"Schauergeschichten": Péter Nádas wird 80:Das Fluchen macht die Musik

"Schauergeschichten": Péter Nádas wird 80: Péter Nádas, am 14. Oktober 1942 in Budapest geboren, weltbekannter Erzähler in ungarischer Sprache.

Péter Nádas, am 14. Oktober 1942 in Budapest geboren, weltbekannter Erzähler in ungarischer Sprache.

(Foto: Katrin Binner/laif)

Der große ungarische Kosmopolit Péter Nádas wird 80 Jahre alt. In seinem Roman "Schauergeschichten" dringt er ins kollektive Unbewusste eines Dorfes im realen Sozialismus vor.

Von Lothar Müller

Als er auf die sechzig zuging, hat der ungarische Schriftsteller und Fotograf Péter Nádas in dem Essay "Behutsame Ortsbestimmung", auf Deutsch 2006 erschienen, über einen großen Wildbirnenbaum geschrieben, mit dem Respekt eines nahen Nachbarn. Fast zwanzig Jahre lang lebte Nádas da schon in der kleinen Ortschaft Gombosszeg im Südwesten Ungarns. Einen Wohnsitz in der Hauptstadt behielt er bei. Ja, er gehört zu den großen Figuren des Kosmopolitismus in der europäischen Literatur, aber nur, wenn man aus dieser Figur das Dorf und den Wildbirnenbaum nicht ausschließt, die Hügel und Höhenzüge der Landschaft, die ihn umgibt.

In Budapest ist Nádas im Oktober 1942 geboren, mit einem falschen Nachnamen in der Geburtsurkunde, da seine Eltern als Kommunisten in der Illegalität lebten. Als er im Herbst 1956 das Scheitern der ungarischen Revolution erlebte, war er alt genug, um für immer in Distanz zu den Siegern zu treten. Drei Jahre zuvor war seine Mutter ihrem Krebsleiden erlegen. Den Selbstmord seines Vaters im Revolutionsjahr hat er in "Aufleuchtende Details. Memoiren eines Erzählers" (2018) in eine biografische Skizze eingefügt. Die aus der Familienüberlieferung und Recherchen genährte Erzählung über den Tag seiner eigenen Geburt im bombardierten Budapest ist in einer großen Parallelmontage unauflöslich mit dem Blick auf die Liquidierung des jüdischen Ghettos in Misotsch in der heutigen Westukraine durch ein deutsches Einsatzkommando zusammengeschweißt.

Immer wieder schließt das erzählerische und essayistische Werk von Nádas Rückblicke auf das Europa seiner Herkunft, auf Krieg und Vernichtung ein. Nicht minder hartnäckig und zumal für sein westeuropäisches Publikum hat Nádas die osteuropäische Erfahrung der Diktatur nach dem Zweiten Weltkrieg vor Augen geführt. Kurz nachdem in Prag 1968 die Panzer einrollten, gab er seine Tätigkeit als Journalist auf und ging aufs Land, nach Kisoroszi auf der von zwei Flussarmen umfassten Donauinsel Szentendre, und schrieb dort das "Ende eines Familienromans" (1977), dessen Publikation durch zermürbende Manöver jahrelang verhindert wurde. Die Dämonen des Stalinismus wurden in diesem Roman lebendig, und wie sein Autor entstammte der heranwachsende Ich-Erzähler einer jüdischen Familie.

Die Erzählerstimme entstammt dem Dorf, sie agiert wie ein Chor

Auch wenn der Ortsname Kisoroszi im neuen Roman "Schauergeschichten" nicht fällt, weisen die Donauinsel mit ihren Fähren und Schiffern, die Kleinstädte Vác und Visegrád, in denen manche Szenen spielen, auf diese Landschaft hin. Im Blick auf den Wildbirnenbaum von Gombosszeg hat Nádas angemerkt, "dass die Einheimischen, wenn sie ,Dorf' sagen, nicht einfach diesen Ort mit seinem geographischen Namen meinen. Sie gebrauchen das Wort im Sinne von Welt, so wie die Franzosen, wenn sie tout le monde sagen. Das Dorf ist gleichbedeutend mit jedem und allen, wer jedoch außerhalb dieses Umfelds lebt, gehört natürlich nicht zu 'allen'".

Dieser Dorfroman wird zum Schauerroman, indem er das Dorf als Welt für sich, als sprachlichen Kosmos eigener Ordnung entwirft, in dem der Schrecken und die Gewalt schon vibrieren, ehe am Ende auch in der Handlung der Horror zu seinem Recht kommt. Zwei Frauen arbeiten auf der ersten Seite in einem Weinberg. Sie wechseln kaum ein Wort miteinander, "wenn doch, war es mehr ein Nörgeln und Jammern, ein grimmiges Gebrabbel". Schon hier zeigt der Übersetzer Heinrich Eisterer, dass er diesem Roman gewachsen ist. Wo "grimmiges Gebrabbel" herrscht, ist mit behutsamer Ortsbeschreibung wenig auszurichten: "Soll sie reden, was sie will, scheiß drauf." Der Sprachfluss führt zahllose Flüche, Zoten, Beschimpfungen, Ausgrenzungen - etwa der Juden und der "Zigeuner" - mit. Wer die ersten zweihundert Seiten bewältigt hat, ist dem Scheißen, Vögeln und Ficken, dem Pinkeln und den Fürzen, den Schwänzen und Mösen in Hochfrequenz begegnet . Wer die derben Sprüchen und rohen sexuellen Anzüglichkeiten zum realistischen Nennwert nimmt, mag genervt aufstöhnen. Die Idee dahinter ist aber nicht soziologisch, sondern musikalisch. Die Erzählerstimme entstammt dem Dorf, sie agiert wie ein Chor. Kein Mikrofon hat diesen Sprachkosmos eingefangen. Sein polyphones Register ist vor allem zu Beginn dem vierten Stand des Wörterbuchs entnommen. Wie in manchen Musikstücken verfremdet die Wiederholung die Phrasen.

