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Kultur Filmpreis-Verleihung

Europas Kino braucht einen „Marshall-Plan“

Filmredakteur
Preise für Regie, Drehbuch, Bester Film: Das Team von „Triangle of Sadness“ räumte in Island ab Preise für Regie, Drehbuch, Bester Film: Das Team von „Triangle of Sadness“ räumte in Island ab
Preise für Regie, Drehbuch, Bester Film: Das Team von „Triangle of Sadness“ räumte in Island ab
Quelle: AFP
Am Wochenende wurde in Reykjavik der 35. Europäische Filmpreis gefeiert. Doch die Festivitäten hatten einen bitteren Beigeschmack; die hiesige Industrie droht in Hollywoods Übermacht unterzugehen. Welche Institution sie jetzt noch retten kann.

Nehmen wir einmal an, Manuel Neuer hätte bei der WM einen Elfmeter von Lionel Messi gehalten. Das ist unwahrscheinlich, Neuer ist kein Elfertöter und Messi kein -versieber, und außerdem ist Neuer viel zu früh in Weihnachtsurlaub gegangen. Nun, Hannes Por Halldorsson hat einen Elfmeter von Messi gehalten, als Torhüter der isländischen Nationalmannschaft, bei der letzten WM. Und, was er Neuer uneinholbar voraushat: Halldorssons Regiedebüt „Cop Secrets“ über zwei Superpolizisten, die entdecken, dass sie beide schwul sind, war gerade beim 35. Europäischen Filmpreis als beste Komödie nominiert.

Island gehört in der Definition der Filmakademie zur europäischen Kinofamilie, wie auch die Ukraine oder Israel (und, übrigens, Palästina, das von Island als selbstständiger Staat anerkannt ist). Es ist keine exakte geografische Definition, sondern eine kulturelle. Europas Kino habe sich immer über seine Autorenfilmer definiert, erklärt der französische Produzent Philippe Bober auf der Preisbühne in Reykjavik und fügt leicht maliziös hinzu: „Im Gegensatz zum amerikanischen, wo immer zuerst die Pipeline da war, die gefüllt werden wollte.“

Es ist eine Definition, die weiter zutrifft und dem europäischen Kino mehr zu schaffen macht als jemals zuvor. Es gibt mehr Pipelines und sie heißen Streaming-Plattformen, und alle großen gehören den Amerikanern und werden entweder mit US-Produkten befüllt oder mit strikt nach amerikanischen Mustern entstandenen. Der europäische Autorenfilm ist mehr denn je in der Defensive und seit der Pandemie in noch größerer Not, weil die Zuschauer weniger ins Kino gehen, speziell die Arthauskinos.

Man könnte diesen 35. Filmpreis am äußersten Rand des Kontinents als symbolisch ansehen: Europas Filmkunst, die auf dem eigenen Territorium marginalisiert wird. Das wäre natürlich ungerecht gegenüber den Isländern, Gastgebern mit Herz und Hand, die in Reykjavik für 120.000 Einwohner sieben Kinos haben, woran sich die meisten deutschen Städte dieser Größe ein Vorbild nehmen könnten.

Am Abend vor dem Filmpreis ist das Kino Bio Paradis fast ausverkauft, als es „Die bleierne Zeit“ zeigt, den 40 Jahre alten Gudrun-Ensslin-Film von Margarethe von Trotta, die am Ende zu einer Frage- und Antwortrunde vorbeikommt und über Rebellion damals und heute spricht: „Vielleicht sollte ich mich auch auf die Straße kleben; ja, ich glaube, das werde ich einmal tun.“

Das Gebäude eines Traumas

Der Filmpreis, der jährlich abwechselnd in Berlin und einer anderen europäischen Hauptstadt ausgetragen wird, hat selten an einem so eindrucksvollen Ort stattgefunden. Das Kulturzentrum „Harpa“, direkt an der Wasserkante des alten Hafens, ist ein Paradebau der modernen Architektenarchitektur wie das Guggenheim in Bilbao, zwei versetzte Quader auf schrägen Kanten, eingehüllt von Glaswaben, die auf Lichtstimmungen reagieren. Seine Geschichte ist eng mit dem deregulierten Marktliberalismus verbunden, mit dem nationalen Trauma von Islands Beinahe-Staatsbankrott in der Finanzkrise von 2008, als die großen Banken des Landes sich im Expansionswahn übernommen hatten und verstaatlicht werden mussten.

