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Meinung Preisverleihung

Das war der Rainald-Goetz-Moment der aktivistischen Literatur

Literarischer Korrespondent
Kim de l‘Horizon vor der Verleihung im Römer Kim de l‘Horizon vor der Verleihung im Römer
Kim de l'Horizon vor der Verleihung im Römer
Quelle: Arne Dedert/dpa
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Die Verleihung des Deutschen Buchpreises wurde von Kim de l‘Horizon zu einer doppelten Performance genutzt – einem emotionalen, privaten Moment und einer politischen Solidaritätsgeste. Das war das Beste, was dem Ritual im Römer passieren konnte.

Kim de l‘Horizon hatte keine Rede vorbereitet. Die sich als nonbinär definierende Autorin (in diesem Text wird im Folgenden die weibliche Form verwendet) stand auf der Bühne in all ihrer queer schillernden, farbenfrohen Pracht, nachdem sie kurz zuvor ausgelassen durch den Kaisersaal gelaufen, beinahe getanzt war, Freunde und Helfer geherzt hatte. Karin Schmidt-Friderichs, die Vorsteherin des Börsenvereins, schien beinahe mütterlich besorgt um die Preisträgerin und hatte sie gebeten, doch erst einmal Atem zu holen, während sie die in typischer Jurorenlyrik verfasste Begründung für die Preisentscheidung verlas: „Kim de l’Horizon erhält den Deutschen Buchpreis 2022 für ‚Blutbuch‘ ... Mit einer enormen kreativen Energie sucht die non-binäre Erzählfigur in Kim de l’Horizons Roman ‚Blutbuch‘ nach einer eigenen Sprache. Welche Narrative gibt es für einen Körper, der sich den herkömmlichen Vorstellungen von Geschlecht entzieht?“

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So weit war alles noch im Rahmen von Preisverleihungsritualen und -abläufen. Ausgelassen gefreut und Lebensgefährten oder Agenten um den Hals gefallen, das waren auch früher schon mal Buchpreisträger und Buchpreisträgerinnen, das gehört zum Spiel. Doch Kim de l‘Horizon will weder Preisträger noch Preisträgerin sein, sondern etwas Drittes, noch nie da Gewesenes, was sie sowohl in ihrer ganzen umwerfenden Erscheinung als auch in ihrem bewusst irritierenden Schreiben demonstriert. Das Erbe der klassischen Avantgarden – Rimbauds „Il faut être absolument moderne“ – wird heute unter anderem von denjenigen angetreten, die wie Kim Sprache und Erzählformen jenseits der binären Geschlechterdifferenz suchen. Und wie alle Avantgarden ist die Aufhebung der Trennung von Kunst und Leben Teil des Projekts.

Als die Autorin also da steht, sagt sie erst mal „Wow“, zieht unter charmanter Entschuldigung für den ästhetischen Stilbruch ihre Brille auf. Dann aber dankt sie ihre Mutter, mit brechender, tränenerstickter Stimme auf Schwyzerdütsch, und das ist so ein großartiger, rührender, intensiver Moment, der ganz ohne Pathos auskommt und schlagartig eine ganze Biografie mit all ihren Traumata und Verletzungen aufblitzen lässt. Auch wer „Blutbuch“ nicht gelesen hat, begreift intuitiv, dass es ums Ganze geht, dass da jemand um ihr Leben geschrieben hat.

Dann singt Kim de l‘Horizon plötzlich, mit professioneller Stimme, a-cappella – „I‘m giving you a night call to tell you how I feel/ I want to drive you through the night, down the hills/ I‘m gonna tell you something you don‘t want to hear/ I‘m gonna show you where it‘s dark, but have no fear“ – und verwandelt den Kaisersaal mit seinem zwar fröhlich-festlichen, aber doch auch irgendwie spießig-unglamourösen Literaturritual in ein Varieté, einen wahren Literaturfestsaal, eine sexy, ein bisschen verruchte Transperformance. Der Song „Nightcall“ stammt aus dem Soundtrack zu „Drive“ mit Ryan Gosling. Der Beifall wird endgültig zum Jubelsturm.

Doch die nicht vorbereitete Dankrede, der auch noch Erwähnungen von Lektorin, Agentin, Gefährtinnen enthält, hat noch einen zweiten politischen Teil, in dem Kim de l‘Horizon ihren Erfolg in einen überindividuellen, politischen Zusammenhang stellt. Nach der Aussage „Dieser Preis ist nicht nur für mich“ holt sie einen Rasierapparat heraus und schneidet sich die Haare ab. Der Preis sei „Zeichen gegen den Hass, für die Liebe“ und der Solidarität die Frauen in Iran, was die Veranstaltung endgültig zu einer politischen Demonstration macht. Sie erwähnt noch den Irrtum, dass wir alle gedacht hätten, „Weiblichkeit sei nur im Westen emanzipiert“. Das war so etwas wie der Rainald-Goetz-Moment der neuen engagierten (manche sagen „aktivistischen“) Literatur. Statt Blutstropfen fielen nun die Haare, doch wie damals bei jenem legendären Moment 1983 in Klagenfurt beglaubigte auch heute der Körper den Text – wenn auch als Zitat einer politischen Geste unserer Tage.

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Der deutsche Buchpreis erlebte so gleich einen doppelten Bruch mit seinen Formen, nach dem persönlichen Lied über seelische Krise und den Trost – der fast wie ein Pfeifen im dunklen Wald wirkte –, kam die große Geste einer globalen Solidarisierung. Das hatte natürlich auch etwas von emotionaler Erpressung.

Doch zugleich brach die Literatur aus aus ihren Ritualen der Selbstbespiegelung und Selbstfeier nach dem Motto: „Wie schön, dass wir uns endlich alle nach der Pandemie mal wieder sehen“. Die Welt ist gar nicht schön, und dass der Buchpreis so begann, erhebend, megapathetisch, emotional, wild, empört und auch ein bisschen peinlich, das war das Beste, was der Literatur zum Auftakt dieser Buchmesse passieren konnte. Von Null auf Hundert ist die Literatur mitten in dieser Welt.

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