Zweieinhalb Stunden lang wird bei der Premiere der Deutschen Erstaufführung im Stage Operettenhaus aus allen Rohren gefeuert: Salven von Silben prasseln beim Rappen in gefühlt japanischem Tempo (7,8 Silben pro Sekunde) ins Publikum, das schon mit Gucken kaum hinterherkommt. Sämtliche Darsteller tanzen und singen, spielen und springen fast durchgängig über die Bühne. Zum Wechsel der Kostüme, die dauernd anfallen, weil es neben sechs Hauptfiguren nur Doppel- oder Mehrfachrollen plus zwei komplette Armeen gibt, bleiben oft nur wenige Minuten.
Das Musical „Hamilton“ von Lin-Manuel Miranda (Buch, Musik und Songtexte) über Leben und Sterben des amerikanischen Gründervaters Alexander Hamilton, einer der größten Broadway-Hits und auf Englisch bereits nach Großbritannien und Australien exportiert, ist ein künstlerischer Glücksfall.
Es spielt nicht nur zur Zeit der amerikanischen Revolution, sondern revolutioniert selbst das Genre. Die Geschichte des Aufsteigers Hamilton, der als Waisenjunge aus der Karibik in die englische Kolonie Amerika geschickt wurde und es durch politische und private Wirren bis zum ersten Finanzminister der Vereinigten Staaten unter George Washington bringt, wird von einem Ensemble aus Darstellern mit Migrationshintergrund erzählt. Durch die Besetzungsentscheidung angeregte Diskussionen sind durchaus erwünscht – bis hin zur Frage, ob nicht Hamilton selbst Sklaven hielt, die ihm sein Schwiegervater kaufte, General Philip Schuyler.
Für die Betrachtung und Bewertung des Musicals spielen die weiter reichenden Authentizitätsüberlegungen keine Rolle. Miranda beschönigt oder verfälscht in seiner Erzählung die Historie nicht. Es spricht also nichts dagegen, die Aufführung des für ein Musical außergewöhnlich anspruchsvollen Menschenschauspiels einfach zu genießen. In der Kulisse von David Korins, einer Mischung aus Speichergebäude und Kathedrale des ausgehenden 18. Jahrhunderts, definiert Howell Binkley mit aufwendigem Lichtdesign Räume und gestaltet differenziert Stimmungen.
Die Story in den historisch inspirierten Kostümen von Paul Tazewell wird in der Regie von Thomas Kail vor allem getragen von den darstellerischen Leistungen von Benét Monteiro in der Titelrolle und Gino Emnes als Senator Aaron Burr, der immer mal wieder mit Hamilton paktiert, bis er ihn letztlich im Duell erschießt. Charles Simmons ist ein autoritärer George Washington, und Ivy Quainoo liebt und leidet als Eliza Hamilton Mitgefühl erweckend.
Gesanglich ragt Chasity Crisp als Angelica Schuyler aus dem stimmlich starken Ensemble heraus, das zudem tänzerisch in anspruchsvollen Choreografien von Andy Blankenbuehler auf der Drehbühne Kunststücke vollführt. Getanzt wird über Tische und Stühle, Szenen in der Schlacht werden atmosphärisch so treffend verkörpert wie ein Bummel über den Boulevard oder ein Kneipenstreit. Für komödiantische Höhepunkte sorgt Jan Kersjes in der anspruchsvoll-undankbaren Rolle des Königs George III, der die britische Kolonie an die Revolutionäre verliert.
Die Doppelrollen der zweiten Reihe sind durch die Bank gut ausgestaltet: Daniel Dodd erfreut mit französischem Akzent als Marquis de Lafayette und als Präsidentschaftskandidat Thomas Jefferson. Rapper Redchild überzeugt als Hercules Mulligan sowie als James Madison und Oliver Edward spielt nach John Laurens auch Hamiltons Sohn Philip, der noch vor seinem Vater in einem Duell erschossen wird, weil er nach Alexanders Ratschlag edelmütig in die Luft feuert. Nach dem Verlust ihres Sohnes verzeiht Eliza ihrem Mann die Affäre mit Maria Reynolds (wie Peggy Schuyler von Mae Ann Jorolan gespielt), die wegen einer Erpressung fast zu einer Staatsaffäre geführt hätte.
Und auch die Übersetzung überzeugt
Die spannendste Frage im Vorwege der deutschen Fassung war: Gelingt den Übersetzern Sera Finale und Kevin Schroeder eine lebendige Version ohne große Abstriche? Sie ist klar mit Ja zu beantworten. Ein paar Ecken und Kanten, auch als Ergebnis der sehr freien Übersetzung, zeitigen dabei gar sprachlich hübsche Schöpfungen. So baggert Burr die Generalstochter Angelica mit den Worten an „Baby, ich möcht‘ dein Badewasser saufen“. An anderer Stelle bekennt ein Revolutionär „Ich hab‘ Bock, die Briten weiter zu dissen“.
Beim Übersetzen kommt es eben – Binsenweisheit bestätigt – mehr auf die Beherrschung der eigenen Sprache an als auf jene der Ausgangssprache. Beispielhaft zeigt sich das in der Übersetzung des zentralen Songtitels „I am not throwing away my shot“, der Hamilton als Getriebenen charakterisiert. Auf Deutsch singt er „Mann, ich hab‘ nur diesen einen Schuss“ im Sinne von „Ich hab‘ nur diese eine Chance, dieses eine Leben“ und nutzt seine Schüsse, bis ihn der Schuss aus der Pistole von Burr niederstreckt. Die Liebe, der Tod, das Leben sind eben „für alles blind“.