Musiktage in Hitzacker:Zu jedem Abenteuer bereit

Musiktage in Hitzacker: Das Kuss Quartett und Kim Kashkashian an der Viola spielen Brahms.

Das Kuss Quartett und Kim Kashkashian an der Viola spielen Brahms.

(Foto: Kay-Christian Heine/Sommerliche Musiktage Hitzacker)

Lieder aus tausend Jahren, Elliot Carter trifft auf Mozart, Kim Kashkashian spielt Quintett. Unterwegs auf den sommerlichen Musiktagen in Hitzacker.

Von Harald Eggebrecht, musiktage hitzacker harald eggebrecht

Alle sind sofort gefesselt, ja, gebannt, gespannt, als Abel Selaocoe, junger Cellist aus Südafrika, seine Performance beginnt mit Singen und Sagen, mit heißem Flüstern und wuchtigem Dröhnen aus tiefster Kehle. Dazu das Cello, das sich unter seinen Händen in eine Vielzahl von Instrumenten zu verwandeln scheint: Schlagbass, Percussion, Glockenspiel der Flageolettöne und dann auch Streichinstrument. Eine gute Stunde improvisiert Selaocoe, inspiriert und animiert das Publikum zum Hören und oft zum Mitsingen. Bei aller Intensität und Virtuosität im Rollenwandel wird nichts grob effekthascherisch oder gar billig. Selaocoes Erzählungen von der Macht der Mütter, dem Wispern der Ahnen, vom Kreislauf des Lebens über die Kulturen hinweg sind eine musikalische Reise von unvergleichlicher Art. Er zeigt, wie alle Verschiedenheit doch nicht trennen muss, sondern auf höherer Stufe wieder zusammenführt. Er schildert, wie selbstverständlich Bachs Musik ins Afrikanische passt und spielt dann wunderbar leicht und luftig die Sarabande aus der C-Dur-Suite.

Abel Selaocoe ist in England zum exzellenten Cellisten ausgebildet worden, er gibt Recitals und tritt als Solist mit Orchester auf. Sein großes Vorbild, obwohl vom Typus und musikalischen Ansatz grundverschieden, ist der Sizilianer Giovanni Sollima, ein fantastischer Improvisator auf dem Cello, der den jungen Afrikaner bestärkt hat in der Entfaltung seiner ureigenen Ausdrucksmöglichkeiten und zu musikalischer Freiheit ermuntert hat.

Am Ende Ovationen von einem Publikum, das während der Sommerlichen Musiktage in Hitzacker an der Elbe zu jeder Neuerung, jedem Abenteuer und Experiment bereit ist. Man kennt sich untereinander, bleibt treu und begrüßt neu Dazukommende wohlwollend. 1946 gegründet, ist es das älteste Kammermusikfest der Bundesrepublik. Die sich weit dehnende Elbaue ist allein die Reise wert, und das kleine mittelalterliche Städtchen huckelt sich anheimelnd und idyllisch um Kirche und Marktplatz. Doch so gelassen und unaufgeregt der Ort und seine Landschaft wirken und zum Schlendern einladen, bei der Musik herrschen Ernst und Engagement, Feuer des Ausprobierens und Sehnsucht nach dem gelingenden Augenblick, Spaß am Experiment und ungewöhnlichen Begegnungen. Oliver Wille, vielbeschäftigter Geiger im renommierten Kuss-Quartett, Hochschulprofessor, Leiter des Joseph Joachim Violinwettbewerbs Hannover und seit 2016 Intendant der Sommerlichen Musiktage Hitzacker, liebt in seinen Programmierungen Kontraste und Konfrontationen, die das Zuhören erfrischen, herausfordern und Reserven, gar Angst vor irgendwelchem Neuem gar nicht erst aufkommen lassen.

Jedes Instrument, jeder Klang generiert einen eigenen Raum

Natürlich hängt das auch von den eingeladenen Künstlern ab. So trat der fabelhafte und in vielen Schlachten neuer Musik hocherfahrene Pianist Pierre-Laurent Aimard nicht nur als überzeugender Anwalt des großen amerikanischen Komponisten Elliott Carter (1908 -2012) auf, sondern dessen vielstimmiger Kompliziertheit stellten Aimard und Wille die stets verblüffende, nicht minder raffinierte Vielschichtigkeit Wolfgang Amadé Mozarts gegenüber. Das mochte manche im Publikum zuerst befremden, aber die erregten Diskussionen nach der Hörer-Akademie und dem abendlichen Konzert zeigten, wie richtig dieser Ansatz ist ganz im Sinne des diesjährigen Mottos "Zeit.Räume".

