„Bester Schnitt“, Beste Kamera“, Bestes Szenenbild“, „Bestes Kostüm“. Vier Lolas! Es wird noch besser. „Beste weibliche Nebenrolle“, „Beste männliche Hauptrolle“, „Bestes Drehbuch“, „Beste Regie“: Der Preisregen für „Lieber Thomas“ will gar kein Ende nehmen. Auch die neunte Lola bekommt er noch: „Bester Film des Jahres“.
Während die Produzenten Michael Souvignier und Till Derenbach die letzte Trophäe entgegen nehmen, kurz gegoogelt. Wie viele Lolas hat eigentlich damals „Das Leben der Anderen“ abbekommen? Sieben. Solche Ausnahmefilme gibt es hierzulande nicht jedes Jahr.
„Lieber Thomas“, die Filmbiografie des ostdeutschen (und westdeutschen) Dissidenten und Dichters Thomas Brasch, ist der bisherige Höhepunkt in dem Vierteljahrhundert der Existenz von Zeitsprung Pictures. Es ist der Film, mit dem die Kölner Firma endlich aus dem Schatten des großen Konkurrenten um die Filmhoheit über die deutsche Geschichte herausgetreten ist: Nico Hofmanns Berliner Ufa.
Es ist ein rechter Topos, „dass in den Mainstreammedien deutsche Geschichte nur aus den zwölf Jahren des Nationalsozialismus besteht“. Das stimmte für die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik nicht, da wollte kaum jemand etwas von Dreiunddreißig bis Fünfundvierzig wissen, mehr noch: generell von deutscher Geschichte nicht (für die man sich ja nur schämen konnte, oder?).
Es trifft aber auch für die Zeit nach der Wiedervereingung nicht zu, die eine Voraussetzung dafür war, dass dieses Land beginnen konnte, ein gemeinsames Geschichtsnarrativ zu entwickeln (auch wenn es damit noch nicht besonders weit gekommen ist).
Der Wettbewerb um die historische Deutungshoheit hat vor 20 Jahren die Ufa mit dem „Tunnel“ begonnen, einer DDR-Flucht per unterirdischem Gang. Zwei Jahre später meldete Zeitsprung seinen Anspruch an, mit „Das Wunder von Lengede“, dem Zweiteiler über das Grubenunglück. Der „Event“-Fernsehfilm war geboren.
Der unendliche Geschichtensteinbruch der zwölf Nazi-Jahre wurde in Folge weiter behauen (von der Ufa mit „Dresden“, „Unsere Mütter, unsere Väter“ oder „Nicht alle waren Mörder“, von Zeitsprung mit „Das Tagebuch der Anne Frank“, „Die Liebe des Hans Albers“ oder „Landauer – Der Präsident“) – aber die Tür zu Nicht-Nazi-Stoffen war aufgegangen.
Die Ufa und Zeitsprung waren die Avantgarde einer Reconquista; man konnte das Erzählen von diesem Lande weder den Leuten überlassen, die Deutschland über alles setzen, noch denen, die es am liebsten auflösen würden. Die Reflektion der eigenen Geschichte gehört zu den Pflichtaufgaben des Nationenbauens; das über seine Verbrechen erschrockene Deutschland hat das lange mutlos Hollywood überlassen, so konnte Tom Cruise Stauffenbergs Augenklappe anlegen.
Und so wagten sich die Kölner an „Beate Uhse“ und die Berliner an die „Sturmflut“, die einen an „Mackie Messer“ und die anderen an „Deutschland 83“, die Souvigniers in „Goldjungs“ an die Herstatt-Pleite und die Hofmanns an die „Charité“. Das zeitliche Spektrum der Fernsehgeschichtserzählung überspannt inzwischen ein gutes Jahrhundert, vom „Oktoberfest 1900“ über das „Weiße Haus am Rhein“ (jetzt in der ARD, ein Nobelhotel zwischen den Weltkriegen) und die Thriller-Serie „Kleo“ (die gerade eine zweite Staffel genehmigt bekam) bis zur Boris-Becker-Story.
Nicht alles ist inspiriert, nicht alles hat die wünschenswerte Opulenz. Aber es tut dem Land gut. Nationen können auf Dauer nicht in einem Vergangenheitsvakuum leben, sie brauchen Geschichte(n), gute wie böse.
Fast könnte man annehmen, bei Ufa und Zeitsprung existiere eine „Deutsche Schlüsselereignisse von 1900 bis heute“ überschriebene Liste, die nach und nach abgearbeitet werde. Eine Zeitgeschichtsfabrik sozusagen.
„Ich kann die Liste leider nicht finden“, grinst Souvignier, und: „Ich suche gerade in einem alten Leitz-Ordner“, assistiert Derenbach. Will heißen: Eine solche Liste gibt es nicht. Vieles ist Zufall. Einmal sah Souvignier bei einem Bundesligaspiel ein Bayern-Banner, auf dem sie einem Kurt Landauer dankten. Souvignier kannte keinen Landauer, wusste nichts von den jüdischen Wurzeln des FC Bayern, fand aber beim Recherchieren eine filmreife Geschichte.
