteren sowjetischen Republik zumuten. Allerdings mussten die Kids beim Sprachunterricht in der Schulklasse sitzen, nur benoten durfte man sie nicht. Für viele Ukrainischlehrerinnen – männliche Lehrkräfte waren in den Schulen sowieso eine Seltenheit, und in diesem Fach sogar eine ganz besondere Rarität – war es ein Horror, der sich mehrmals täglich wiederholte. Denn praktisch in jeder Schulklasse saß ein halbes Dutzend Offizierskinder.

Die Offiziersfrauen arbeiteten oft selbst als Lehrerinnen. Wie bei den Männern gab es hier ebenfalls eine klare Hierarchie. Eine Generalsgattin war des Amtes einer Schulleiterin würdig, andere Frauen unterrichteten Russisch, Mathe oder Chemie. Am nächsten Dienstort wiederholte sich die Geschichte. Das Leben verlief in geordneten Bahnen. Bis die Sowjetunion zusammenbrach. Da musste man sich entscheiden.

Einige Offiziere setzten ihre Karrieren in Russland fort. Einige Töchter heirateten den einen oder anderen russischen Leutnant oder Major. Andere sind geblieben. Ihre alten Dienstwohnungen durften sie privatisieren. Nun lebten sie zum ersten Mal in den eigenen vier Wänden. Der Unterricht wurde nach und nach aufs Ukrainische umgestellt. Die ehemaligen Russischlehrerinnen brachten jetzt den Schülern die Meisterwerke der Weltliteratur bei. Die Geschichtslehrerinnen warfen ihre alten Aufzeichnungen weg und unterrichteten ukrainische Geschichte. Mit der Zeit wechselten viele im Alltag ins Ukrainische. Andere sind bei Russisch geblieben.

Wie die Nachbarin meiner alten Studienfreundin. Wir trafen uns öfter in ihrer Wohnung, sie gehörte zu unserer Studentenclique. Es war ein langgezogener neunstöckiger Ziegelneubau aus den 70er-Jahren, etwas besser geplant. „Nach einem tschechischen Projekt“, hieß es, was damals wie ein Qualitätssiegel klang. Die Nachbarin und ihr Mann wohnten einen Stock höher, schräg gegenüber. Der Mann war beim Militär, ein Oberstleutnant vielleicht, oder gar ein Oberst. Die Frau unterrichtete Russisch an irgendeiner Lemberger Schule. Ihre zwei Töchter wuchsen heran. Ob sie als Erstmieter die Dienstwohnung bezogen hatten, spielt nicht wirklich eine Rolle. Sie waren aber die letzten.

Das Leben ging weiter. Was in all den Jahren genau passiert ist, weiß meine Studienfreundin nicht mehr im Detail. Ihre Nachbarin lebt nun allein und ist längst in Rente. Ihr Mann ist gestorben, beide Töchter sind ausgezogen. Eine der beiden heiratete einen russischen Offizier und zog nach Sankt Petersburg. Als sie 2014 ihre Mutter besuchte, war sie fest davon überzeugt, dass der Euromaidan von den Amerikanern organisiert wurde. Die andere Tochter ist bei der ukrainischen Armee, bei der Militärakademie in Lemberg. Im Alltag spricht sie Russisch, im Dienst Ukrainisch. Beide Töchter reden längst nicht mehr miteinander.

Die alte Frau, inzwischen wohl deutlich über 70, hatte in Russland einen Bruder, der bis zu seiner Pensionierung in der russischen Armee diente. Vor wenigen Wochen ist er gestorben. Als meine alte Studienfreundin ihrer Nachbarin kondolierte, winkte diese nur resigniert ab: „Zumindest wird er mir nie mehr sagen, dass wir Russischsprachige in Lemberg an Straßenlaternen aufgehängt würden.“ Sie sagte es übrigens auf Russisch.

Lemberg, den 4. Januar, abends

Im Krieg stumpfen mit der Zeit viele Gefühle ab. Es ist nicht anders als im normalen Leben, nur dass die kollektive Intensität des Erlebten von einer anderen Dimension ist. Der Schock der ersten Stunden nach dem Überfall ist längst vergessen. Die Angst während des Luftalarms weicht der Routine der Automatismen. Die Wutwellen nach jeder neuen Entdeckung von Gräueltaten der russischen Besatzer sind flacher geworden. Auf die ersten Meldungen über die Verbrechen in Butscha hat man viel direkter und emotionaler reagiert.

Nein, man ist nicht gleichgültiger geworden. Die Ärzte begründen diese scheinbare Gewöhnung an die Gräuel des Krieges damit, dass der Mensch psychologisch nicht dieselbe Anspannung auf unbestimmte Zeit aushalten kann.

Ich will hier gar nicht verallgemeinern. Jeder Mensch reagiert anders. Viele kriegen Panikattacken bei den schrillen Tönen der Warnsirenen. Es ist eine absolut verständliche menschliche Reaktion. Aber trotz jeder individuellen Wahrnehmung lassen sich bestimmte Verhaltensmuster unterscheiden. Eines davon ist das immer wiederkehrende Schuldgefühl. Bei manchen kommt es oft und regelmäßig auf, bei anderen nur sporadisch, noch andere kennen es womöglich gar nicht. Bei einigen kann es zu Depressionen führen, die ärztlich behandelt werden müssen. Andere vertragen es auf den ersten Blick eher leicht. Es kommt in unzähligen Variationen vor, die allerdings alle eins gemeinsam haben: Mit wirklicher Schuld hat dieses Schuldgefühl in der Regel nichts zu tun.

Das Schuldgefühl der Soldaten, deren Kameraden gefallen sind. Das Schuldgefühl der Angehörigen, die ihre Liebsten im Raketenangriff verloren, selbst aber unverletzt überlebt haben. Das Schuldgefühl der Menschen, die russische Besatzung erfahren mussten. Am eindringlichsten hat es wohl eine alte Oma in einem Dorf in der Südukraine formuliert. Sie hat sich bei den ukrainischen Soldaten, die ihr Dorf gerade befreit hatten, entschuldigt – dafür, dass „wir hier die Russen hereingelassen haben“. Das Schuldgefühl, wenn man nicht an der Front kämpft. Wenn man in einer relativ sicheren Stadt oder einem ruhigen Provinzstädtchen im Westen des Landes lebt und nicht ständig – wie die Menschen in der Ost- und Südukraine – den russischen Raketenangriffen ausgesetzt ist. Wenn man Strom und Heizung hat und weiß, dass die anderen im Dunkel und in der Kälte ausharren müssen. Wenn man sich fragt, ob man das Richtige tut. Ob man überhaupt genug tut.

Man liest fast täglich solche Geschichten. Man hört sie immer wieder von Freunden und Bekannten. Man erlebt sie persönlich. Der Krieg hinterlässt bei jedem Spuren, selbst wenn sie manchmal unsichtbar sind. „Unsere Augen und unsere Blicke sind anders geworden“, hat einmal Serhij Zhadan gesagt. Sie werden nicht mehr die alten sein.

Lemberg, den 29. Dezember, abends

Laut Familienlegende arbeitete meine Großtante eine Zeit lang beim städtischen Stromversorger. Sie hat Kundenbücher geführt. Ich weiß nicht genau, ob das stimmt. Vor allem, ob sie beim Dienstleister angestellt war. Und ich weiß auch nicht, ob sie wirklich meine Großtante war. Vielleicht hat ihre Mutter nur unseren fernen Ahnen geheiratet und die Tochter aus der früheren Ehe in die Familie mitgenommen.

Irgendwann hat meine Großtante Musik studiert und später als Musiklehrerin gearbeitet. In meiner Schulzeit habe ich bei ihr Klavierunterricht genommen. Das ist vielleicht nicht ganz untypisch. Untypisch war eher, dass ich sie darum gebeten habe. Vielleicht wird es auch einmal Teil der Familienlegende sein. Als pubertierendes Schulkind wollte ich damals vor allem Rock‘n‘Roll oder schlimmstenfalls Ragtime spielen. Also haben wir mit Mozart angefangen.

Das ist alles schon lange her und hat mit der Geschichte, die ich heute erzähle, nichts zu tun. Worauf ich damit hinaus will, ist nur eines: Meine Großtante war zur Zeit meiner Klaviereskapaden schon alt und längst in Rente. Die Zeiten, als sie noch jung war, liegen in einer ganz fernen Vergangenheit. Danach hat die Macht in Galizien viermal gewechselt. Und der Stromverbrauch eines durchschnittlichen Haushalts hat sich mindestens verfünfzigfacht.

Ich glaube nicht, dass in den 1930er Jahren Angriffe auf städtische Infrastruktur gravierende Folgen gehabt hätten. In Lemberg wurde damals noch mit Kohle geheizt. In vielen Häusern aus der Zwischenkriegszeit gab es dafür auf dem Balkon einen Behälter. In der Wohnung stand in jedem Zimmer ein Ofen. Später hat man die Öfen modernisiert, sie wurden nunmehr mit Gas betrieben. Ich kenne immer noch viele Menschen in Lemberg, die zu Hause mit alten Öfen heizen. Im Zeitalter der Hochtechnologien gilt es als romantisch, auch wenn es nicht besonders energieeffizient ist. Aber es geht ohne Strom.

Energie, wie immer man sie bekommt: Kochstelle in Bachmut
Energie, wie immer man sie bekommt: Kochstelle in Bachmut
Quelle: pa/AA/Andre Luis Alves

Auch ansonsten war der Stromverbrauch vor dem Zweiten Weltkrieg gering. Es gab keine Kühlschränke, keine Waschmaschinen, keine Fernseher, keine Staubsauger, keine Mikrowellen, keine Haartrockner und keine elektrischen Bügeleisen. Nur eine ziemlich spärliche Beleuchtung und ein Radio. Eine Einzimmerwohnung verbrauchte etwa drei Kilowattstunden Strom. Pro Monat. Da konnte nicht wirklich viel schieflaufen.

Da kam die Epoche der Fernheizung. Die in der Sowjetzeit in den 1960er gebauten Platten und spätere Hochhäuser wurden durch schlecht isolierte Leitungen an Wärmekraftwerke angeschlossen. Die alten Quartiere aus der österreichischen und polnischen Zeit dagegen nicht. Dort wurden in vielen Wohnungen nach und nach Heizkörper aus Gusseisen, eine klumpige sowjetische Gasheizung und ein Durchlauferhitzer für warmes Wasser installiert. Der Gasverbrauch war enorm, das interessierte aber niemanden wirklich, weil es Gas umsonst gab. Strom brauchte dieses sowjetische gasfressende Heizwunder immer noch keinen.

