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Pop Jarvis Cocker und Pulp

Memoiren gegen die Müllabfuhr

Freier Mitarbeiter im Feuilleton
Popstar und Sammler: Jarvis Cocker von Pulp Popstar und Sammler: Jarvis Cocker von Pulp
Popstar und zwanghafter Sammler: Jarvis Cocker
Quelle: Samir Hussein/WireImage/Getty Images
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„Common People“ von der Band Pulp war die Hymne der Neunzigerjahre. Ihr Sänger Jarvis Cocker wollte schon immer Popgeschichte schreiben. Um zu sich zu erinnern, wie das gelang, hat er jetzt seinen Dachboden entrümpelt.

Wir alle haben so einen Dachboden (es kann auch ein Kellerverschlag sein, der Gartenschuppen oder nur diese verstaubte Umzugskiste dahinten in der Ecke unter dem Schreibtisch), den wir dringend ausmisten müssten. Man traut sich nicht ran an den Kram, den man darin vergessen hat, vergessen wollte, der mit Erinnerungen verknüpft ist, schönen, traurigen, peinlichen, und nimmt sich doch fest vor, es endlich zu tun, seit vielen Jahren, am Wochenende, ganz bestimmt.

Jarvis Cocker hat den inneren Schweinehund überwunden und die „riesige Toblerone­-Packung“ im obersten Stock­werk seines Wohnhauses endlich aufge­räumt. Und mitunter scheint es so, als hätte der Sänger der Band Pulp all das Gerümpel dort nur deshalb angesammelt, um darüber zu schreiben.

Die Entrümpe­lung als Memoir: Auf ein Buch wie „Good Pop, Bad Pop“ haben viele gewartet, die in den 90er­-Jahren jung waren, britische Gitarrenmusik gehört haben und für die der Schlaks mit dem Schlips ein Idol war. 1995 wurde Jarvis Cocker zu dem Star, der er immer sein wollte. Wie ihm das gelang, hat auch mit den Dingen zu tun, die auf dem Speicher zum Vorschein kamen.

Eingang zu Jarvis Cockers Erinnerungsspeicher
Eingang zu Jarvis Cockers Erinnerungsspeicher
Quelle: © Jarvis Cocker

Da findet sich zum Beispiel dieses bedruckte gelbe Polyesterhemd, dass er Ende der 70er (Cocker ist Jahrgang 1963) für zehn oder zwanzig Pence aus der Klamottenkiste eines Wohltätigkeitsbasars in Sheffield gezogen hatte. In der Stadt des rostfreien Stahls aber auch des wichtigen Electro-Labels Warp Records ist Cocker aufgewachsen, hauptsächlich unter Frauen, wie er gern betont, nachdem sein Vater das Weite (in Australien) gesucht hatte.

Secondhandkleidung war nicht nur erschwinglich für den stilbewussten Teenager, sondern geradezu identitätsstiftend. Er habe etwas über die Welt gelernt, indem er sich aneignete, was sie für „wertlos“ hielt, schreibt Cocker, „der wahre Anfang der Pulp-Ästhetik.“

Pulp hieß seine Band seit ihrer Grün­dung in einem Jugendzimmer 1978. Die Tensai Rhythm Machine, mit der ihr erstes Geschrammel aufgenommen wurde, fand sich auf dem Speicher ebenso ein, wie die erste halbakustische E-Gitarre auf der Cocker sich das Akkorde-Greifen beibrachte. Und „Pulp“ (mit „Schund“ nur unterkomplex zu übersetzen) ist der Kosmos, als dessen Fixstern Cocker sich bereits als Junge sah, wenn er den dafür passenden Dresscode in ein Schulheft zeichnete.

Es hat etwas gedauert, bis sich nach einigen eher erfolglosen Platten Nerdtum und Größenwahn, sein tief emp­fundenes Klassenbewusstsein und glücklicher Zufall in einem Song fügten, der die Hymne der Neunzigerjahre wurde: „Common People“ von Pulp.

Jarvis Cocker beim Tomavistas Festival in Madrid, 2021
Jarvis Cocker beim Tomavistas Festival in Madrid, 2021
Quelle: Mariano Regidor/Redferns/Getty Images

Den Weg dahin er­ zählt Cocker als Coming­-of­-Age­-Sam­melsurium von einem, der seine Kreati­vität spürte, aber noch lang nicht wuss­te, wie man sie in ruhmreiche Bahnen lenken könnte. Und wenn man dem Inventar seines Dachbodens glauben mag, brauchte Cocker dafür allerlei seltsame Katalysatoren.

Kreativ zu sein, bedeutet aus sich selbst und seiner Zeit zu schöpfen, aber Veränderungen zuzulassen, lernen wir mit Cocker – und dem „Etikett eines Seifenstücks der Marke Cussons Imperial Leather, an dem noch eine sehr kleine Menge der Seife selbst klebt“. Er hat es all die Jahre auf dem Dachboden verwahrt, weil es ihn einst empörte, dass die Firma das Design der Verpackung änderte, weshalb sich dort auch ein altes Gläschen Marmite findet, aus der Hefeextrakt-Ära als es noch einen Metalldeckel hatte.

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Solche Fundstücke sollen Anstoß gewesen sein für die Ausstellung seines Dachbodengerümpels, die Cocker vor einiger Zeit in London organisierte. Im außergewöhnlich schön gestalteten Buch sind die Fundstücke verewigt, neben all den anderen Dingen, von denen sich Cocker dann doch nicht trennen will: den zerbrochenen Kassenbrillen, den aus dem Radio aufgenommenen John-Peel-Sessions, dem „Fantastic Dirty Joke Book“ (mit dem er seinen Sohn aufzuklären versuchte) und dem 1982er-Yamaha-Keyboard mit dem Disco-Knopf (der Cocker das Tanzen beibrachte und ohne das der andere unsterbliche Pulp-Song „Disco 2000“ wohl auch nicht entstanden wäre).

Quelle: Kiepenheuer + Witsch

Und soll man das Buch auch lesen, wenn man Jarvis Cocker schon immer für einen aufgeblasenen Fratz gehalten hat, Nineties-­Pop für Kitsch und Entrümpelungen für Sache der Müllabfuhr? Unbedingt! Cockers Erinnerungen sind ein kulturarchäologischer Trip in die Musikgeschichte. Sie erklären nicht nur den Mann, der Pulp war – und ist (für 2023 ist eine Reunion­-Tour ge­plant) –, sondern auch, wie es zum Phä­nomen Britpop kam, ohne dass man da­ für auch nur einen einzigen seiner Songs hören müsste. Was aber keines­falls schadet!

Jarvis Cocker: „Good Pop, Bad Pop. Die Dinge meines Lebens“, aus dem Englischen von Harriet Fricke und Ingo Herzke. Kiepenheuer & Witsch Verlag, 400 Seiten, 38 Euro

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