Da überschneiden sich gleich mehrere Zeitebenen: Musik als Kunst, die ihre jeweilige Zeit braucht, um sich entfalten zu können, dann Musik in ihrer je historischen Zeit. Oder die Vielfalt unterschiedlicher Geschwindigkeiten in der Einheit einer Komposition. Und das geschieht im Raum, nicht nur im Verdo-Konzertsaal oder draußen im Freien, sondern jedes Instrument, jeder Klang generiert einen eigenen Raum. Es liegt nahe, an Parsifals Staunen in Richard Wagners gleichnamigem Bühneweihfestspiel zu denken: "Zum Raum wird hier die Zeit".

Musiktage in Hitzacker: Wie selbstverständlich Bachs Musik ins Afrikanische passt: Der junge südafrikanische Cellist Abel Selaocoe.

Wie selbstverständlich Bachs Musik ins Afrikanische passt: Der junge südafrikanische Cellist Abel Selaocoe.

(Foto: Kay-Christian Heine/Sommerliche Musiktage Hitzacker)

Aimard und das Kuss-Quartett boten das selten gespielte Klavierquintett von Elliot Carter, dessen enorm kurzformatige, figurative und gestische Vielfalt und Unbeirrbarkeit in den einzelnen Instrumentalcharakteren dennoch zu einer Einheit werden muss, soll das Werk gelingen. Das knappe Stück verlangt hohe Wachsamkeit, um der Vielfalt seiner auf- und abblitzenden Gestalten auf der Spur zu bleiben. Das galt und gilt genauso für Mozarts berühmtes "Dissonanzen"-Quartett, bei dessen harmonischen Verwirrungen man durchaus den Boden unter den Füßen verlieren kann. Gerade in der Spiegelung durch Carters komplexe Klangbewegungen erschien Mozart nicht etwa "einfacher", sondern irritierend raffiniert im melodischen Ab-und Unterbrechen, seinen rhythmischen Überraschungen und der enormen Eigenständigkeit der vier Stimmen. Und doch sollte das alles wieder zur höheren Einheit führen.

Vielfalt entsteht auch, wenn in ein eingespieltes Ensemble wie das Kuss-Quartett sich zum Quintett erweitert

Aimard spielte zwischen den Mozartsätzen kurze Klavierstücke von Carter, darunter dessen Epigramme, das letzte, was der Hundertdreijährige in seinem Todesjahr schrieb: herb und auf die eindeutige Geste, den unverwechselbaren Eindruck aus ähnlich wie im japanischen Haiku-Gedicht. Auf ganz andere, aber nicht weniger konsequente Weise wirkte dann Mozarts spätes Andante KV 616, das er für die mechanische Flötenuhr geschrieben hat. Aimard bot dieses unergründlich heitere, zugleich unheimlich abgründige Stück auf der glockenspielartigen Celesta, ein magischer Augenblick ebenso wie Carters Figment V für Viola solo, eindringlich verwirklicht von William Coleman, dem Bratscher der Kuss-Leute.

Vielfalt entsteht auch, wenn in ein eingespieltes Ensemble wie das Kuss-Quartett sich zum Quintett erweitert für das immer berauschende op. 111 von Johannes Brahms. Die große Bratschistin Kim Kashkashian war mit von der Partie, wirkte manchmal fremd, dann wieder wunderbar in den gemeinsamen Steigerungen oder im versonnenen Solo. Auch in ihrem Recital mit Peter Nagy herrschte nicht immer der symphonische Geist des Miteinanders bei Igor Strawinskys lakonischer Suite italenne oder Robert Schumanns Stücken im Volkston, die original fürs Cello gedacht sind. Da wirkte die Viola doch eher wie die kleine Schwester des tieferen Instruments. Doch bei Lera Auerbachs für Kashkashian geschriebener, etwas redseliger Sonate und bei den argentinischen Liedern war man beieinander und siegreich.

Die bequeme Ansicht, dass die Geschichte des Kunstlieds mit Franz Schubert beginne und bei Hugo Wolf quasi aufhöre, ärgert den Liedspezialisten und Professor für Lied in Hannover, Jan Philip Schulze, schon lange. Seine lehrreiche Akademie, die sich immer vormittags in der Johanniskirche traf, präsentierte drei hervorragende junge Liedduos - Sopran, Mezzosopran und Bass mit ihren Klavierpartnern -, die nicht nur während der Vorbereitung, sondern erst recht im bejubelten Konzert zeigten, dass die Macht des Liedes vom mittelalterlichen Neidhart von Reuenthal um 1200 bis zu Enno Poppe in unserem Jahrhundert und weiter reicht. Denn traurige wie lustvolle, jauchzende wie betrübte Stimmungen, kaum zu bändigende Emotionen und abgrundtiefe Verzweiflungen, Nachdenken über die Welt und Gläubigkeit, schließlich Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung klingen in den verschiedensten Liedern durch Zeiten und Räume der Jahrhunderte hindurch. Als danach Abel Selaocoe auftrat, war es, als sei die unendliche Vielfalt der Musik für einen wunderbaren Moment in der Einheit einer einzigen beeindruckenden Musikerpersönlichkeit eingefangen.

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