Nach dem Zerfall des Imperiums und dem Anstieg der Gaspreise fingen die Ukrainer an, ihre Wohnungen zu modernisieren. Es wurden Thermofenster eingebaut und in den alten Häusern Etagenheizungen installiert. Man genoss die Unabhängigkeit von den Stadtwerken und deren Fernheizung. Nun hieß es aber auch: Kein Strom – keine Heizung.

Als wir am Anfang der Nullerjahre in einen Altbau umzogen und eine moderne Heiztherme mitsamt Warmwasserspeicher bestellten, wollte uns unser Fachberater gleich ein paar Solarzellen aufschwätzen. Als Werbung schickte er uns ein Foto von seinem Landhaus. Darauf war eine alte Bauernkate zu sehen, im Hof lagen noch die Reste vom Frühlingsschnee, direkt am Hauseingang stand eine rostige Waschmaschine. Die Wäsche baumelte an der Leine. An einer Wand war eine Satellitenschüssel angeschraubt, und auf dem neu renovierten Dach präsentierten sich stolz zwei große Solarpanels. Der Himmel war blau, der Maschendrahtzaun schief, und die gesamte Gegend nicht besonders einladend: „Da muss man noch einiges schöner machen“, sagte er. „Aber die Solaranlage produziert bereits Strom.“ Aha, dachte ich, und die Satellitenanlage produziert bereits Fernsehen. Dann habe ich das Angebot dankend abgelehnt. Irgendwie klang es mir zu abenteuerlich, zumal ich gar nicht wusste, wie ich die Solarzellen ans städtische Stromnetz anschließe. Damals war es nämlich noch ein echtes bürokratisches Problem.

Energieautark wie früher? Im Lemberger Museum für Volkskunde und Landleben
Energieautark wie früher? Im Lemberger Museum für Volkskunde und Landleben
Quelle: pa/AA/Olena Znak

Später nicht mehr. Einige glücklichen Besitzer der Einfamilienhäuser und Mansardenwohnungen haben von den neuen Möglichkeiten, die ihnen der „grüne Tarif“ eröffnete, Gebrauch gemacht. Nun sitzen sie nach russischen Raketenangriffen auf die Energieinfrastruktur ebenfalls ohne Strom da. Es ist erstaunlich, wie ein Land, das in seinem neoimperialen Wahn in Denkmustern des 19. Jahrhunderts feststeckt, die ganze Welt dorthin zurückbefördern will. Nicht nur, dass es Tausende von Menschen tötet und die ganzen Städte dem Boden gleich macht. Nicht nur, dass es sich eingebildet hat, das Recht zu besitzen, unabhängige Länder zu überfallen. Es bringt auch den gesamten technischen Fortschritt der letzten Jahrzehnte in Gefahr. In Deutschland müssen die Kohlekraftwerke hochgefahren werden. Die Klimaziele sind in weite Ferne gerückt. In den ukrainischen Städten laufen bei den Stromausfällen Abertausende von Generatoren, die tonnenweise Diesel und Benzin verbrauchen. Nur die alten polnischen oder österreichischen Öfen und die sowjetischen Gasheizungen funktionieren ohne Strom. Und das alte wohltemperierte Klavier. Ich kann mir gut vorstellen, wie meine Großtante an langen Winterabenden beim Kerzenlicht Klavier gespielt hat.

Hier müsste man eigentlich drei Auslassungspunkte setzen und den Vorhang zuziehen. Damit diese Geschichte aber nicht mit einer Schnulze endet, erzähle ich noch einen Gag. Einen Slapstick, wie ihn die Ukrainer gerne mögen – wir bekommen ja nicht umsonst so viele Waffen von den Briten. Vielleicht ist es aber auch eine wahre Geschichte. Die Frage lautet: Was führt inzwischen ein ukrainischer Tesla-Fahrer im Kofferraum immer mit? Die richtige Antwort: Einen Generator mitsamt Treibstoffkanister, damit er die Batterie seiner teuren Karosse wieder aufladen kann. Die Zeit der Ladestationen ist vorbei.

Lemberg, den 23. Dezember, nachmittags

Weihnachten ist eine Zeit für Weihnachtsgeschichten. Am besten für romantische, vor allem aber nicht für traurige. Der Vorteil von Kalendergeschichten ist, dass der Leser sie je nach persönlichem Geschmack und Gemütslage in die eine oder die andere Kategorie einstufen kann. Oder in keine von beiden. Bleibt nur die Frage, wie man anfangen soll.

Bereits die alten Babylonier wussten, dass Sterne und Planeten etwas mit dem Wechsel der Jahreszeiten zu tun haben und somit für den Arbeitsablauf des Menschen von essenzieller Bedeutung sind. Da der Himmel Wohnsitz der Götter war, bekam der Kalender neben einem praktischen vor allem einen transzendentalen Sinn. Ob für alte Ägypter, Griechen, Juden, Römer, Chinesen, Christen, Maya oder Moslems – für jede Religion und für jede Kultur spielte die Zeitrechnung eine zentrale Rolle.

Auch wenn der weltliche Gebrauch des christlichen Kalenders mit zunehmender Globalisierung später seinen weltweiten Siegeszug feierte, war das in den Glaubensfragen keineswegs der Fall. Schon gar nicht im Christentum. Jahrhundertelang waren sich nach Christi Geburt nur wenige Menschen bewusst, dass sie nun in der „christlichen Ära“ lebten, wie der britische Historiker Norman Davies in seinem Bestseller „Europe. A History“ schreibt. Erst 525 schlug Dionysius Exiguus (der Kleine), ein Mönch aus Kleinerem Skythien, vor, die neue Zeitrechnung mit dem Jahr der Geburt des Herrn zu beginnen, das er – wie heute bekannt ist – falsch berechnete. Bis sich seine Idee sich durchsetzte, dauerte es übrigens noch mehrere hundert Jahre.

Doch schon bald tauchte ein neues Problem auf. Der bis dahin verwendete, von Julius Caesar eingeführte sogenannte Julianische Kalender mit seinen regelmäßigen Schaltjahren war im Durchschnitt um etwa elf Minuten länger als das Sonnenjahr. Das führte dazu, dass sich der astronomische Frühlingsanfang immer weiter nach hinten verschob. Das Kalender- und das Sonnenjahr drifteten immer weiter auseinander. Als Papst Gregor XIII. im Jahr 1582 eine Kalenderreform verordnete, betrug die Differenz bereits zehn Tage.

Die größte Sorge der Katholischen Kirche war, dass nun die richtige Bestimmung des Osterdatums nicht mehr möglich sei. Also strich man einfach zehn Tage weg und reduzierte die Zahl der Schaltjahre. Nunmehr galten nur noch diejenigen Säkularjahre (also die letzten Tage des jeweiligen Jahrhunderts) als Schaltjahre, die durch 400 ohne Rest teilbar sind (1600 und 2000 waren laut Gregorianischem Kalender Schaltjahre; 1700, 1800 und 1900 dagegen nicht).

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In den katholischen Ländern wurde der neue Kalender ziemlich schnell eingeführt. In den protestantischen hat es etwas länger gedauert – in den meisten reformierten Orten der Schweiz bis Anfang des 18. Jahrhunderts und in Schweden gar bis 1753. Die Orthodoxe Kirche weigerte sich grundsätzlich, eine vom Papst initiierte Kalenderreform zu akzeptieren und hielt weiterhin am alten, Julianischen Kalender fest.

Mit der Zeit führten die meisten Länder der Welt für den säkularen Gebrauch den sogenannten „neuen Stil“ ein, darunter auch das Kaiserreich Japan (1873), China (1912) und das Osmanische Reich (1917). Das nach dem bolschewistischen Umsturz inzwischen sowjetische Russland folgte im Februar 1918. Die Russische Orthodoxe Kirche blieb hingegen beim „alten Stil“.

Ankunft im polnischen Przemysl, kurz vor Heiligabend
Ankunft im polnischen Przemysl, kurz vor Heiligabend
Quelle: pa/NurPhoto/Artur Widak

Zum Anfang des 20. Jahrhunderts wuchs die Differenz zwischen den beiden Kalendern auf dreizehn Tage, da im Julianischen auch 1700, 1800 und 1900 Schaltjahre waren. Wenn der Gregorianische Kalender bereits den 7. Januar schreibt, ist es laut seinem Julianischen Pendant erst der 25. Dezember. Deswegen feiern heute die Katholiken und die Orthodoxen Weihnachten zeitverschoben. Nur sind es nicht alle Orthodoxen. Dafür gibt es einen Grund. Und der heißt Milutin Milankovic.

Der 1879 in eine serbische Familie geborene Milutin Milankovic wuchs als ältestes von sieben Geschwistern und Staatsbürger von Österreich-Ungarn im kroatisch-serbischen Grenzgebiet auf. Sein Heimatort Dalj im nordöstlichen Slawonien, das damals zum ungarischen Teil der Doppelmonarchie gehörte, ist heute kroatisches Gebiet, nachdem es in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre während des Kroatienkriegs durch Serbische Krajina kontrolliert wurde. Milankovic studierte Tiefbau in Wien und war anschließend als Ingenieur für eine Wiener Firma tätig, die landesweit Brücken, Staudämme, Viadukte und sonstige Konstruktionen aus Beton baute. Vor dem Ersten Weltkrieg begann er sich zunehmend für Astronomie, Klimatologie und Geophysik zu interessieren. Gleich am Kriegsanfang durch Österreicher als Serbe interniert, bekam er später die Erlaubnis, in Budapest wissenschaftlich zu arbeiten. Der Krieg wurde für ihn somit sowohl persönlich als auch wissenschaftlich zu einer Zäsur.

Bekannt ist Milankovic vor allem durch sogenannte Milankovic-Zyklen, wie die von den Veränderungen der Erdbahn bedingten Schwankungen der auf die Erde eintreffende Sonnenstrahlung nun heißen. Durch die von Milankovic entwickelte Theorie lassen sich manche Klimaveränderungen in der Geschichte unseres Planeten erklären, unter anderem das Eiszeitalter.

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1923 präsentierte Milankovic eine ganz andere Idee – einen neuen Kalender. Dieser sollte dem Sonnenjahr noch genauer als der Gregorianische folgen, indem er sieben Schaltjahre in 900 Jahren ausließ (der Gregorianische lässt sechs in 800 Jahren aus). Doch das war nicht der entscheidende Punkt. Viel wichtiger war die Tatsache, dass der neue Kalender zu diesem Zeitpunkt identisch mit dem Gregorianischen lief und dass Milankovic ihn auf den Namen „Neujulianisch“ taufte. Somit war der Weg für dessen Übernahme durch die orthodoxe Kirchen frei.