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Die Harpa, Prestigeprojekt eines Bankenkonsortiums (auch die Deutsche Bank mischte mit), stand damals im Rohbau da und hätte eine Denkmalruine für die Hybris des Neoliberalismus werden können – wären nicht Staat und Hauptstadt eingesprungen und hätten das Konzerthaus vollendet; an dem dafür aufgenommenen Kredit werden sie noch drei Jahrzehnten zahlen. Die Ablehnung dieses Kolosses durch die Reykjaviker hat übrigens der Schriftsteller Halldor Gudmundsson abbauen müssen, der lange Islands Auftritt auf der Frankfurter Buchmesse organisierte und als Gründungsdirektor der Harpa die interessantesten Künstler in die Halle brachte (obwohl der Bankenwahnsinn den Wert der isländischen Krone zeitweise fast halbiert hatte). An diesem Abend in der Harpa gehen sämtliche wichtigen Preise – Regie, Drehbuch, Hauptdarsteller, Bester Film – an Ruben Östlunds „Triangle of Sadness“, der ein Kreuzfahrtschiff als Symbol der kapitalistischen Gesellschaft untergehen lässt.

Kinokleinstaaterei

„Triangle“ ist der einzige der Nominierten, der eine Kinokarriere quer über Europa gemacht hat, auch dank der Goldenen Palme in Cannes. Ansonsten herrscht in Europa weiterhin die Kinokleinstaaterei: Lokale Erfolge schaffen es selten über die Grenzen. Sie ist sogar, verglichen mit vor 30 oder 40 Jahren, schlimmer geworden; damals fanden wenigstens noch französische und italienische und spanische Produktionen weitere Verbreitung, wovon heute kaum noch die Rede sein kann, im Kino so wenig wie im Streaming.

Offenbar ist Film eine jener Industrien, in denen der Markt nicht mehr funktionieren kann, weil das Übergewicht eines Marktteilnehmers – namentlich Hollywood – zu erdrückend geworden ist. Es gibt noch zwei einigermaßen funktionierende Kinematografien in Europa, die englische (als verlängerte Werkbank Hollywoods) und die französische (die sich weiterhin selbst genug ist), und das merkte man auch in Reykjavik: Wer es durchweg nicht für nötig hielt, als Nominierte persönlich zu erscheinen, waren die Briten (Kenneth Branagh, Paul Mescal) und die Franzosen (Léa Seydoux, Alice Diop). Und natürlich Ursula von der Leyen, die sich per Video für den neu geschaffenen Filmpreis für Nachhaltigkeit bedankte, den die Europäische Kommission für ihren „Green Deal“ erhielt.

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Die Nichtachtung dieses Preises durch „Große“, die per Videoschalte „Präsenz“ simulieren, hat eine Geschichte. Die Akademie und ihr Preis, 1988 in Berlin aus der Taufe gehoben, haben vor allem in den Neunzigern aus Mangel an Geld und Mitstreitern gerade so überlebt; erwähnt man Preisverleihungen von damals gegenüber Mike Downey, dem heutigen Vorsitzenden, schlägt er stumm die Hände über dem Kopf zusammen. Die Akademie hat es nie richtig geschafft, sich als ein Kraftzentrum neben den Oscars, den Césars und Cannes zu etablieren.

Spät, hoffentlich nicht zu spät, könnte sich das nun ändern. Downey spricht von einem „Marshall-Plan“ für das europäische Kino, in Anlehnung an den Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Brüsseler Kommission gibt zwar Geld für alle möglichen Filmzwecke, ist aber viel zu sehr der marktwirtschaftlichen Ideologie verhaftet, sprich: Was ihr beim Schutz der europäischen Stahlindustrie oder Agrarwirtschaft vor unlauterem Wettbewerb durchaus einleuchtet, hat sich im Bereich der Kulturindustrien in ihrem Denken und Handeln noch nicht durchgesetzt.

