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Literatur Extreme Landflucht in Spanien

Im Land der leeren Provinzen

Windmühlen in Spanien Windmühlen in Spanien
Dann spuken die Windmühlen
Quelle: Getty Images
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In kaum einem Land Europas lebt die Bevölkerung so ungleich verteilt: 80 Prozent der 48 Millionen Spanier sind in Madrid oder an der Küste zu Hause. Dazwischen entvölkert sich das Land. Was ein aktueller Bestseller über den Exodus erzählt – nicht nur in Spanien.

Wenn sich die Trefflichkeit einer Analyse in ihrer Wirkungsmacht erweist – dann ist Sergio del Molino ein Meisterwerk gelungen. 2016 veröffentlichte er ein Buch, dessen Titel zum stehenden Begriff wurde. „España vacía“ (leeres Spanien) wurde nicht nur ein Bestseller, ihm gelang das Äußerste: Dieses Buch veränderte das Denken – oder zumindest die politische Landschaft. Das Thema Landflucht lässt sich mittlerweile keine spanische Partei mehr entgehen, die drohende Entvölkerung ganzer Regionen zählt heute zu den bedeutenden Herausforderungen der Regierung.

Nun ist „Leeres Spanien“ auf Deutsch erschienen, und wer sich mit del Molino auf „die Reise in ein Land, das es nie gab“ begibt, erlebt einige Überraschungen. Man staunt über die Schärfe der Diskrepanz zwischen dem urbanen und dem ländlichen Spanien. Und darüber, was der Autor aus diesem vermeintlich leicht zu verstehenden Gegensatz herausholt. Dazu greift er mal weit zurück in die Geschichte, mal schildert er eigene Erlebnisse, er zitiert Filme, Rockkonzerte, Reiseschilderungen.

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Was oft anekdotisch beginnt, nimmt einen hohen Bogen durch die spanische, auch europäische Kulturgeschichte, es braucht durchaus Gelassenheit, um den mäandernden Wegen zu folgen. Doch so weit del Molino auch ausholt, nie verliert er sein ebenfalls staunenswertes Vermögen, die Kurve zu kriegen, alles Erzählte mündet zuverlässig in eine neue Perspektive auf die Beziehung zwischen Stadt und Land. Man lernt und begreift viel auf dieser „Reise“, nicht nur über Spanien.

Tatsächlich ist Spanien ein Sonderfall, in kaum einem Land Europas ist die Bevölkerung so ungleich verteilt: 80 Prozent der 48 Millionen Spanier leben in Städten, die meisten an der Küste. Bis weit ins 20. Jahrhundert war Spanien ein Agrarland, doch zwischen 1950 und 1970, im Zuge von Industrialisierung und wachsendem Tourismus, beschleunigte sich der Exodus aus der Provinz, auf dem Land entstanden Geisterdörfer, während sich die Einwohnerzahl mancher Städte verdreifachte. Das „leere Spanien“ umfasst ein riesiges Gebiet, das von der Extremadura bis Aragón reicht, auf diesen 53 Prozent spanischen Territoriums leben nur 16 Prozent der Gesamtbevölkerung. Manche sprechen von „spanisch Sibirien“.

Stadt versus Land

Spannungen zwischen Stadt und Land sind normal, aber in Spanien, so del Molino, hätten sie sich wegen der extremen Landflucht zu einem Trauma entwickelt, das „in einer sonderbaren, ja bizarren Form der Dramatik“ durchlitten werde. Und natürlich den Schriftstellern des Landes viel Stoff bot. Das Defilée der Dichter und Denker, mit denen del Molino durch die Wüsteneien des Hinterlands wandert, ist beachtlich, darunter nicht nur Größen wie Unamuno, Machado, Lorca oder Filmregisseur Buñuel, sondern auch dem deutschen Leser wohl wenig vertraute Autoren wie der Romantiker Gustavo Adolfo Bécquer, Benito Peréz Galdós, Spaniens Balzac, oder der Nachkriegsautor Camilo José Cela, immerhin ein Nobelpreisträger.

„Kastilien, deine Städte, die verfallen“, beklagt Antonio Machado den Niedergang des ihn so faszinierenden „kargen, harten Lands“. Andere erhoben die beunruhigend menschenleeren Ebenen zur mythologischen Landschaft oder entdeckten in ihnen die Essenz des Iberischen oder gar eine Verheißung auf nationale Erlösung. Doch die häufigste Haltung, in der Schriftsteller, Politiker, Historiker, Geldgeber, kurz Städter, der Provinz begegneten, ist ganz umstandslos: offene Verachtung. Schon der „Don Quijote“ setzt da Maßstäbe. Allein, dass Cervantes dem Ritter der traurigen Gestalt den Beinamen „de la Mancha“ gibt, ist ein böser Witz.

Einsam: Auf der Hochebene von Kastillien
Einsam: Auf der Hochebene von Kastillien
Quelle: picture alliance/blickwinkel/M. Vahlsing

Die schattenlose, staubige Mancha, schreibt del Molino, verheißt nicht nur niedersten Adel, „sie steht auch für eine der ödesten Gegenden des Landes. Auf deren gefährlichen Wegen begegnen Don Quijote und Sancho lauter unguten Gestalten – schmutzigen und betrügerischen Gastwirten, Prostituierten, Banditen, Galeerensträflichen, Ziegenhirten, die sie mit ihren Knüppeln halb tot schlagen, Grobiane, die Kinder misshandeln … Hier in der Mancha, sozusagen am Ende der Welt, können ausschließlich schreckliche oder lächerliche Dinge geschehen.“

Es gab zwar immer mal wieder halbherzige Programme, die Provinz aufzuwerten und die Abwanderung zu stoppen. Doch geholfen hat nichts, und schon gar nicht unter Franco. Kein Diktator, so del Molino, habe das ländliche Spanien so schlecht behandelt wie der Caudillo, dessen hemmungslose Industrialisierungsversuche den Exodus begünstigten.

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Auch wenn das urbane und das leere Spanien bis heute wie zwei fremde Länder wirken, lässt sich das eine ohne das andere nicht verstehen. „Die Geister des Letzteren leben auch in den Häusern der Ersteren“, schreibt der Autor. Ein großer Teil der Bewohner der urbanen Zentren blickt auf eine Einwanderungsgeschichte zurück. Das Dorf, das sie, ihre Eltern, ihre Großeltern verlassen haben, ist immer noch präsent. Als imaginäre Heimat, die aus einem „vielsagenden Schweigen, Räuspern und Bildern aus Familienalben“ bestehen kann. Mehr als ein Vaterland sei diese Heimat „eine Schwingung, etwas, das in der Luft liegt, mitschwingt“, schreibt del Molino, und damit komme sie einem „vernünftigen Patriotismus näher als alles, was Spanien bislang gekannt hat“.

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Wegen solcher Sätze wurde del Molinos Buch, das zum Bestseller wurde, auch von Nationalpopulisten gefeiert. Eine Vereinnahmung, gegen die sich der Autor wehrt. Im letzten Jahr hat er zur Präzisierung seiner Thesen eine Fortsetzung vorgelegt.

Sergio del Molino: Leeres Spanien. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Wagenbach, 304 Seiten, 30 Euro

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