Und so haben ihn bis Ende der 1920er-Jahre unter anderem die Patriarchate von Konstantinopel, Alexandrien und Antiochien sowie die orthodoxen Kirchen in Griechenland, Rumänien und Zypern eingeführt. In den 1960er-Jahren folgte ihnen auch die Bulgarisch-Orthodoxe Kirche. Die Kirche von Milankovics Heimatland Serbien allerdings bis heute nicht. So funktioniert die Ironie der Geschichte. Außerdem war der Übergang nicht vollständig – alle orthodoxen Kirchen blieben für die Bestimmung des Osterdatums bei ihrem alten Julianischen Kalender.

Möglicherweise werden sich ukrainische Kirchen nun intensiver mit dem Neujulianischen Kalender beschäftigen müssen. Der Ruf nach einem Weihnachtsfest am 25. Dezember ist nach dem russischen Überfall deutlich stärker geworden. Die jüngere Generation der unter 60-Jährigen ist meistens dafür. Die älteren, über 80-jährigen Traditionalisten würden lieber alles beim Altem lassen. Dazwischen schwanken die Unentschiedenen.

Die durch die Fusion zweier nationaler orthodoxer Kirchen im Jahr 2018 gegründete und vom Patriarchat von Konstantinopel anerkannte Orthodoxe Kirche der Ukraine hat ihren Gemeinden in diesem Jahr freie Wahl gelassen. Sie will sich stärker von der sogenannten Ukrainischen Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats distanzieren. Die schweigt sich zum Thema Weihnachten aus und hat mit anderen Problemen zu kämpfen. Als Teil der imperialen Kirche hat sie sich kaum von Moskau distanziert; viele ihrer Priester rechtfertigten die Invasion, spionierten für Russland, glorifizierten die „russische Welt“ und bestritten die Existenz des ukrainischen Volkes und Staates. Die im westlichen Galizien dominierende, mit Rom unierte Griechisch-Katholische Kirche ist grundsätzlich für den Übergang, will aber vorerst eine breite gesellschaftliche Werbekampagne starten. Und die Römisch-Katholische Kirche ist auch in den überwiegend orthodox geprägten Ländern sowieso nie vom Gregorianischen Kalender abgerückt.

Im Jahr 2800 werden sich übrigens der Gregorianische und der Neujulianische Kalender zum ersten Mal trennen. Bis dahin bleibt Zeit genug, eine Lösung zu finden. Das beruhigt, besonders an Weihnachten.

Lemberg, den 15. Dezember, abends

Eine Gesellschaft ist ein äußerst komplexer Organismus. Das war bereits Ferdinand Tönnies, dem Gründervater der deutschen Soziologie, bewusst. In seinem 1887 erschienenen Hauptwerk „Gemeinschaft und Gesellschaft“ unterscheidet Tönnies ganz genau zwischen diesen beiden Arten von sozialen Kategorien. Seitdem versuchen Historiker, Soziologen, Kulturwissenschaftler und Ökonomen zu erklären, warum eine Gesellschaft einen bestimmten Weg eingeschlagen hat und wie sie dort gelandet ist, wo sie sich heute befindet. Es werden Theorien entwickelt, Hypothesen aufgestellt und eine ganze Reihe von Faktoren aufgelistet, die in ihrer „Vorhersage der Gegenwart“ (ein Ausdruck des amerikanischen Literaturkritikers und Kulturhistorikers Louis Menand) im Nachhinein recht plausibel klingen. Die Zukunft vorauszusagen ist dagegen viel schwieriger. Deswegen widmen sich dieser Aufgabe vor allem diverse Wahrsager und Gäste zahlreicher Talk-Shows.

Was bringen die Russen der Welt außer Leid und Zerstörung? Eine Frau vor ihrem von russischen Raketen getroffenen Haus in Kryvyi Rih, Mitte Dezember
Was bringen die Russen der Welt außer Leid und Zerstörung? Eine Frau vor ihrem von russischen Raketen getroffenen Haus in Kryvyi Rih, Mitte Dezember
Quelle: AP

Vielleicht hält sich jede Gesellschaft und jede Nation für etwas Besonderes. Bereits in der biblischen Zeit war das jüdische Volk von seiner Auserwähltheit überzeugt. Die Religionskriege des Mittelalters und der Imperialismus der Neuzeit gingen ebenfalls von der Prämisse aus, dass man aus dem richtigen Glauben oder einer haushohen kulturellen Überlegenheit heraus handelt beziehungsweise eine historische Mission zu erfüllen hat. Zuletzt gab es jedoch nur wenige Nationen, die aus selbstkonstruiertem Hochmut und vermeintlicher „zivilisatorischen Hegemonie“ das Recht beanspruchten, fremde Länder zu überfallen und andere Völker umzubringen.

Im 20. Jahrhundert war es vor allem das nationalsozialistische Deutschland. Im 21. Jahrhundert ist es das putinistische Russland.

Über die Natur und die Ursachen von uferlosem Hass gegenüber der Außenwelt in einer durch Propaganda vergifteten Gesellschaft hat man viel geschrieben. Den weitverbreiteten russischen Hass gegen die Ukrainer könnte man vielleicht noch als Rache einer beleidigten imperialen Seele begründen, die die ukrainische Nation nie als eigenständig betrachtet hat und nun über deren angeblichen „Verrat“ zutiefst empört ist.

Aber der Hass gegen den Westen ist anderer Natur. Seit Jahrhunderten existiert in der russischen Gesellschaft – zumindest in großen Teilen davon – die Tendenz, sich nicht nur als Gegensatz zur westlichen Welt zu positionieren, sondern als eine andere, bessere Zivilisation zu verstehen. Das hat immer wieder westliche Intellektuelle fasziniert. Die Auffassungen vom „dritten Rom“, einem „zivilisatorischen Sonderweg“ oder von „echten russischen Werten“ werden durch Vorstellungen über Dekadenz, moralischen Verfall und grenzenlose Perversität des Westens ergänzt.

Interessanterweise war in der späten Sowjetzeit kaum davon die Rede. Man hat zwar die helle kommunistische Zukunft gepriesen, für die man noch eine Zeitlang weitere Opfer bringen musste, sowie die Unmenschlichkeit des kapitalistischen Systems angeprangert. Aber jede Behauptung einer „zivilisatorischen Überlegenheit“ des Arbeiter- und Bauernstaates und der Dekadenz oder des Niedergangs der westlichen Welt wäre unweigerlich an der Anzahl von Käsesorten in einem Supermarkt oder an der Auswahl von Männersocken in einem Kaufhaus außerhalb des Eisernen Vorhangs zerschellt. Erst nachdem Russland Ende der 1990er-Jahre endgültig in der Konsumgesellschaft angekommen war, stieg der Hass auf die Erfinder dieser Welt ins Unermessliche. Warum?

Ich habe lange nach Beispielen für eine russische Erfindung gesucht, die die Leben von Menschen erleichtert hätten. Nach etwas ganz Banalem oder technisch Ausgeklügeltem. Wie Reißverschluss, Kugelschreiber, Kühlschrank, Staubsauger oder Smartphone. Hauptsache, es hätte dem Menschen geholfen, seinen Alltag im Dschungel des modernen Lebens zu meistern. Ich habe nichts gefunden. Außer dem Wodka. Aber selbst das ist umstritten. Und zwar in zweierlei Hinsicht – ob der Wodka das Leben wirklich erleichtert und ob er tatsächlich in Russland erfunden wurde.

Warum Russland keine Erfindung für den Menschen zustande gebracht hat, ist eine andere Frage. Vielleicht, weil dort der Mensch und das Menschenleben nie eine Rolle gespielt haben. Auf jeden Fall hat dies zu einer enormen Abhängigkeit geführt – ob bei Haushaltsgeräten, Lebensmittelverpackungen, Luxusgütern oder Technologien.

Ich rede hier nicht von Dostojewski, Tschaikowski oder Mendelejew. Und zwar nicht deswegen, weil die Ukrainer heute nicht besonders gerne über russische Schriftsteller, Komponisten oder Wissenschaftler diskutieren. Der Grund, warum ich das nicht mache, ist ein anderer: Das Lesen von Dostojewski macht das Leben eines Durchschnittsbürgers nicht leichter. Und das ist genau der Punkt.

Man kann argumentieren, dass es nicht viele Nationen gibt, die Erfindungen vom großen praktischen Wert für den Alltag gemacht haben. Das mag stimmen. Die meisten haben allerdings auch nicht den Anspruch, eine bessere Zivilisation zu sein. Wenn aber ein Land von seiner eigenen „zivilisatorischen Überlegenheit“ überzeugt ist und gleichzeitig vom „dekadenten und perversen“ Westen alles kaufen muss – von Kleidung und Gegenständen des täglichen Gebrauchs bis hin zu der komplizierten Ausrüstung für die Gas- und Erdölförderung, – dann lebt dieses Land in einem unmöglichen Spagat, der auf Dauer nicht auszuhalten ist.

Es ist eine Art gesellschaftliche Schizophrenie, die mit der Zeit in einer Paranoia endet, in einer fiktiven Welt voller Verschwörungstheorien und Wahnvorstellungen über feindliche Einkreisung. Man wird aggressiv. Man fängt an, mit Stühlen um sich zu werfen. Oder mit Raketen. Einen aggressiven Patienten kann man psychiatrisch behandeln. Bei einem Land ist es schwieriger. Irgendwann gibt es also keine andere Möglichkeit mehr, als ihm auf dem Schlachtfeld die Grenzen aufzuzeigen. Für alternative Lösungen wären eher Wahrsager und Kurpfuscher zuständig.

Lemberg, den 10. Dezember, abends

Ich habe nicht viele Erinnerungen an Zahnärzte aus meiner Jugendzeit. Es sind nur ein paar Episoden. Die meisten von uns Kids trugen eine Zahnspange, die mehr drückte als korrigierte. In der Schule gab es einen Zahnarztstuhl, und eine dazugehörende Dentistin kam ein- oder zweimal in der Woche, um Schülerzähne zu flicken. Bei jeder Gelegenheit neigte sie dazu, ihren jungen Patienten eine Amalgamfüllung zu verpassen.

Wir konnten nicht nachvollziehen, warum sie so enthusiastisch ans Werk ging. Vielleicht musste sie nur ein Plansoll erfüllen. Jedenfalls hatte sie keinen guten Ruf. Wir verwendeten alle möglichen Tricks, um nicht auf dem Folterstuhl zu landen. Wir wollten unsere Zähne vor fremdem Eingriff behüten wie russische Oligarchen heutzutage ihre Yachten vor Beschlagnahme. Meistens ist es uns tatsächlich gelungen. Den Oligarchen gelingt es bisher übrigens auch ganz gut.