Das Kulturhaus Harpa am alten Hafen von Reykjavik
Das Kulturhaus Harpa am alten Hafen von Reykjavik
Quelle: Universal Images Group/Getty Images

Es braucht also eine andere Institution, die bereit ist, eine Führungsrolle zu übernehmen, und die Europäische Filmakademie scheint sie übernehmen zu wollen. Ihre wichtigste Aufgabe besteht darin, die erodierte Zuschauerbasis für europäische Filme in deren Heimat neu aufzubauen – und sich nicht auf den einen, großen Abend der Preisverleihung zu beschränken. Es gibt jetzt Filmclubangebote für Jugendliche, ein Programm für bedrohte Filmemacher und eines für den Erhalt des europäischen Filmerbes. Dieses Jahr fand in 50 großen europäischen Städten in vielen Kinos ein „Monat des europäischen Films“ statt, bei dem viele der Nominierten gezeigt wurden, mit erheblichem Zuschauererfolg; Downey will das erst auf 100 und bald auf 200 Städte erhöhen und mit dem Arthaus-Streamer Mubi zusammenarbeiten.

2022 war ein starker europäischer Jahrgang, mit „Holy Spider“ (der Geschichte eines Frauenserienmörders im patriarchalen Iran), „Close“ (einer engen Beziehung pubertierender Jungs), „Corsage“ (einer ganz anderen „Sissi“-Interpretation) sowie dem Berlinale-Gewinner „Alcarràs“ (über die Vertreibung einer Obstbauernfamilie von ihrem Land durch Sonnenkollektoren).

Kollektives Am-Riemen-Reißen

Nun genügt es nie, einfach nach mehr Regulierung zu rufen, alle müssen sich zusammenreißen. Die Filmakademie scheint dazu bereit und in der Lage. Die Show am Samstagabend brauchte sich technisch und inszenatorisch vor keiner anderen Preisvergabe zu verstecken, war sogar ausgesprochen innovativ. So wurde die immergleiche Laudatoren- und Dankesredenrhetorik durch – nennen wir sie „Focusgruppen“ – kontrastiert: Litauische Basketballer unterhielten sich in einer Spielpause in normalen Worten über die nominierten Filme einer Kategorie, die Gäste eines Eissalons in Reykjavik („Wo das Eis nie schmilzt“, wie wahr, wie wahr!) über die in einer anderen.

Wenn wir schon beim Am-Riemen-Reißen sind: Es ist ein Armutszeugnis, wenn man Manuel Neuer bemühen muss, um in einem Bericht über den Europäischen Filmpreis einen deutschen Namen mehr drinstehen zu haben. Gut, Margarethe von Trotta erhielt den Lebenspreis, Albrecht Schuch und Nina Hoss durften Preise verteilen, doch gab es nur eine einzige Nominierung für einen aktuellen deutschen Film, Meltem Kaptan als „Rabiye Kurnaz“, und die ging leer aus. Der letzte deutsche Gewinner („Toni Erdmann“) liegt sechs Jahre zurück, voriges Jahr gab es gar keinen deutschen Nominierten.

Die Isländer währenddessen sind gleichermaßen kreativ wie geschäftstüchtig. Als der europäische Film sich feierte, stand nur ein paar Kilometer entfernt Jodie Foster auf einer der acht Studiobühnen, die hier inzwischen existieren, und drehte ihre neue Serie „True Detective“; die klugen Isländer lockten Hollywood mit ihren großartigen Landschaften, als die Krone noch billig war und bieten ihm nun das gesamte Produktionspaket, da die Krone wieder teuer geworden ist. Im Paradis-Kino zeigen sie eine Stunde lang, was sie an neuen Projekten im Ärmel haben. Ja, es sind Familiendramen – „das alte Ehepaar, das in einer Hütte bei dem Vulkan lebt und sich nichts mehr zu sagen hat“, wie es eine Produzentin selbstironisch übertrieb. Man sah aber auch einen Trailer, wo die Heckflosse eines Flugzeugs aus dem ewigen Schnee ragt, darauf ein Hakenkreuz, und im Innern scheint eine vereiste Leiche zu liegen, die verdächtig nach Adolf Hitler aussieht. Und Hannes Por Halldorsson wäre nicht abgeneigt, ein Remake seines Cop-Thrillers in großem Maßstab zu drehen. Vielleicht mit anderen Fußballern, die im Film etwas geworden sind, wie Eric Cantona und Vinnie Jones? „Klar, bringen Sie mir die und ich lege los.“

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