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  4. Isaac Julien, der Kaiserring und die Documenta-Debatte: Wenn Politiker Künstler maßregeln

Kunst Documenta-Debatte

Wenn Politiker Künstler maßregeln

Freier Mitarbeiter im Feuilleton
Isaac Julien präsentiert den Kaiserring Isaac Julien präsentiert den Kaiserring
Wurde durch die Documenta 11 bekannt: Isaac Julien
Quelle: dpa/Swen Pförtner
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Isaac Julien bekam in Goslar den Kaiserring angesteckt. Bei der strengen Zeremonie ging es um den Wert von Traditionen, planetarischen Feminismus und die Ästhetik des Postkolonialismus. Doch dann rechnete Sigmar Gabriel noch mit der Documenta ab. Eine Rednerin wollte das so nicht stehen lassen.

In Goslar, der 50.000-Einwohner-Stadt im niedersächsischen Nordharz, ist man stolz auf uralte Traditionen. In diesem Jahr wird das 1100-jährige Jubiläum der Stadtgründung gefeiert. Die Altstadt mit ihren denkmalgeschützten Fachwerkhäusern, Kirchen und Profangebäuden ist Unesco-Weltkulturerbe. Über der Stadt wacht der Rammelsberg, an dessen Fuß sich die Salier-Kaiser im 11. Jahrhundert eine imposante Pfalz einrichteten. Mindestens seit dieser Zeit wurde in Goslars Hausberg auch Erz abgebaut, die Lagerstätte gilt erst seit den 1990er-Jahren als weitgehend ausgebeutet und ist heute ein Museum für die Bergwerkstradition und ebenfalls Welterbe. Der Goslarer Kaiserring, ein goldgefasster Aquamarin mit dem eingravierten Porträt Kaiser Heinrichs IV., hat dagegen erst eine Geschichte von knapp fünfzig Jahren und wird doch mit dem heiligen Ernst verliehen, als hätte ihn der Canossa-Gänger höchstpersönlich am Finger getragen.

Im Jahr 1974 hatte der Fensterfabrikant Peter Schenning die Idee, seine doch sehr der Vergangenheit verhaftete Stadt an die Moderne heranzuführen. Er gründete einen Verein zur Förderung moderner Kunst und stiftete einen Preis, der ganz ohne Preisgeld auskommen sollte. Der Goldschmied Hadfried Rinke entwarf einen Ring, und Henry Moore wurde 1975 als erster Künstler damit geehrt. Zu ihm gesellte sich eine illustre Reihe von Persönlichkeiten der internationalen zeitgenössischen Kunst. Max Ernst hat den Kaiserring bekommen, Joseph Beuys natürlich, Georg Baselitz sogar zwei Jahre vor Gerhard Richter. Rebecca Horn war die erste Frau, die das Schmuckstück tragen durfte, ihr folgten bald Cindy Sherman und Katharina Sieverding. Matthew Barney hat einen und Wolfgang Tillmans, ebenso Rosemarie Trockel und Isa Genzken. Und seit dem vergangenen Wochenende darf sich auch der britische Videokünstler Isaac Julien Kaiserringträger nennen.

Die Verleihung des Goslarer Kaiserrings folgt einem strengen Protokoll. Der Preisträger wird stets schon zu Jahresbeginn ernannt, muss dann aber noch bis zu einem Freitag im Oktober warten. Zunächst muss er sich der Presse, dann den Fragen der Schüler des bald 500 Jahre alten Ratsgymnasiums stellen. Darauf folgt das von drei Tischreden „Über den Umgang mit moderner Kunst“ unterbrochene, festliche Kaisermahl im Großen Heiligen Kreuz, einem ehemaligen Hospiz aus dem Jahr 1256. Rituell wird es mit dem gemeinsamen Singen des Steigerlieds zur Erinnerung an die Bergmannsarbeit beschlossen. Am Samstag hält dann der Vorsitzende der kunsthistorisch hochkarätig besetzten Jury die Laudatio auf den Preisträger und als gewissermaßen krönender Abschluss kommt endlich die feierliche Verleihung des Kaiserrings im Kaisersaal der Kaiserpfalz – durch die Goslarer Oberbürgermeisterin, die sich wenigstens unter der Last ihrer Ratskette angemessen beschwert fühlen darf.