Irgendwann schickten mich meine Eltern zu einer Zahnärztin in die städtische Poliklinik. Sie verordnete mir eine mit dem harmlos klingenden Wort „Zahnhygiene“ getarnte Rosskur. Ihr einziges Instrument war ein spitzer Haken, mit dem sie in meinem Mund stocherte. Damals war es ein Standardverfahren, bei dem das Blut des Gepeinigten ringsherum spritzte. Ultraschallgeräte für Zahnbehandlung haben die Sowjets nicht produziert. Sie waren mit der Herstellung von Überschallraketen beschäftigt.

Dabei waren Zahnärzte in der kommunistischen Zeit gar nicht schlecht. Ganz im Gegenteil – oft bewirkten sie und ihre Zahntechnikerkollegen Wunder bei der Herstellung von Kronen und Brücken. Nur ihre Ausstattung war miserabel. Die Zahnstühle klotzig und kaum regulierbar. Dafür war die Behandlung kostenlos. Zumindest auf dem Papier. Im realen Leben funktionierte alles in der Grauzone der Beziehungen, Geschenke und Briefumschläge.

In den 1990er-Jahren entstanden die ersten privaten Zahnarztpraxen und Kliniken. Etwas später schossen sie wie Pilze aus dem Boden. Es war eine Revolution. Moderne Geräte und Materialien in Verbindung mit guter Ausbildung machten den Unterschied. Nun pilgerten sogar Patienten aus europäischen Ländern oder den USA für eine Zahnbehandlung in die Ukraine.

Irena gehörte nicht zu der ersten Welle privater Zahnärzte. Dafür war sie einfach zu jung. Sie hat in den Nullerjahren in einer größeren Klinik angefangen. Sammelte Berufserfahrungen, bildete sich weiter, fuhr zu Fachkongressen. Die zierliche Frau, mittlerweile knapp über vierzig, war immer ehrgeizig. Fast nebenbei heiratete sie und gebar drei Kinder. Und beschloss sich selbstständig zu machen. Zunächst teilte Irena die Räumlichkeiten einer kleinen Praxis mit einer anderen Ärztin. Kaufte später ihrer Kollegin deren Anteil ab. Renovierte und investierte. Hatte Patientinnen und Patienten aus Polen, Deutschland und den Vereinigten Staaten.

Dann kam der große Krieg. Irena fing an, ukrainische Soldaten kostenlos zu behandeln. Im Oktober kamen die Stromausfälle. Seit November sind sie zur Regel geworden. Irgendwann gab es in der Praxis kein Gas mehr. Eine Woche lang. Die Raumtemperatur fiel auf 12 Grad. Es war nicht mehr an Arbeit zu denken.

Café-Gäste in improvisierten Pavillons in Odessa mit Generatoren. Hier ist die Stromversorgung nach den jüngsten russischen Angriffen ganz zusammengebrochen.
Café-Gäste in improvisierten Pavillons in Odessa mit Generatoren. Hier ist die Stromversorgung nach den jüngsten russischen Angriffen ganz zusammengebrochen.
Quelle: Global Images Ukraine via Getty Images

Es ist ein Problem, mit dem die gesamte Branche zu kämpfen hat. Die Krankenhäuser verfügen über eine Notstromversorgung. Die Zahnkliniken und kleine Praxen nicht. Nun versuchen die Zahnärzte verzweifelt, Generatoren oder sonstige Notstromaggregate zu beschaffen. Es klappt nicht immer. Je größer die Klinik, desto höher der Strombedarf. Aber auch die kleineren Praxen haben es nicht leichter.

Für Irena ist ein Generator keine Lösung. Wer soll das schwere Gerät jeden Tag morgens auf der Straße aufstellen und abends zurück in die Praxis stemmen? Treibstoff nachfüllen und Filter reinigen? Also hat sie sich für eine Powerstation entschieden, eine Art großer Akku, der für einige Stunden Strom spendet und dann – wenn der Stadtteil wieder mit Elektrizität versorgt wird – von der Steckdose aufgeladen werden kann. Es ist keine billige Lösung. „Eigentlich ist es eine Investition, die sich nie rentiert, aber zumindest behalte ich meine Patienten. Sonst würden sie alle weglaufen.“

Am schlimmsten ist, wenn mitten in der Behandlung plötzlich der Strom ausfällt. Das passiert immer wieder. Auch Irena hat schon einmal einen solchen Albtraum erlebt. Unlängst musste sie einem Patienten eine Notfüllung verpassen und ihn nach Hause schicken. Am nächsten Tag kam er wieder. „So kann es wirklich nicht weiter gehen“, sagt die Zahnärztin. Sie wartet nun auf ihre Powerstation. Vielleicht kommt das Gerät nächste Woche aus Polen. Dann kann Irena weiter kostenlos ukrainische Soldaten behandeln.

Lemberg, den 7. Dezember, abends

Eine Stadt produziert viele Geräusche. Das Rascheln der Straßenfeger am frühen Morgen. Das Brummen der laufenden Motoren im ersten Morgenstau. Den permanenten Lärm der Baustellen. Das Quietschen der Straßenbahnen tagsüber und das nervöse Gehupe und Gebimmel des frühen Abendverkehrs. Den Rambazamba der Kneipen und Diskos in der Altstadt am Wochenende. Die gedämpfte Unterhaltung in den Straßencafés. Das Geklimper der Straßenmusiker. Das Rauschen der Bäume im sommerlichen Wind. Das Knirschen der Schritte im winterlichen Schnee. Das aufgeregte Bellen der Hunde.

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Inzwischen gibt es ein neues Geräusch, das die Kakophonie der Stadtklänge übertönt – das Rattern der Generatoren. Sie stehen auf den Gehsteigen und in den Hinterhöfen, vor Friseursalons und Bankfilialen, vor Kneipen und Apotheken. Man kann sie ganz gut hören. Wenn man abends in der Ferne ein leises Rattern hört, sieht man auch immer ein schwaches Licht. Man bewegt sich auf das Geräusch zu. Das Rattern wird lauter, das Licht heller. Man läuft vorbei und taucht wieder ins Dunkel ein. Es gibt keinen Strom in unserem Stadtteil. Heute zwischen fünf und neun Uhr abends. Um sechs ist es schon dunkel. Etwas ungünstig, aber keine Tragödie. Man passt sich an. Und man gewöhnt sich daran. Dafür gibt es ja die Taschenlampen in den Smartphones.

Manch ein Geschäft hilft sich mit einer akkubetriebenen LED-Leuchte aus. Wie unser kleiner Lebensmittelladen um die Ecke. Hier gibt es alles, was man braucht: Milch und Käse, Obst und Gemüse, Pasta und Olivenöl, Wurst und Mineralwasser, Konservendosen und Kaffee. Und immer viele Kunden. Am Vormittag sind es oft die Schüler, die hier gerne Cola, Eis oder Süßigkeiten kaufen. Tagsüber sind es die Omas, die zu Hause für ihre Töchter und Söhne kochen. Am frühen Abend schauen hier dann die Frauen und Männer auf dem Heimweg von der Arbeit vorbei.

Licht ist gefragt: Ein Straßenverkäufer in Lemberg
Licht ist gefragt: Ein Straßenverkäufer in Lemberg
Quelle: AFP

Es hat etwas gedauert, bis ich kapiert habe, dass man nun die beiden Flügel der Automatiktür mit der Hand auseinander schieben muss, um reinzukommen. Dann wieder zumachen. Kein Strom – keine Automatik. Man kann nur in bar bezahlen, die Verkäuferin kalkuliert die Beträge auf ihrem Taschenrechner.

„Wie lange haben Sie heute denn auf?“, frage ich sie, während ich eine Flasche Olivenöl in meinen Rucksack stecke. Ich will später noch einmal zurück, um zwei Sechs-Liter-Flaschen Trinkwasser zu kaufen. „Solange der Akku reicht“, sagt die Dame. Es ist kurz nach sechs. Für eine Stunde reicht es auf jeden Fall. Bis neun, wenn der Laden normalerweise schließt, wohl nicht. Dann können die Verkäuferinnen halt früher nach Hause. Ansonsten läuft der Notbetrieb einwandfrei. Es dauert ja nicht mehr lange. Es sind nicht mal 100 Tage bis zum Frühling.

Lemberg, den 3. Dezember, nachmittags

Die kleinen Quadrate in verschiedenen Farben sehen wie ein Tetris-Spiel aus. Oder wie ein auf einer zweidimensionalen Oberfläche ausgebreiteter Zauberwürfel. Auf manch einer Website sind es keine Quadrate, sondern langgezogene Rechtecke, als hätte eine unsichtbare Hand – oder die Tatze von Kater Tom auf der Jagd nach Jerry – die Projektion in eine Richtung gedehnt.

Es gibt grüne, orangefarbene und weiße Quadrate. Die Anordnung der Farben folgt einem bestimmten Muster. Also könnte man sie auch für einen Intelligenztest verwenden. Es wäre eine Standardaufgabe: Ergänzen Sie bitte die Vorlage… Und übrigens keine besonders schwierige. Es ist nämlich ein sehr einfaches Muster.

Nur ist es kein Computerspiel und kein IQ-Test. Es ist eine Tabelle für Stromabschaltungen, veröffentlicht auf der Webseite des regionalen Elektrizitätsversorgers und kopiert von vielen Online-Diensten. Je nach Geschmack des Webdesigners variieren die Farbtöne und die Zellenform, das Prinzip bleibt dasselbe. Das Leben im Hinterland folgt nun einem Vier-Stunden-Rhythmus.

Jeder Tag wird in sechs Abschnitte unterteilt, als würde man das chinesische Zeitmodell verwenden. Nur sind es hier – anders als bei den Chinesen – regelmäßige Abschnitte von jeweils vier Stunden, als wollte man die Schönheit der Mathematik unterstreichen. Ansonsten soll die Regelmäßigkeit symbolisch für Gerechtigkeit stehen.

Die Farbenwahl ist auch wichtig. Grün zum Beispiel war schon immer eine positive Farbe. Der 2011 verstorbene britisch-amerikanische Journalist und Autor Christopher Hitchens erinnert sich, wie seine Grundschullehrerin, eine bestimmte Mrs. Watts, deren Aufgabe es war, die Kinder über die Natur und die Heilige Schrift zu unterrichten, einmal sagte: „Gott hat alle Bäume und das Gras grün gemacht, das ist genau die Farbe, die für unsere Augen am erholsamsten ist. Stellt euch vor, die Vegetation wäre stattdessen lila oder orange, wie schrecklich wäre das.“ Als Gott später die Straßenampel schuf, entschied er sich bei Grün ebenfalls fürs Erholsame und Angenehme – nämlich fürs Fahren.