Was „filmreif“ ist, entscheidet letztlich die Quote. Die kann, wie bei „Lengede“, bei elf Millionen Zuschauern liegen, was in Zeiten der medialen Zersplitterung nicht mehr alle Tage vorkommt. Die Fernsehstationen mögen historische Mehrteiler trotzdem nicht besonders, weil sie teurer sind als alles andere, was senden.
Aber sie können Prestige bringen, wie Souvigniers Contergan-Film „Eine einzige Tablette“ über das Missbildungen verursachende Schlafmittel, der wegen Einsprüchen der Pharmafirma ein Jahr lang in der Gerichtsschleife hing, mit seiner endlichen Ausstrahlung aber wesentlich dazu beitrug, dass die monatlichen Entschädigungszahlungen an Geschädigte verdoppelt wurden.
Die Hoffnung, gesellschaftlich etwas zu bewegen, wird bei jedem Großprojekt von einem erheblichen Risiko begleitet. Die Vorleistungen sind enorm, bis in den sechs- oder siebenstelligen Bereich. Permanent jongliert man in Köln mit 20, 25 Geschichten in verschiedenen Stadien.
Die Vorkosten muss Zeitsprung aus eigener Kraft stemmen, und das ist bei einem Mittelständler schwieriger als bei der Ufa, die dem Medienriesen Bertelsmann gehört. Einmal, vor zehn Jahren, musste man drei Großproduktionen verschieben, saß auf den Vorkosten, und die Banken drehten den Geldhahn zu. Zeitsprung Entertainment ging in die Insolvenz, stand aber als Zeitsprung Pictures schnell wieder auf.
Das Geschichtenpotenzial dieses Landes ist unerschöpflich. Aber ein teurer Film braucht einen Helden, ob es den tatsächlich gegeben hat oder ob dramaturgisch einer konstruiert werden muss. Das verlangen die Regeln der Aufmerksamkeitsgenerierung, und so geschieht es gar nicht selten, dass bei realen „Helden“ die Filmbiografen auf der Matte stehen.
Wie bei dem Kaufhauserpresser Dagobert, dessen Katz- und Mausspiel mit der Polizei von Zeitsprung gerade als „Ich bin Dagobert“ verfilmt wird – Zeitsprung hatte sich die Rechte gesichert, bevor die Konkurrenz ihre Scheckbücher zücken konnte. In dem Rennen gewinnt man einmal und verliert das nächste Mal. Hat man Glück, handelt es sich um eine Person des öffentlichen Lebens, die keine Exklusivrechte besitzt, wie beim „Fall Barschel“ oder dem Jung-Boris-Becker-Epos „Der Rebell“.
Thomas Brasch war kein Held, sondern einer, der sich nirgends heimisch fühlte, nicht vor und nicht hinter der Mauer. Stasitypen riefen in ihm eine ähnliche Beklemmung hervor wie der New Yorker Künstleragent mit der dicken Brieftasche.
„Lieber Thomas“ ist ein Film, der soweit in der Zerfaserung des Heldenvorbilds geht wie man nur gehen kann. Brasch war einer der großen Zerrissenen des geteilten Deutschlands, und Andreas Kleinerts Film bringt alles aufs Wunderbarste zusammen, das Biografische und das Atmosphärische, seine Kunst und seine Musen, den Popstar und den Widerständigen. Das ist für jeden Zuschauer klar sichtbar.
Nur für das Auswahlkomitee der Berlinale im Jahr 2021 anscheinend nicht. Spricht man mit Souvignier und Derenbach, spürt man immer noch deren Enttäuschung über ihre Nichtberücksichtigung. Es gab drei starke deutsche Filme im Wettbewerb, das stimmt – „Fabian“, „Ich bin dein Mensch“, „Herr Bachmann und seine Klasse“ – aber solch eine Konstellation hat Cannes noch nie davon abgehalten, seinen Wettbewerb mit vier oder gar fünf französischen Filmen vollzustopfen.
Geschichte einer Beleidigung
Zumal: Es gibt kaum einen Film, der besser zu der Stadt passt, er ist bereits jetzt eines der klassischen Berlin-Porträts, und der Platz in der Nebenreihe „Forum“, der ihm schließlich halbherzig angeboten wurde, war eher eine Beleidigung.
„Lieber Thomas“ reiht sich damit ein in die (bereits zu) lange Reihe von Berlinale-Fehleinschätzungen, wie bei den Ablehnungen von „Die Unberührbare“ oder „Das Leben der Anderen“. Vielleicht wird ja etwas aus dem großen Zeitsprung-Wernher-Von-Braun-Projekt...