Zum Ritter geschlagen

Zu Traditionen gehört, dass sie gebrochen werden. In den vergangenen Jahren zeigten sich etwa die Konzeptkünstlerinnen Barbara Kruger und Adrian Piper als sperrig-spröde Preisträgerinnen. Isaac Julien dagegen präsentierte beste britische Manieren. Er hat schließlich schon ganz andere Zeremonien über sich ergehen lassen: So wurde er von Prince Charles zum Commander des Empire und von der ehrwürdigen Londoner Kunstakademie zum „Royal Academician“ ernannt. Im vergangenen Sommer erhielt er den Ritterschlag durch Queen Elizabeth II. während deren Platin-Jubiläum. Sir Isaac Julien konnte sich also trauen, was beim Goslarer Kaisermahl noch kein Preisträger gewagt hatte: Er ergriff das Mikrofon.

Isaac Julien
Isaac Julien
Quelle: Thierry Bal

Und weil schon reichlich Worte verloren worden waren – Redner halten sich leider selten an die gebotene Kürze einer traditionellen Dinner Speech – richtete er sich sehr sympathisch ans Publikum, dankte für das Wohlwollen und reichte das Mikro sofort an den diesjährigen Kaiserring-Stipendiaten Christian Holze weiter. Isaac Julien hatte das Gespür, dass hier unter der Skulptur des Christus am Kreuz nun doch auch gefeiert werden sollte.

Denn nachdem Andreas Beitin, der Direktor des Kunstmuseums Wolfsburg, als erster Redner hauptsächlich Werbung für seine eigene Ausstellung „Empowerment“ gemacht hatte und sich das Publikum noch fragte, was er wohl mit „planetarischem Feminismus“ gemeint haben könnte und welche Rolle „non-humane Lebewesen“ darin spielen mögen, war als zweiter Tischredner ein gebürtiger Goslarer Platzhirsch aufgetreten: Sigmar Gabriel. Der ehemalige Bundesaußenminister lenkte die Perspektive auf das knapp 100 Kilometer südwestlich gelegene Kassel und seine anhaltende Empörung. Wenn man in diesem Jahr schon einen Politiker einlade, über den Umgang mit moderner Kunst zu sprechen, dann käme der „nicht an einer kritischen Betrachtung der Documenta 15 vorbei“.

Etwas Unerhörtes tun

Was folgte, war eine deutliche Abrechnung mit den vielen Verantwortlichen des Kasseler Antisemitismus-Skandals, der die Öffentlichkeit erschüttert hatte: „Weder der Oberbürgermeister der Stadt Kassel Christian Geselle als Aufsichtsratsvorsitzender der Documenta, noch die Findungskommission, die das indonesische Künstlerkollektiv ‚Ruangrupa‘ als künstlerische Leitung vorgeschlagen hat, oder ‚Ruangrupa‘ selbst“, so Gabriel, „fanden den Mut, das zu tun, was angemessen gewesen wäre: sich gemeinsam der Verantwortung für die massive Beschädigung einer der weltweit bedeutendsten Ausstellungen für zeitgenössische Kunst zu stellen.“ Dass Gabriel daraufhin das Grundgesetz erklärte und wie die Kunstfreiheit des Artikels 5 mit der Unantastbarkeit der Menschenwürde des Artikels 1 konkurriert, wurde vom Publikum – vor allem den zahlreich versammelten Kunsthistorikern, Kuratoren und Museumsleuten – noch bis in den späten Abend sehr kontrovers diskutiert. Denn Gabriels Ansicht nach hätte es „durchaus vertretbare Gründe gegeben, etwas Unerhörtes zu tun: nämlich Zensur auszuüben.“

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Isaac Julien überging diesen vielfach als Affront aufgefassten Anspruch der Politik, die Kunst einzuhegen, mit aller Höflichkeit. Den Preisträger hatte Gabriel schließlich für seine eindrucksvolle Auseinandersetzung mit Themen wie „Immigration, Konfrontation mit neuen Kulturen, die Aufnahme von fremden Kulturen und die Auseinandersetzung mit Ängsten“ gelobt. Auf der Documenta aber sei dagegen individuelle künstlerische Leistung kollektiviert worden und damit auch die Frage, wer „die Verantwortung für das Gelingen oder Scheitern dieser Idee übernimmt“.

Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass tags darauf ein schwarzer Brite, der als ältestes von fünf Kindern einer Einwandererfamilie aus der Karibik im Londoner East-End aufwuchs und seit Jahrzehnten postkoloniale Themen in seinen Videoinstallationen verarbeitet, den Preisring ausgerechnet vor preußischer Pickelhaubenkulisse angesteckt bekam. Wie so manche herrschaftliche Hinterlassenschaft aus dem Mittelalter wurde auch die Goslarer Pfalz von den Hohenzollern deutschtümelnd überformt, hier mit den in den 1880er-Jahren entstandenen Wandmalereien von Hermann Wislicenus. Und so stand in diesem Jahr Isaac Julien vor dem monumentalen Triptychon „Apotheose der Reichsgründung“ mit Kaiser Wilhelm I. und seinem Thronfolger Friedrich III. zu Pferde, flankiert vom Staufer Barbarossa und vom Reichskanzler Bismarck als Fußvolk.

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Auf der Documenta 11 im Jahr 2002 wurde der Künstler für sein Triptychon „Paradise Omeros“ gefeiert. Die Drei-Kanal-Video-Installation überführte das dreiflügelige Andachtsbild in die Filmkunst. In opulenten Bildern reist Isaac Julien zwischen seinen familiären Wurzeln auf der Insel St. Lucia und seiner Jugend in England hin und her, zwischen den Ambivalenzen einer doppelten Identität.

Auch das elegische Video „True North“ aus dem Jahr 2004 nimmt die Struktur des Triptychons auf und erzählt die Geschichte des afroamerikanischen Polarforschers Matthew Henson, der zu jener Expedition gehörte, die als erste den Nordpol erreichte, der aber aufgrund seiner Hautfarbe nie den Ruhm erlangte, der ihm gebührte. Die postkoloniale Kulturtheorie des „Black Atlantic“, die dem weißen westlichen Nationalismus das transnationale Bewusstsein der schwarzen Diaspora Afrikas gegenüberstellt, wurde in der Kunst wohl nie ansprechender interpretiert als im Werk von Isaac Julien.

Im Goslarer Mönchehaus-Museum stellt Julien nun zwei Filme aus, die im Abstand von dreißig Jahren entstanden. In „Looking for Langston“ aus dem Jahr 1989 flirtet und tanzt eine homosexuelle Gemeinschaft schwarzer und weißer Männer in einem mondänen Nachtclub, bis sie von einem rechten Schlägertrupp und brutalen Polizisten aufgerieben wird. Gewidmet ist der Film dem Schriftsteller Langston Hughes, dessen Gedicht „I, Too, Sing America“ zu einer Parole der Bürgerrechtsbewegung wurde.

2019 drehte Julien dann den Film „Lessons of the Hour“, der Episoden aus dem Leben des ehemaligen Sklaven und Freiheitskämpfers Frederick Douglass in Tableaux vivants nachspielt. Auch diese beiden Werke sind von jener einnehmenden Ästhetik, die den Betrachter visuell umschmeichelt, um subtil ihre politische Botschaft zu senden.

Isaac Julien: North Star (Lessons of the Hour), 2019 Gerahmte Fotografie auf mattem Archivierungspapier, auf Aluminium aufgezogen
Isaac Julien: North Star (Lessons of the Hour), 2019 Gerahmte Fotografie auf mattem Archivierungspapier, auf Aluminium aufgezogen
Quelle: saac Julien Courtesy the artist and Victoria Miro

Man darf davon ausgehen, dass Isaac Julien auch deshalb mit dem Kaiserring ausgezeichnet wurde, weil die Jury diese künstlerische Lebensleistung für rundum gelungen beurteilt. So konnte man jedenfalls die Laudatio des langjährigen Jury-Vorsitzenden und Experten für Videokunst Wulf Herzogenrath verstehen. Er übergab den Chefsessel des Gremiums nun an Marion Ackermann, die Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden.

Sie hob die Wichtigkeit von Traditionen und Ritualen für die Kultur hervor. Für das Gelingen der Kunst aber, sagte Ackermann – in einem als Replik auf Sigmar Gabriels Einlassung zu verstehenden Schlusswort zu der Goslarer Veranstaltung, das im Zeremoniell wahrscheinlich nicht vorgesehen war –, sei den Künstlern ein Scheitern unbedingt zuzugestehen.

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