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Diesem Prinzip folgt auch der Versorger. Grün bedeutet Strom. Vier Stunden lang. Zwar kein Öko-Strom, aber immerhin. Inzwischen stammt jeder Strom aus sozusagen erneuerbaren Quellen. Zumindest dort, wo es gelingt, die von russischen Raketen zerstörten Transformatoren, Stromnetze und Kraftwerke wieder zu erneuern.

Auch bei Orange folgt der Versorger der Argumentation von Mrs. Watts. Es bedeutet: Nun gibt es vier Stunden lang keinen Strom. Das heißt in der Regel: Kein Licht, keine Heizung und kein warmes Wasser. Beide Farben wiederholen sich zweimal pro Tag, also hat man mindestens acht Stunden Strom und acht Stunden keinen. Einmal irgendwann in der Nacht und einmal tagsüber. Oder am frühen Morgen und abends. Das kann sich je nach dem Wochentag unterscheiden. Wie bei Wanderplaneten ist es beim Strom auch ein Zyklus. Das macht die Sache etwas komplizierter, ist aber trotzdem gut für die Planung. Wenn man weiß, dass es zwischen 17 und 21 Uhr keinen Strom geben soll, dann springt man um 16:59 nicht unter die Dusche. Wenn es denn so genau wäre.

So genau ist es aber nicht. Vor allem, weil es noch eine dritte Farbe gibt: weiß. Auch zweimal am Tag. Als Farbe der Unschuld. Vielleicht aber nur, weil Weiß so gut mit Grün und Orange kontrastiert. Oder weil es ansonsten zu viel Transparenz gäbe. Es bedeutet: Notfalls gibt auch da keinen Strom. Was bei vielen Haushalten tatsächlich passiert. Zusammen mit Orange macht es sechzehn Stunden. Irgendwie hat man den Eindruck, dass die Stromerzeugung in diesen Zeiten der Wahrscheinlichkeitsrechnung von Ludwig Boltzmann folgt, obwohl sie eigentlich nur für Thermodynamik gelten sollte.

Bier gibt‘s auch im Dunkeln: Ein Wirt in Lemberg Anfang Dezember
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Quelle: AFP

Weiter unten kann man auf der Webseite des Versorgers eine Liste mit Straßen und Häusernummern sehen, die im Moment ohne Strom sind. Es ist eine lange Liste. Eine sehr lange sogar. Am Nachmittag waren es 549 Straßen. Abends sind es bereits 651, also etwa jede zweite Straße von insgesamt knapp über 1300, die Lemberg zählt. Viele Straßennamen in dieser Liste waren mir bisher nicht wirklich bekannt. Man kann die Topografie der Stadt auch auf diese Weise studieren.

Von jeher ist die galizische Metropole, die einen Löwen in ihrem Wappen trägt, für Löwenproduktion aller Art bekannt. Die Löwenfiguren trifft man hier überall, vor allem aber an Häuserfassaden. Steinerne Löwen, gipserne Löwen. Freilaufende Löwen, freistehende Löwen. Löwen mit Flügeln, Löwen mit Hörnern. Es heißt, es seien insgesamt rund 4000, Souvenirlöwen nicht mitgerechnet. Somit gäbe es also in Lemberg etwa dreimal so viele Löwen wie Straßen. Gut, dass die Löwen keinen Strom brauchen.

Lemberg, den 28. November, abends

Taras, der Cousin eines alten Freundes von mir, hat sich schon immer für Navigation begeistert. Bereits als Teenager faszinierten ihn detaillierte Landkarten mit genauen topografischen Bezeichnungen. Es war so aufregend, sich bei den Pfadfindern an der Karte zu orientieren und den richtigen Weg zu finden! Wahrscheinlich hat er sich deswegen zum Geografiestudium entschlossen. Als er von der Idee hörte, ein altes Kosakenboot nachzubauen, war er sofort dabei.

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Bei ihren Militärexpeditionen benutzten ukrainische Kosaken ziemlich einfache Schiffe. Deren Rumpf schnitten sie aus einem einzigen Baumstamm, in der Regel aus Weide oder Linde. Die Bordwände erhöhte man mithilfe von Planken. Ein typischer kielloser Einbaum, bei den Kosaken als Tschaika bekannt, war etwa 20 Meter lang, wurde mit bis zu 15 Doppelrudern bestückt, dazu noch mit einem oder zwei Steuerrudern, manchmal auch mit einem abnehmbaren Mast und einem einfachen Vierecksegel. Das Boot konnte bis zu 70 Mann aufnehmen und führte als Bewaffnung einige leichte Falkonetten mit, das sind kleinkalibrige Geschütze.

Auch wenn die Tschaikas für ihre Zeit ein ziemlich archaischer Bootstyp waren und gegen moderne Kriegsschiffe bei einer Seeschlacht keine Chancen hatten, setzten Kosaken diese schnellen Gefährte in kleinen Flottillen für Überraschungsangriffe auf unbefestigte Siedlungen entlang der Küste oder auf feindliche Handelsschiffe ein. Es war eine klassische Piratentaktik im Zeitalter der europäischen Seeräuber.

Vor allem am Ende des 16. und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts bereiteten die Kosaken-Überfälle dem Reich der Osmanen, die ansonsten das Schwarze Meer kontrollierten, großes Kopfzerbrechen. In den ukrainischen Dumy, den epischen, oft heroischen gesungenen Dichtungen, die wohl im 16. Jahrhundert entstanden sind, werden die Kosaken und ihre Militärexpeditionen gepriesen. Dort heißt es, dass diese Haudegen sogar bis nach Istanbul vorgedrungen sind. So weit wohl doch nicht, allerdings hat bis dahin laut alten Chroniken nicht wirklich viel gefehlt. Erst nach und nach konnten die Türken die Kontrolle über die Schwarzmeerküste gewinnen; dafür mussten sie immerhin etliche Garnisonen im Dnipro-Delta stationieren.

Ukrainische Soldaten an der Front
Ukrainische Soldaten an der Front
Quelle: Roman Chop/AP/dpa

Zwei solcher Tschaika-Boote hat eine Gruppe von Romantikern und Enthusiasten in den Nullerjahren nach alten Zeichnungen nachgebaut. Auf einem davon ist Taras mehrmals in See gestochen. Die Männer haben es sogar bis nach Batumi im südwestlichen Georgien geschafft, mit einer modernen Satellitennavigation als Absicherung.

Später widmete sich Taras dem Tourismus in den Karpaten, konzipierte Wanderrouten. Nach dem russischen Überfall im Februar meldete er sich freiwillig. Es ist nur logisch, dass ein studierter Geograf und Kartograf bei den Aufklärern landete. Den ukrainischen Offizieren brachte Taras Orientierungskenntnisse und Navigationskunde bei. Anfang November wurde er von einer russischen Granate in der Nähe von Cherson getötet. Es war wohl ein Direkttreffer, der Mann muss auf der Stelle tot gewesen sein. Seine Kameraden aus der kleinen Gruppe haben überlebt. Für seine Beerdigung wurden sie beurlaubt.

Taras war 37, hinterließ keine Frau und keine Kinder. Geheiratet hat er nie. Man ehrte ihn mit einer Flagge der ukrainischen Kriegsmarine, obwohl er nie bei der Marine gedient hat. Aber die Teilnahme an den Tschaika-Expeditionen machte ihn automatisch zu einem Kosaken. Und die Kosaken, diese in der ukrainischen Tradition viel besungenen freiheitsliebenden Krieger und Abenteurer, waren ja schließlich auch furchtlose Seemänner.

Lemberg, den 24. November, nachmittags

Reisen kann manchmal auch in Friedenszeiten kompliziert sein. Wenn man aber ein Ziel vor Augen hat, spielen die Beschwerlichkeiten keine Rolle. Die Tochter unserer Freunde war knapp 30 Stunden mit dem Bus von Hamburg nach Lemberg unterwegs, um bei einem Spiel der deutschen Nationalmannschaft dabei zu sein. Sie kam erschöpft und glücklich bei uns an.

Von der Fußball EM-2012, die in der Ukraine und Polen gemeinsam ausgetragen wurde, sind mir aber auch viele andere Episoden in Erinnerung geblieben. Zum Beispiel die Wucherpreise in vielen Hotels und einfache Ukrainerinnen und Ukrainer, die fremde Menschen kostenlos aufgenommen haben. Ein Skype-Gespräch zwischen Roman, einem jungen Mann aus Lemberg, und einem Deutschen aus Weiß-nicht-mehr, den er für paar Tage zu sich nach Hause eingeladen hatte. Freiwillige Helfer, die in blauen T-Shirts mit einem gelben Smiley und der Aufschrift „Friendly Ukraine“, „Rooms4free“ und „I Can Help U“ herumliefen. Die Aktion „Rettet die Schweden“ in Kiew, als die schwedischen Fans, deren Lager auf einer Insel mitten in Dnipro lag, nach einem Sturzregen fast überschwemmt worden war. Die Naturmenschen aus Skandinavien wollten die EM unbedingt mitten in der freien Natur verbringen. Die Natur hatte beschlossen, ihnen einen Streich zu spielen.

Ich erinnere mich auch an die englischen Fans, die sich vor dem Spiel mit teurem EM-Bier vollgetankt hatten. Als die Menge eine deutsche Fernsehkamera erblickte, stimmte sie sofort ein nettes Liedchen an. „Nobody hates the Germans more than we do“, tönte es plötzlich in aller Freundschaft aus Dutzenden beschwipster Kehlen. Einiges musste doch in Margaret Thatchers Sozialpolitik schiefgelaufen sein, schoss mir damals durch den Kopf.

Und dann war da noch das Pressezentrum in Kiew. Eine Riesenhalle, zu der man vom Stadion ziemlich weit laufen musste. Dort hatte man für Journalisten schöne Arbeitsplätze eingerichtet. An den Wänden hingen große Flachbildschirme, auf denen die Spiele live übertragen wurden. An langen Tischreihen konnte man bequem sitzen und die Laptops aufladen. Am Infostand bekam man das Passwort für kostenloses WLAN. Es gab nur ein Problem. Die Internet-Verbindung funktionierte nicht. Das Netz war total überlastet. Man war auf einen solchen Andrang nicht vorbereitet. Das Problem konnte erst nach einigen Tagen gelöst werden.

Etwas Ähnliches passiert heute in vielen ukrainischen Städten wieder. Wenn der Strom ausfällt, fangen alle an zu telefonieren und im mobilen Internet zu surfen. Das ist menschlich und verständlich – man will wissen, was passiert ist, wie es den Liebsten und Angehörigen geht und wie schwer die Folgen des neuen russischen Raketenangriffs sind. Die Konsequenz davon ist allerdings, dass die Mobilfunknetze zusammenbrechen. Niemand kommt durch. Man versucht es wieder. Und scheitert erneut. Bis man irgendwann an Samuel Beckett denkt.

