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Kultur John Neumeiers neues Ballett

Ein bisschen Frieden

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Unerklärliche Tanzerzählung: „Dona Nobis Pacem“ Unerklärliche Tanzerzählung: „Dona Nobis Pacem“
Unerklärliche Tanzerzählung: „Dona Nobis Pacem“
Quelle: Kiran West
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Ein Hauch von Endgültigkeit liegt über diesem Abend: John Neumeier verwandelt Bachs h-Moll-Messe in sein vielleicht letztes Ballett für Hamburg. Der Kanzler ist da. John Lennons „Imagine“ wird zitiert. Bericht vom Versuch einer choreografierten Sinnstiftung.

Ein flüchtender Soldat, der über die fast leere Szene läuft, sich in eine Ecke kauert. Ein irgendwie aufgeregter Mann mit Koffer, aus dem Fotos fallen. Ein Fotograf, der ein umgeworfenes Fahrrad und einen Schützengraben knipst. Eine Frau in Schwarz, die vor dem Zweirad verharrt, neben dem eine Rose steht. Jogger.

Das alles passiert, noch bevor aus dem Graben vom 28-köpfig nebeneinander platzierten Vocalensemble Rastatt dreimal, immer schmerzlich schöner das „Kyrie eleison“ ertönt und das vom straff voranschreitenden Holger Speck geführte ensemble resonanz nach seinem Orchesterritornell die fünfstimmige Chorfuge in h-Moll untermalt.

H-Moll. So wie in h-Moll-Messe, Johann Sebastian Bachs letztem großen, bis heute rätselhaften Vokalwerk, das er selbst nicht einmal so genannt hat. Und das erst die Nachwelt zu einer klingenden Inkunabel des Abendlandes hat werden lassen.

Es liegt Großes in der Luft, an diesem Abend in der Hamburgischen Staatsoper, den mehr als nur ein Hauch von Abschied, von Endgültigkeit umschwebt. Sogar Bundeskanzler Olaf Scholz, vormals Hamburgs Bürgermeister, ist da, redet am Schluss, und, in dunkles Tuch und Edelroben so dezent wie immer gekleidet, tout Hamburg, die Kulturelite der Freien und Hansestadt, von denen nicht wenige womöglich schon vor 50 Jahren dabei gewesen sind.

Damals, als der jetzige Ehrenbürger John Neumeier sich anschickte, die Ballettdirektion der Staatsoper zu übernehmen. Mehr als 170 Werke später ist daraus ein Imperium geworden, mit eigener Intendanz, großer Truppe, Ballettzentrum, Schule und Internat sowie dem Bundesjugendballett – und (wieder in einer eigenen Villa) dem künftigen John Neumeier Institut, wo seine unschätzbare Tanzartefaktesammlung mit Schwerpunkt Vaslav Nijinski wissenschaftlich ausgewertet werden kann. Dafür erhält das Land im Gegenzug für die Staatsoper sämtliche Werkrechte. Auch die des vorläufig letzten – „Dona Nobis Pacem“.

Szene aus "Dona Nobis Pacem" in Hamburg
Szene aus „Dona Nobis Pacem“ in Hamburg
Quelle: Kiran West

Das wird freilich noch nicht das Allerletzte gewesen sein. Denn John Neumeier hat doch noch um ein Jahr verlängert – bis Sommer 2024 –, damit sein Nachfolger, der gewiss eifrige Kompanieleiter, aber blässliche Choreograf Demis Volpi, dann direkt übernehmen kann. Aber natürlich hat Neumeier wieder groß und historisch gedacht.

1973 hat er an der Alster begonnen, 1980/81 zeigte der gläubige Katholik, quasi als eine erste Zusammenfassung seines Wirkens, erst „Skizzen“, dann die ganze „Matthäus Passion“ des Protestanten Bach. Zunächst umstritten, wurde es vom Hamburger Michel aus, angeregt vom dortigen Kirchenmusikdirektor Günter Jena, zu einem Welterfolg. Und ist natürlich noch immer im Repertoire.