"Schauergeschichten": Péter Nádas wird 80: Péter Nádas: Schauergeschichten. Roman. Aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer. Rowohlt, Hamburg 2022. 576 Seiten, 28 Euro.

Péter Nádas: Schauergeschichten. Roman. Aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer. Rowohlt, Hamburg 2022. 576 Seiten, 28 Euro.

(Foto: rowohlt/sz)

Teres Várnagy, einer alten Schifferfamilie entstammend, die noch über einen Weinberg verfügt und im Sommer Gäste aus Budapest einquartiert, mag für ihr loses Mundwerk berüchtigt sein. Es ist aber nur eine markant verdichtete Oberstimme in diesem Chor. Irgendwann im realen Sozialismus der späten 1960er-Jahre dürfte die Handlung spielen, die Erinnerungen an den Krieg und die Nachkriegszeit sind noch frisch, aber vor allem verlangt die Gegenwart ihr Recht. Der calvinistische Pfarrer und der franziskanische Pater, die von der Epilepsie geschlagene, geistig behinderte Rosa, die Kleinwüchsige mit dem hochgewachsenen schönen Sohn, über dessen Zeugung sich das Dorf das Maul zerreißt, sie alle könnten Wiedergänger aus Dorfromanen des 19. Jahrhunderts sein. Doch wie im europäisch-kosmopolitischen Autor Péter Nádas der Dorfbewohner und Nachbar des Wildbirnenbaums steckt, so verfügt die anonyme Erzählerstimme dieses Dorfromans über das in den Metropolen zirkulierende Wissen. Sie identifiziert im Sprachprofil der Figuren das versunkene römisches Erbe, erkennt in der Logik des grimmigen Gebrabbels "das kollektive Unbewusste", in drei alten Schiffsleuten die Vorboten des Unglücks.

"Schauergeschichten": Péter Nádas wird 80: Péter Nádas: Schreiben als Beruf. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Rowohlt, Hamburg 2022. 96 Seiten, 18 Euro.

Péter Nádas: Schreiben als Beruf. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Rowohlt, Hamburg 2022. 96 Seiten, 18 Euro.

(Foto: rowohlt/sz)

Alles hat hier eine zweite, schwer zu verstehende Seite, auch der fortschreitende Muskelschwund des jungen Mischike in seinem Rollstuhl. Er ist der Sohn einer jener Sommerfrischlerinnen, die das Dorf mit dem Leben in Budapest verbinden. Piroschka, Studentin der Heilpädagogik, steht im Zentrum der furiosen Engführung des Romans, flankiert vom schönen Sohn der Kleinwüchsigen und vom hinfälligen Mischike. Im Schauerroman ist die Aufklärung gegen die Dämonen und Obsessionen machtlos, so auch hier. Ein kleiner Hund wird maßlos gequält. Retten lässt sich der Hund, nicht der Quäler. In Schnitt und Gegenschnitt arbeiten die moderne Seelenkunde einschließlich der Psychoanalyse und die überlieferten Rituale der Teufelsaustreibung vergeblich an der Bändigung des Bösen, das die Figuren in seinen Bann schlägt. Pater Jónás, der das Ritual praktiziert, trägt einen wenig hoffnungsfrohen Namen, ist aber keine Karikatur. Mit dem Teufel rechnet auch die Erzählerstimme. Am Ende steigt das Wasser, eine durchaus unbiblische Hornissenplage entfaltet biblische Kraft, und der Tod erhält die ihm zustehenden Opfer. Dass sie zu Herzen gehen, entspringt der Auffächerung der Prosa weit über den obszönen mehrstimmigen Chor hinaus. Und dem Umstand, dass die mythischen Elemente dieses Dorfromans nicht Dekoration sind, sondern Falltüren, die zu den elementaren Schichten der Wünsche, Begierden, der Liebe und des Hasses führen.

In dem schmalen Essayband, der gleichzeitig mit dem Roman erschienen ist, schreibt Nádas unter anderem über die Bedeutung von Absätzen in Prosatexten. Absätze gibt es in den "Schauergeschichten" reichlich, schon wegen der vielen Dialoge. Aber keine Kapitel. Das stärkt den Eindruck eines sich an die Donaulandschaft anschmiegenden "roman fleuve". "Haydn im Plattenbau" heißt der Essay über die Sprachmusik: "ich habe als junger Mann bei Meister Haydn Kontrapunkt studiert". Das ist aber nur der Auftakt. Im Zentrum steht ein Rückblick auf den 2016 gestorbenen Freund, den Schriftsteller Péter Esterházy, zu dessen Vorfahren ein Arbeitgeber Haydns gehörte. Der zweite Essay "In den Farben der Dunkelheit" ist ein Abschied von der analogen Fotografie. Und "Schreiben als Beruf" eine erfreulich konkrete, auf den Satzbau und die Bedingungen der Möglichkeit des Schreibens konzentrierte Selbstreflexion.

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