Kiew im Dunkeln: Stromausfälle gehören in der Ukraine nach den russischen Angriffen zum Alltag
Kiew im Dunkeln: Stromausfälle gehören in der Ukraine nach den russischen Angriffen zum Alltag
Quelle: dpa/Andrew Kravchenko

Inzwischen statten die Mobilfunkbetreiber ihre Basisstationen nicht nur mit Akkus, sondern auch mit Generatoren für die Notstromversorgung aus, sodass diese nun auch bei längeren Stromausfällen weiter laufen. Gegen die Überlastung ihrer Netze sind die Anbieter aber im Moment hilflos. Sie werden sich ganz bestimmt etwas einfallen lassen. Jetzt können sie nur bitten, mit Surfen und Telefonieren sparsam umzugehen.

Nach zahlreichen gegenseitigen Versuchen konnte mich mein Freund Olexandr erst heute Nachmittag erreichen. Wir fassen uns kurz. Nach dem gestrigen Raketenangriff sitzt er in seiner Kiewer Wohnung immer noch ohne Strom, Heizung und Wasser. Mobilfunk und Internet gibt es nur in der Unterführung einer U-Bahn-Station in der Nähe. Wir sind uns schnell einig, dass der neue Angriff konsequent war. Das Europarlament hat ja Russland am Mittwoch als Terrorstaat eingestuft. Offenbar hat man dies in Moskau als eine Art Adelsprädikat verstanden, das man sofort bestätigen wollte. Damit auch die letzten Zweifler keine Zweifel mehr haben.

Lemberg, den 19. November, abends

Eigentlich haben die Meteorologen in diesem Jahr einen milden Winter vorhergesagt. Vielleicht kommt er auch. Wenn man heute aus dem Fenster schaut, sieht es eher nicht danach aus. In der ersten Novemberhälfte war es noch ziemlich warm und sonnig, aber kurz danach fiel plötzlich der erste Schnee. Seit drei Tagen sind in Lemberg die geparkten Autos unter einer dicken Schneedecke vergraben. Der weiße Teppich auf den Dächern verdeckt die sonst wilde Kakofonie der Farben, dessen Spektrum fast einem Regenbogen gleicht und sich vom rostigen Rot bis zum grellen Blau erstreckt. Auf den Wiesen liefern sich Teenager große Schneeballschlachten. In den Parks fahren die Kinder mit ihren Schlitten die Hänge hinunter. Ein Familienfoto vor dieser Schneekulisse würde in jedes Bilderbuch passen. Vielleicht wird sogar wie jedes Jahr zum Advent die Eisbahn auf dem Marktplatz installiert. Eine durch und durch romantische Winteridylle.

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Wenn da nicht die Stromausfälle wären. Denn der Wintereinbruch kam gleich nach dem russischen Raketenangriff. Nun versinken manche Stadtteile Lembergs für mehrere Stunden im Dunkel. Eine Bekannte von uns saß vor zwei Tagen fast acht Stunden ohne Strom, am nächsten Tag immerhin rund vier. Die Fernheizung fiel aus, und es gab kein warmes Wasser. Der Straßenbahnverkehr in ihrem Stadtteil war lahmgelegt worden, die Ampeln waren tot. Nur der Mobilfunk und das Internet funktionierten – im Unterschied zu dem Tag, an dem die Raketen einschlugen.

In Friedenszeiten hätte eine verkehrsintensive mehrspurige Kreuzung ohne Ampel ganz bestimmt nicht funktioniert. Im Krieg sind die Autofahrer aber wesentlich rücksichtsvoller, als verfügten ihre Vehikel über eine Kriegsmodus-Taste. Also läuft der Verkehr, ohne im Chaos der unendlichen Staus zu versinken.

Nicht alle Haushalte sind gleichermaßen betroffen. In manchen Wohnungen wird der Strom kaum abgeschaltet, in anderen muss man manchmal bis zu dreimal täglich mehrere Stunden in der Kälte ausharren. Das klingt nicht unbedingt nach Gerechtigkeit. Sogar der Oberbürgermeister sah sich verpflichtet, den Bürgerinnen und Bürgern die Situation zu erklären: Manche Haushalte hätten schlicht und einfach Glück, wenn sie zum Beispiel an derselben Leitung mit einem Krankenhaus hängen. Da sind die Stromausfälle eher unwahrscheinlich.

Allerdings ist man in Lemberg im Vergleich zu den anderen Städten in einer ziemlich komfortablen Situation. Eine Bekannte meiner Frau aus Odessa berichtete, dass dort zuletzt viele Haushalte lediglich eine Stunde pro Tag Strom hatten. Und im neulich befreiten Cherson bemüht man sich immer noch um die Wiederherstellung der Stromversorgung.

In Kiewer Schnee: Ein neues Werk des Graffiti-Künstlers Banksy macht eine Panzersperre zur Wippe
In Kiewer Schnee: Ein neues Werk des Graffiti-Künstlers Banksy macht eine Panzersperre zur Wippe
Quelle: AFP/SERGEI SUPINSKY

In der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre, als es mit der Wirtschaft bergab ging, gab es im ganzen Land permanent Stromausfälle. Die ältere Generation kann sich daran noch erinnern. Wir haben es überlebt. Diesmal versucht Russland, durch den Terror gegen die Zivilbevölkerung seine Niederlagen auf dem Schlachtfeld wettzumachen. Die Strategie wird nicht aufgehen. Wir werden es überleben. Russland versinkt damit nur immer tiefer im Sumpf seiner Verbrechen.

Übrigens hat der Schnee nicht nur für Kinder einen Vorteil – wenn überall Schnee liegt, sieht man im Dunkel besser. Vor allem beim Mondlicht.

Lemberg, den 16. November, nachmittags

Mein Freund Olexandr pendelt seit Jahren zwischen Lemberg und Kiew. Aufgewachsen ist er in einer engen, mit Büchern vollgestellten Dreizimmerwohnung zusammen mit Eltern und Oma, dem Onkel und seiner jüngeren Schwester. Die Oma hat bis zu ihrem Tod in der Küche geschlafen, der Onkel und die Eltern hatten jeweils ein eigenes Zimmer, Olexandr teilte das letzte verbliebene Zimmer mit seiner Schwester. Irgendwann hatte er es satt und zog nach dem Studium nach Kiew. Das Jobangebot war attraktiv, die Mietpreise in der Hauptstadt recht hoch, sodass es für ihn finanziell am Anfang eher ein Verlustgeschäft war. Aber der Wunsch, einer überschwänglichen elterlichen Bevormundung zu entkommen, gab den Ausschlag.

Für die Lemberger, die einen Job in der Hauptstadt gefunden haben, ist es eine recht typische Geschichte. Am Anfang fährt man noch an fast jedem Wochenende zurück, man will vor allem die Freunde treffen. Die ukrainischen Züge sind billig, aber zuverlässig. Für die Rückreise stopfen die Eltern die Taschen mit Proviant voll, damit ihr Sohn oder ihre Tochter im Hauptstadtdschungel nicht verhungert. Mit der Zeit pendelt man immer seltener. Die alten Freunde führen ihr eigenes Leben, gründen Familien, ziehen weg. Einige landen ebenfalls in Kiew, andere im Ausland. Die Verbindungen zu ihrem Elternhaus kappen die Pendler nie, mit der Zeit werden die Besuche in der Heimatstadt aber immer seltener. Bis man irgendwann nur noch ein paar Mal im Jahr nach Lemberg kommt.

Allmählich stieg Olexandr in seiner Firma, die mit Handelsflächen und Büroräumen in großen Einkaufszentren handelt, auf, ist aber seiner kleinen Kiewer Mietwohnung in einem Plattenbau in der Nähe einer U-Bahn-Station treu geblieben. Ein Zimmer hat für ihn schon immer gereicht, das Geld investierte er vor allem in Reisen.

Die verrückteste Reise absolvierte er am 24. Februar. Am Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine schaffte es Olexandr irgendwie, in einen total überfüllten Zug einzuspringen. Verbrachte einige Wochen in der Wohnung seiner Eltern in Lemberg. Kehrte bald wieder nach Kiew zurück. Sein Vermieter kam ihm entgegen und berechnete für die Zeit seiner Abwesenheit nur die Nebenkosten. Im friedlichen Leben wäre eine solche Solidarität zwischen Mieter und Vermieter undenkbar gewesen.

Im Sommer kam Olexandr wieder für wenige Wochen nach Lemberg, um in Ruhe an seiner Doktorarbeit zu basteln, hielt aber in der Stadt nicht lange aus. Er hatte hier keine Ruhe. Inzwischen schien das Leben in Kiew schon fast normal weiterzulaufen. Bis zu den Raketenangriffen vom 10. Oktober.

Seitdem gibt es in der Hauptstadt immer wieder Stromausfälle. Planmäßig. Manchmal kommen außerplanmäßige dazu. Bei den ersteren informiert der Versorger auf seiner Webseite, wann unter einer bestimmten Adresse keinen Strom geben wird. Normalerweise passiert dies dreimal am Tag für jeweils vier Stunden – morgens, abends und nachts. Je nach Stadtbezirk verschieben sich die Zeiten, das Prinzip bleibt aber immer dasselbe.

Olexandr hat Glück – in seiner Kiewer Wohnung gibt es keine Stromausfälle. Wahrscheinlich hängt das Haus an einer wichtigen Leitung, genauer weiß man es nicht. Aber selbst wenn man sich über das Licht in den eigenen vier Wänden freuen kann, bleiben die Probleme. Das Mobilfunknetz und das Internet fallen mit Verzögerung aus. Die Anbieter betreiben zwar ihre Basisstationen und Antennen weiterhin mithilfe von Akkus, aber diese reichen nur für etwa eine Dreiviertelstunde aus; wegen permanenter Stromausfälle können sie zudem nicht voll aufgeladen werden. Das Home-Office ist unter diesen Bedingungen nicht ganz einfach. Wenn du gerade online bist, kann der Kunde in einem anderen Stadtteil im Dunkel sitzen.

Autoverkehr im dunklen Kiew nach den Raketenangriffen vom 11. November
Autoverkehr im dunklen Kiew nach den Raketenangriffen vom 11. November
Quelle: AP/Andrew Kravchenko

So überlegte sich Olexandr, ob er vielleicht doch nicht vorübergehend wieder nach Lemberg ziehen soll. Hier war nämlich die Stromversorgung auch nach dem Angriff im Oktober ziemlich stabil. Bis gestern. Da gab es in der Stadt nach dem massivsten russischen Raketenangriff seit Kriegsbeginn mehr als neun Stunden keinen Strom, kein Mobilfunknetz, kein Internet, keine Fernheizung, kein warmes Wasser und teilweise kein Wasser überhaupt. In einigen Stadtteilen wurde erst heute gegen Mittag die Stromversorgung wiederhergestellt. Ob es nun auch in Lemberg regelmäßige Stromausfälle geben wird, ist im Moment noch unklar. Auf jeden Fall will Olexandr jetzt abwarten. Spätestens vor Weihnachten kommt er bestimmt nach Lemberg. Spätestens dann muss man mit einem neuen russischen Angriff rechnen.