Es erklärt sich nichts

Von Bach folgten das Magnifikat und das Weihnachtsoratorium, von Händel der „Messias“ und von Mozart dessen Requiem. Und mit einer Kirchenkomposition wollte Neumeier nun ursprünglich seine in der Balletthistorie einmalige Amtsherrschaft krönen. Nach dem Opus 172 sollte zu den triumphal feierangedachten Balletttagen im Sommer „nur“ noch eine „Romeo und Julia“-Wiederaufnahme geben.

Es ist anders gekommen. Mindestens ein Werk wird wohl noch folgen. Und das ist gut so. Denn bis in „Dona Nobis Pacem“ nach zweieinhalb Stunden endlich die letzte, intensive Friedensbitte verlischt, hat man eigentlich nichts verstanden. Der abstrakte Messetext wird bebildert, aber nichts erklärt sich.

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Höchstens durch die aus anderen Neumeier-Werken vertrauten Bildmotive, ja sogar wiederverwendeten Kulissenteile, ähnliche Kostüme, für die er, auch für das Licht, ganz allein verantwortlich zeichnet. Man solle sich kein Bild machen, hat freilich er selbst vorher verlangt, keine Geschichte, keinen Sinn, keine Verbindung zur Musik suchen.

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Das ist allerdings zu einfach, denn dafür ist schon die Vorlage zu bedeutend. Die, auch das zeigt die Wertschätzung bei höchster Qualitätsforderung Neumeiers, von den Instrumentalisten über die großartigen Choristen bis zum Solistenquintett (Marie Sophie Pollark, Katja Pieweck, der etwas schwächere Altus Benno Schachtner, Julien Prégardien, Konstantin Ingenpass) ganz großartig spannungsvoll und lyrisch zart musiziert wird. Doch auf der Bühne türmen sich, trotz meist heller Übersichtlichkeit, die Rätsel.

Neumeier lässt rennen, springen, barmen, sich verschlingen, verknoten, umarmen, herzen, trauern. Wenn einer stirbt oder zumindest Todesgedanken hat, zieht er sein Hemd aus. So wie der (es geht den meisten Solisten so) nur episodisch auftauchende Offizier alias Edvin Revazov. Und meist ist dann auch irgendein gern von Engeln umflatterter Geistlicher da, der im weißen Designerhabit Trost spendet. Man kann es auch Kitsch nennen.

Der Frieden wird erst ganz am Ende gefunden
Der Frieden wird erst ganz am Ende gefunden
Quelle: Kiran West

Aleix Martinez ist, wie so oft in den vergangenen Neumeier-Jahren, der aufgeschreckte ER mit Koffer, dessen Irrweg nie ganz klar wird. Eine SIE (die tolle Ida Praetorius im roten Kleid) gibt es bisweilen auch.

Einen Schatten, Kindsoldaten, die tanzend betende Gemeinde, weitere Witwen. Und Jogger. Viele Jogger. Nach der erst kurz vor der Premiere eingezogenen Pause zwischen Gloria und Credo rezitiert der eher nervig klickende Fotograf (Lennard Giesenberg) John Lennons „Imagine“. Dann barmt und wuselt unverdrossen Bach weiter.

Zu sich selbst auf Distanz gehend hat John Neumeier dieses unfertig-unausgegorene, in jedem Fall unerklärliche, dem 89-jährigen Günter Jena gewidmete Dauergetanze ohne viel Sinn „Choreografische Episode, inspiriert von…“ untertitelt.

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Frieden gefunden haben wir, wenn es vorbei ist. Und dass da ausgerechnet jetzt – Titel und Figuren standen sicher schon länger fest – so viel von Frieden die Rede ist und Soldaten zu sehen sind, macht es nicht wirklich aktueller. Eher abgehobener, wegverschwurbelt im Kunstelfenbeinturm.

Neumeiers Bedeutung mindert dieser süßliche Flop in keinem Moment. Aber es wäre doch schön, noch auf ein allerletztes Stück zu warten. Etwas Kleines vielleicht, zart Reflektierendes, für jeden Solisten, für die feine Gruppe. Eine Collage, das er kann er gut, für dieses grandiose Werkzeug – Hamburg Ballett.

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