Das Ukrainische Tagebuch (LIV):Kooperieren oder bekämpfen?

Das Ukrainische Tagebuch (LIV): Oxana Matiychuk ist Germanistin und arbeitet am Lehrstuhl für ausländische Literaturgeschichte, Literaturtheorie und slawische Philologie an der Universität Czernowitz im Westen der Ukraine.

Oxana Matiychuk ist Germanistin und arbeitet am Lehrstuhl für ausländische Literaturgeschichte, Literaturtheorie und slawische Philologie an der Universität Czernowitz im Westen der Ukraine.

(Foto: Universität Augsburg/Imago/Bearbeitung:SZ)

Manche Eltern arrangieren sich mit der "russischen Welt", die Kinder gehen weg und engagieren sich für ihr Heimatland.

Gastbeitrag von Oxana Matiychuk

Weil am Dienstag, den 18.10, um 8.03 Uhr wieder Luftalarm beginnt, muss ich meine Vormittagspläne erst einmal verschieben und die Zeit zum Schreiben nutzen. Vor exakt drei Jahren feierten wir zehn Jahre "Zentrum Gedankendach", mit vielen internationalen und einheimischen Gästen, fällt mir ein, während ich mich fertig mache. Es war ein warmer sonniger Oktobertag, unser Programm lief gut, wir freuten uns über viele Gäste und ein gelungenes Kulturprogramm. Wir schmiedeten Pläne, in denen der Krieg nicht vorkam. Sich in solche Erinnerungen zu vertiefen, ist unerträglich.

Ich beschließe, zu Fuß in die Universität zu gehen, den Kopf lüften. Fünfzig Minuten, keine fußfreundlichen Straßen, bergab und steil bergauf, dafür wunderschöne Landschaften und leuchtende Farben in den Gärten, mein Weg führt über den Stadtteil Rosch und an Einfamilienhäusern vorbei. Die Strecke kenne ich, neu sind nur ein paar Autos in den Einfahrten mit den Kennzeichen aus anderen Regionen. Es gibt Menschen, die sich Häuser im sicheren Hinterland leisten können. Einige werden hier wohl für länger bleiben (müssen).

Als vom Elfjährigen anerkannte Fee habe ich ein neues Lego-Set besorgt

Eigentlich erwarten wir heute eine große Hilfslieferung aus Cluj-Napoka, sie kommt vom Peace Actions, Training and Research Institute of Romania, ein Laster mit achtzehn Paletten, unsere Kollegen und freiwilligen Helfer werden gut zu tun haben, bis sie alles abgeladen haben. Noch ist unklar, wann genau der Laster in der Stadt ankommt. Wir haben einen Helfer mehr, den M. aus Saporischschja. Seine kleine Familie richtete sich in der Wohnung unserer Kollegin ein und fühlt sich sehr wohl darin. Gestern wurde der elfte Geburtstag seines Sohns R. gefeiert. Als die von ihm anerkannte Fee musste ich meiner Pflicht, Freude zu zaubern, nachkommen.

Ein neues Lego-Set hatte ich längst besorgt und stellte mir vor, dass ich es nach Saporischschja schicke, doch nun kommt es anders. In meiner Mittagspause sitzen wir zu viert am Tisch in der kleinen Küche, R. strahlt, der Tisch ist gedeckt, Papa M. machte Steaks mit Salat, dazu gibt es die Hallimasch-Pilze, die die Familie bei einem Ausflug am Samstag am Straßenrand kaufte. Es gibt Schokoladentorte mit Geburtstagskerze. R. freut sich über sein Lego aus der Ninjago-Serie und Süßigkeiten, die Eltern und ich nutzen die Gelegenheit, uns endlich in Ruhe und nicht auf die Schnelle oder im Chat zu unterhalten. Doch es ist alles andere als ein feierliches Gespräch.

O. und M. reden über ihr Nomadenleben seit dem Kriegsbeginn, das hier ist ihre siebte Unterkunft, doch sie klagen nicht, sie sind froh, dass sie alle beisammen sind und unversehrt. O. hat in Czernowitz auch schon konkrete Pläne: Sie will ihren Friseurkurs fortsetzen und nun auch Haarschnitte für Damen lernen. Der Papa wird sich um den Sohn kümmern. Ich frage direkt, ob wir sie eventuell auch für Hilfe bei unseren Aktivitäten einsetzen dürfen, vor allem im Hinblick darauf, dass sie ein Auto besitzen und wir immer wieder Chauffeurdienste brauchen. Die beiden versichern, dass sie jederzeit dazu bereit sind und glücklich wären, sich einzubringen. Dann zeigt O. ein Video aus ihrem Heimatort Wassyliwka.

Ein Riss geht mitten durch die Familie

Zu sehen ist, wie zwei Männer, ein älterer und ein ganz junger, russische Pässe erhalten. Sie lesen aus dem DIN-A4-Blatt einen Eid auf den russischen Staat vor. Übergeben werden die Pässe durch O.s Nachbarn, den, dem sie ihre Katzen anvertraut haben. "Ich weiß nicht, was die Menschen im Kopf haben", sagt O. "Ich bin - was ihn selbst anbetrifft - aber auch nicht besonders verwundert, das ist einer, der schon immer schmierig war. Seine Frau ist eine ganz liebe, Kindererzieherin von Beruf. Zwei ihrer Söhne sind Fußballer, sie wohnen jetzt in Saporischschja, und die Tochter ging nach Polen, wo sie Spenden für die ukrainischen Streitkräfte sammelt und sich für die Geflüchteten engagiert." Wieder einmal stellen wir gemeinsam fest, dass die Beweggründe und Motive für menschliches Handeln manchmal unergründlich sind.

Die inneren Einstellungen zum aktuellen Geschehen sind innerhalb einer Familie so, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Die Eltern arrangieren sich mit der "russischen Welt" und "kooperieren" mit den "Befreiern", die Kinder gehen weg und engagieren sich für ihr Heimatland. Der Riss geht mitten durch die Familie. Sie ist längst nicht die einzige, das ist spätestens seit 2014 in aller Deutlichkeit klar. Die einen sind höchst anfällig für die toxische russische Propaganda, die anderen verspüren Brechreiz, wenn sie sich auch nur wenige Minuten die offiziellen russischen Nachrichten oder Talk-Shows mit den Hochleistungspropagandisten Skabejewa, Solowjow, Kiseljow und anderen mehr anschauen. "Ich bin davon genug traumatisiert", sagt O., "jetzt versuche ich mit allen Kräften, wenigstens mein Kind davor zu schützen."

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