Lemberg, den 11. November, abends

Als der bulgarische Künstler und Grafikdesigner Yanko Tsvetkov im Januar 2009 – ausgerechnet in der Zeit einer „Gaskrise“, als Russland zum ersten Mal den Gashahn für die Ukraine und für Europa zugedreht hatte, – seine satirische Landkarte Europas veröffentlichte, wusste er nicht, dass daraus ein großes Projekt über Vorurteile und Klischees unter dem Titel „Mapping Stereotypes“ entstehen würde. Überraschend ist es nicht – eine spontane Idee hat sich oft genug wie ein Virus verbreitet. Am Ende sind Dutzende von Landkarten und zwei Bücher entstanden, die den Autor weltweit berühmt gemacht haben. Die witzigen, oft beißend-ironischen Namen, die die Länder oder Gebiete auf diesen Karten tragen, spiegeln die Vorurteile wider, die man in einem Land gegenüber seinen Nachbarn und der Welt hat. Kurze, geistreiche Begleittexte hat Yanko Tsvetkov, der den Künstlernamen Alphadesigner trägt und sich als „Grafikkünstler aus Berufung und Schriftsteller aus Zufall“ bezeichnet, selbst verfasst.

In dem 2013 erschienenen „Atlas der Vorurteile“ gibt es viele Karten. Auf den meisten davon wird Europa dargestellt. „Europa aus der Sicht von …“ lautet die Überschrift. Dann erfahren wir, welche Klischeevorstellungen man von europäischen Nationen oder Regionen in einem bestimmten Land hat – ob in Deutschland, Frankreich, Spanien oder Italien. Eine Karte mit dem Titel „Europa aus der Sicht der Ukraine“ gibt es in diesem Band nicht. Aber die Ukraine kommt auf den Landkarten immer wieder vor – mal als „Gasdurchgangsland“ für die Deutschen, mal als Land der „Frauen mit geflochtenen Haaren“ für die Italiener.

In Griechenland sah man die Ukraine angeblich teils als Land der „orthodoxen Barbaren“ („von uns zivilisiert“), teils als Amazonien. Für die Briten war sie nur ein „eigenartiges Land“. Die Franzosen stellten sich nur die Frage, ob es „nicht einmal Russland war“. Und für die Schweizer begann China schon in der ukrainischen Steppe. Aus der Sicht von Russland schließlich bestand die Ukraine auf einer Karte aus dem Jahr 2010 aus zwei Teilen. Einer davon wird darauf als „Südliches Russland“ bezeichnet, dem anderen, immerhin größeren Teil diagnostizierte man dort eine „Persönlichkeitsstörung“.

Vier Jahre später, nach der Krim-Annektion hat Yanko Tsvetkov noch eine Karte gezeichnet. Diesmal war es „Europa aus der Sicht von Wladimir Putin“. Für den war die EU eine „Union der inzestuösen Homosexuellen“, das Schwarze Meer sah der russische Präsident nunmehr als „unser Mittelmeer“, und die Ukraine war für ihn wieder zweigeteilt – diesmal in das „Alte Neurussland“ und das „Land der Eurofaschisten“. Tsvetkov karikiert den russischen Krim-Anschluss, indem er die ukrainische Halbinsel durch das Schwarze Meer wandern und an dessen Ostküste andocken lässt. Als wäre dies eine Bestätigung für Alfred Wegeners Theorie des Kontinentaldrifts.

Kiewer posieren vor einer Riesenbriefmarke, die den Anschlag auf die Krim-Brücke zeigt
Kiewer posieren vor einer Riesenbriefmarke, die den Anschlag auf die Krim-Brücke zeigt
Quelle: SOPA Images/LightRocket via Getty Images

2014 konnte der im noch kommunistischen Bulgarien geborene und seit vielen Jahren in Spanien lebende Grafikkünstler noch lachen. 2022 war es damit vorbei. Am 25. Februar, einen Tag nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, postete Yanko Tsvetkov auf der Website von atlasofprejudice.com einige Sätze. Es lohnt sich, sie vollständig wiederzugeben:

„Mein ‚Atlas der Vorurteile‘ wurde 2009 geboren, als ein Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine eine Energiekrise in Osteuropa auslöste. Als Osteuropäer, der sich noch an den Kommunismus erinnert, kann ich mir nicht den bequemen Luxus leisten, den Westen für alles Tragische in der Welt verantwortlich zu machen. Bereits 2009 hielt ich Russland für eine bedrohliche Macht, die nur darauf wartete, ihre Zähne zu zeigen. Und die Zeit hat mir allmählich recht gegeben.

Aber so misstrauisch ich auch gegenüber Russlands Ambitionen war, ich konnte mir nicht vorstellen, dass Putin eines Tages eine massive Invasion in der Ukraine starten und sie mit Argumenten rechtfertigen würde, die nicht einmal auf einem Kindergartenspielplatz stichhaltig sind. Die meisten von ihnen klingen zu lächerlich, um eine ernsthafte Widerlegung zu verdienen, aber eines lässt mir einen Schauer über den Rücken laufen. Der Vorwurf, der Westen fördere ‚Pseudowerte, die der menschlichen Natur widersprechen‘, riecht nach hemmungslosem Hass und Homophobie.

Ich sehe mir die Karte ... an und kann nicht mehr lachen. Was einst ein Scherz war, ist jetzt ein absoluter Horror. Das Europa von 2009 ist endgültig tot und mit ihm mein Projekt.“

Es ist nicht das erste Mal, dass Künstler die Welt besser verstehen und die Gefahren eher sehen als Politiker. Leider wird es auch nicht das letzte Mal sein.

Lemberg, den 7. November, abends

Im 18. Jahrhundert war Weimar ein kleines Städtchen. Ein herzogliches Schloss, ein paar Kirchen, etwa 600 bis 700 Häuser und eine Stadtmauer. Wie Peter Watson in seinem Buch „Der deutsche Genius“ (2010) schreibt, gab es hier damals zwei Wirtshäuser – den „Erbprinz“ und den „Elefant“ –, drei Läden, die diesen Namen verdienten, und kaum mehr als 6.000 Einwohner, von denen ein Drittel Hofbeamte, Bürokraten, Soldaten und Pensionisten waren. Es gab keinen Handel, keinen Tourismus und keine Manufakturen.

Als Madame de Staël 1803 Weimar besuchte, fühlte es sich für sie weniger an wie eine kleine Stadt als vielmehr wie ein großes Schloss. Trotzdem ist der Einfluss dieses „großen Schlosses“ auf die deutsche Literatur, Kunst und Philosophie kaum zu überschätzen. Peter Watson vergleicht die Rolle Weimars gar mit der von Florenz für die italienische Renaissance.

Zur Zeit der Weimarer Klassik, als hier Wieland, Goethe, Herder und Schiller lebten, brauchte man wohl nur wenige Minuten, um die Stadt – durch dessen schmalen Gässchen laufend – zu durchqueren. Die Anreise muss dagegen viel mühsamer gewesen sein. Ich weiß nicht, wie lange man damals von Frankfurt – Goethes Geburtsstadt – nach Weimar brauchte. Wenn man berücksichtigt, dass eine Postkutsche – den holprigen Straßen geschuldet – kaum schneller als 6 bis 7 km/h unterwegs war, brauchte man für eine Strecke von knapp 300 Kilometer auf jeden Fall mehrere Tage.

Heute schafft man selbst im Krieg eine mehr als dreimal so lange Distanz wesentlich schneller. Man muss nur oft genug Pferde wechseln. Fünf verschiedene Züge, drei verschiedene Flüge, drei Taxen, zwanzig Stunden und eine schlaflose Nacht. So sieht heute eine Reise von Lemberg nach Weimar aus.

„Oha! Fast wie in Postkutschenzeiten“, schrieb mir eine alte Freundin, als sie erfuhr, dass die Rückreise fast 30 Stunden gedauert hatte, weil ich da noch eine Übernachtung in Polen einbauen musste. Aber es hat sich gelohnt. Ich meine, nicht nur die Übernachtung in Polen. Sondern vor allem der Besuch in Weimar.

Wenn ich heutzutage über eine Brücke gehe – und es gibt etliche davon in Weimar, – muss ich immer wieder an eine Brücke aus Papier denken, an dieses Zitat von Manès Sperber, das seit nunmehr sieben Jahren das Motto des jährlichen deutsch-ukrainischen Schriftstellertreffens ist, das in diesem Jahr in Weimar stattfand.

Die Atmosphäre war eine ganz besondere. Ukrainische Schriftstellerinnen, die vor dem Krieg ins Ausland geflüchtet sind, aber sich nicht als Exilantinnen verstehen. Ihre deutschen Kolleginnen und Kollegen, die den Krieg aus der Ferne beobachten und den Ukrainerinnen und Ukrainern aufmerksam zuhören wollen. Viele Texte voller Schmerz, oft traurig, manchmal selbstironisch, aber keine Spur von Verzweiflung. Die fantastischen Räume der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, zum Nachdenken und Selbstreflexion geradezu prädestiniert. Der Bücherkubus mit seinem Glasdach und bis in die luftigen Höhen vollgestellten Wänden. Und die Aschebücher: So heißt einerseits ein Zyklus des Künstlers Hannes Möller, der hier gerade zu sehen. Es gibt auch echte halbverbrannte Bücher, wie jenes, das uns der Bibliotheksdirektor Reinhard Laube zeigt.

Im Rokoko-Saal der Bibliothek riecht man sofort den Brandgeruch. Allerdings ist er dort nicht vom verheerenden Brand aus dem Jahr 2004 geblieben, dem zigtausende Bücher zum Opfer gefallen sind. Heute kommt der Geruch von den beschädigten Bänden, die in einem aufwendigen Verfahren restauriert werden.

Ein Buch verbrennt nie vollständig. „Es bleibt immer etwas übrig“, sagt Reinhard Laube.

Der Rokokosaal der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar
Der Rokokosaal der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar
Quelle: Martin Schutt/dpa/Archivbild

Ich stelle mir vor, wie das Feuer sich von außen nach innen durch ein Buch frisst, Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort, Satz für Satz, Seite für Seite. Die Ränder und der Umschlag sind längst verkohlt, im Inneren bleiben aber immer noch einzelne Passagen lesbar. Es sind vielleicht nur noch Gedankenfetzen, ohne Anfang und Ende, die das Feuer überlebt haben. Sie haben dem Brand widerstanden.

Es ist symbolisch, dass eine Diktatur ähnlich funktioniert. Sie frisst sich in jedes Individuum ein wie Feuer in ein Buch, sie nimmt dem Menschen seine Freiheit weg – Wort für Wort, Gedanken für Gedanken. Und trotzdem ist sie am Ende zum Scheitern verdammt, weil sie die persönlichen Freiräume – anders als in der Orwellschen Welt – nicht vollständig eliminieren kann. Es ist symbolisch, dass die Nazis Bücher verbrannt haben. Es hat ihnen nichts genützt. Nun verbrennen russische Besatzer in ihrem Symbol-Wahn ukrainische Bücher. Die Geschichte wiederholt sich: Es wird den Brandstiftern nichts nützen.

Lemberg, den 31. Oktober, abends

Seemänner haben schon immer wilde Geschichten erzählt. In den alten Zeiten handelten ihre Berichte von Seeungeheuern, die Schiffe verschlangen, von Fabelwesen, die auf den Bäumen lebten, oder von fernen Ländern und Inseln mit üppig wucherndem Grün und märchenhaftem Reichtum. Im 15. Jahrhundert, als die Europäer auf gefährlichen Seereisen die Welt zu entdecken begannen, glaubte man zunächst sogar, dass die Schiffe nicht unendlich in Richtung Süden steuern können, weil am Äquator das Wasser kochen würde. Man nahm die Berichte der Kapitäne und die Erzählungen der Matrosen in Hafenspelunken in der Regel für bare Münze.

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Im Laufe der Jahrhunderte wurde das Wissen über unseren Planeten immer exakter. So stellten irgendwann der letzte Landwinkel und die kleinste Insel kein Geheimnis mehr dar. Die Matrosen tischten zwar immer noch ihre Anekdoten auf, das Publikum wurde jedoch nunmehr viel skeptischer und anspruchsvoller. Man sehnte sich aber nach wie vor nach fantastischen fernen Welten. Man hat sie in den Abenteuerromanen entdeckt. Es schlug die Stunde der Schriftsteller.

Auch heute faszinieren uns meisterhaft erzählte Legenden und Geschichten. Als Kinder lesen wir begeistert die Storys über Jim Hawkins, Kapitän Nemo oder Moby Dick. Wahrscheinlich habe ich „Die Schatzinsel“ mindestens zehnmal gelesen, bis meine Eltern schließlich beschlossen, mich zum Augenarzt zu bringen.

Auch das Militär und die Kirche hatten oft das Faible für fantastische Historien. Im fünften Jahrhundert sollte sich der Hunnenkönig Attila auf inbrünstige Bitte Leo des Großen mit seinem Heer aus Italien zurückgezogen haben. Dabei hatten die Apostel Petrus und Paulus mit gezückten Schwertern den Worten des Papstes einen besonderen Nachdruck verliehen. Daraufhin hatte Attila keine Wahl und flüchtete in Panik.

Die russische Marine scheint ihre Vorliebe für wilde Geschichten jeglicher Art bis heute nicht aufgegeben zu haben. Oder anders formuliert – sie hat sie wiederentdeckt. Nun heißt es, dass die Ukraine ihren Drohnenangriff auf die russischen Schiffe in Sewastopol von einem mit Getreide beladenen Schiff verübt habe. Zu der Frage, ob die Drohnen auch mit Getreide beladen waren, hüllt sich das russische Marinekommando in Schweigen.

Abkommen auf Messers Schneide: Mit ukrainischem Weizen beladene Frachter am Bosporus
Abkommen auf Messers Schneide: Mit ukrainischem Weizen beladene Frachter am Bosporus
Quelle: REUTERS

Die Rolle der Bösewichte, die den Ukrainern diesmal geholfen haben, sollen nun die ewigen Feinde des großrussischen Putinismus übernehmen – Großbritannien oder die USA. Frei wählbar, je nach Geschmack. Auf jeden Fall ist es nun ein Grund für Moskau, vom sogenannten „Getreideabkommen“ zurückzutreten. Mit der Begründung, dass die russische Marine nicht mehr die Sicherheit der zivilen Schiffe, die Getreide aus ukrainischen Häfen transportieren, garantieren könne. Interessant. Ich dachte, dass die Schiffe der russischen Marine die einzigen sind, die diese Transporte bedrohen. Eine wilde Seemannsgeschichte muss glaubwürdiger sein. Die Romanciers des 19. Jahrhunderts konnten es viel besser.

Lemberg, den 27. Oktober, nachmittags

Rzeszów ist die erste polnische Großstadt hinter der ukrainischen Grenze. Rund 200.000 Einwohner, zwei Universitäten, ein Schloss, eine schöne Altstadt mit einem breiten Marktplatz, ein internationaler Flughafen und ein Bahnhof, der renoviert wird. Finanziert wird der Umbau der postkommunistischen Verkehrsinfrastruktur und des konstruktivistischen Bahnhofsgebäudes aus einem EU-Fonds, wie man einer Infotafel entnehmen kann.

Früher bin ich oft über Rzeszów gefahren. Die Straße nach Krakau führte über die Stadt, allerdings fuhr man nicht direkt durch das Zentrum, sondern etwas seitlich, um den historischen Stadtkern herum, als hätte man Angst, die etwas untergekommenen Fassaden der alten Häuser zu Gesicht zu bekommen. Als Entschädigung durfte man miterleben, wie der wirtschaftliche Aufschwung Südostpolen veränderte – jedes Jahr ein neues Einkaufszentrum, jedes Jahr ein neues Firmengelände und neue Werbeflächen, teils auf Polnisch, teils auf Ukrainisch. Der ukrainische Markt gewann für die Region zunehmend an Bedeutung. Schließlich wurde die Autobahn fertiggestellt.

Auch wenn die polnisch-deutschen Beziehungen zuletzt nicht spannungsfrei sind, haben die Polen inzwischen etwas von ihrem westlichen Nachbarn gelernt: Die Bauarbeiten am Bahnhof dauern bereits seit Monaten, vielleicht schafft man es mit dem Umbau irgendwann im nächsten Jahr. Vielleicht auch nicht. Niemand weiß es so genau. Es wird gehämmert, gezimmert, gebohrt, gegraben, aufgebrochen, einbetoniert, verlegt und wieder aufgebrochen. Eine typische Langzeitbaustelle eben.

Zu einer Baustelle gehören gesperrte Wege, Umleitungen, nicht funktionierende Rolltreppen, versteckte Aufzüge, verwinkelte Tunnelgänge und eine komplizierte Beschilderung. Kein Wunder, dass es nicht ganz einfach ist, mit dem schweren Koffer aus diesem Labyrinth herauszufinden. Zwei junge, kräftig gebaute Männer mit viel Gepäck fragen mich auf Englisch, ob sie hier richtig sind. „Es sieht so aus“, antworte ich etwas unsicher. Ich muss noch den Busbahnhof finden, er ist irgendwo in der Nähe, aber meine Navi-App spielt auf der Baustelle verrückt und berechnet die Route immer wieder neu. Wir kommen nur kurz ins Gespräch. Es stellt sich heraus, dass es Amerikaner sind. Als die beiden erfahren, dass ich aus der Ukraine komme, reagieren sie entzückt und sagen, sie seien auch gerade da gewesen. „Great!“, antworte ich nur kurz, da trennen sich unsere Wege. Was für Extremtouristen, schießt mir noch ein wirrer Gedanke durch den Kopf, dann trete ich schon aus dem Bahnhofsgebäude in den Regen hinaus. Ich muss die Baustelle weiträumig umlaufen.

Regen und Baustelle ist keine besonders einladende Kombination. Der Busbahnhof erscheint im Regen noch grauer und trauriger als er schon ist. Komisch, aber die meisten Busbahnhöfe, die ich in meinem Leben gesehen habe, waren grau und traurig. In Rzeszów sieht er auch noch ziemlich verlassen aus, auch wenn sich ein paar Menschen in einem kleinen Wartesaal herumdrücken. Die Dame am Schalter teilt mir etwas gelangweilt mit, dass der nächste Bus zum Flughafen in zweieinhalb Stunden abgeht. Wegen Umbau würden die Busse nun unregelmäßig fahren. Ich kalkuliere kurz, ob es noch reichen würde. Eventuell ja, aber knapp. Ob es eine andere Möglichkeit gebe, einen anderen Bus vielleicht, der nicht vom Busbahnhof fährt? Das wisse sie nicht genau, eventuell von da – sie zeigt mit der Hand in Richtung Regen. Ok, es reicht. Keine Experimente. Ich nehme ein Taxi.

Der Taxifahrer ist ein fülliger, gesprächiger Mann um die Sechzig. Bis wir aus dem Stau rauskommen und auf die Ausfallstraße in Richtung Flughafen abbiegen, hat er mir bereits seine halbe Lebensgeschichte erzählt. Besonders kompliziert ist sie nicht. Seit etwa 40 Jahren fährt er Taxi, also praktisch immer. Ich erfahre zudem, dass es derzeit in Rzeszów viele Ukrainerinnen gibt (das wusste ich) und auch viele Amerikaner (das war mir nicht wirklich bewusst).

Ein Boeing CH-47 Chinook Helicopter der US-Armee am Flughafen im polnischen Rzeszow.
Ein Boeing CH-47 Chinook Helicopter der US-Armee am Flughafen im polnischen Rzeszow.
Quelle: Christophe Gateau/dpa

Als wir uns dem Flughafen nähern, verstehe ich alles. Das Gelände ist weitgehend umzäunt, aber schon einige hundert Meter vom Terminal sieht man hinter einem hohen grünen Zaun die ersten in den Himmel gerichteten Rohre. Es sind die Patriot-Luftabwehrsysteme. Ganz viele davon. Es wäre besser, wenn einige in der Ukraine stehen würden. Aber zumindest weiß man, dass der hiesige Flughafen bestens geschützt wird. Es beruhigt. Auf dem Flugfeld steht eine große Transportmaschine. Aus dem Fenster des Terminals kann man sogar an ihrem Rumpf lesen: U.S. Air Force. Ich bin kein ausgewiesener Kenner von Militärtransportern, aber hier bin ich mir ziemlich sicher: Es ist eine C-17 Globemaster. Rzeszów ist seit Monaten ein wichtiger Hub für Lieferungen jeglicher Art in die Ukraine.

Erst jetzt dämmert mir, dass die zwei Männer, denen ich am Bahnhof in Rzeszów begegnet bin, keine Extremtouristen waren. Vielleicht waren es nur … Journalisten.

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