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Kultur Kriegstagebuch aus der Ukraine

In Mariupol haben die Schulen am ersten Schultag gar nicht geöffnet

Ein Kind aus der Ostukraine auf der Flucht gen Westen Ein Kind aus der Ostukraine auf der Flucht gen Westen
Ein Kind aus der Ostukraine auf der Flucht gen Westen
Quelle: AMMAR AWAD/REUTERS
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Seit dem ersten Kriegsmorgen hält uns der preisgekrönte Übersetzer Juri Durkot aus Lemberg über die Lage in der Ukraine auf dem Laufenden. Wir aktualisieren sein Tagebuch regelmäßig. Lesen Sie hier seine Einträge von Ende Juni bis Mitte Oktober 2022.

Juri Durkot setzt sein Tagebuch fort. Lesen Sie hier die neuesten Einträge.

Lemberg, den 13. Oktober, mittags

Ich hätte nie gedacht, dass mein altes Faxgerät noch einmal zum Einsatz kommen würde. Ich habe mir eins Anfang der 1990er-Jahre beschafft. Zunächst habe ich meine Texte auf einer Schreibmaschine abgetippt, dann bin ich zum Hauptpostamt gelaufen. Die Telefonleitungen waren schlecht, immer wieder kam eine Fehlermeldung. Man wusste nie wirklich, ob das Fax leserlich angekommen ist. Nach vier oder fünf Versuchen hat man in der Regel aufgegeben, in der Hoffnung, dass die Redaktion aus mehreren Teilstücken einen vernünftigen Artikel zusammenbasteln kann.

Mit dem eigenen Faxgerät konnte ich mich zu Hause mit diesem Sendeabenteuer abmühen. Mein Fax war ein kleines, aber ziemlich schweres Tischgerät. Ich war ganz stolz darauf. Eine Rolle Thermopapier gehörte dazu. Zum Archivieren eigneten sich die empfangenen Blätter nicht, das Gedruckte blich nach einiger Zeit aus. Aber die Geräte waren DAS Kommunikationsmittel in einer Welt vor der Internet-Ära. Selbst in den Nullerjahren wollten einige ukrainische Behörden, dass man ihnen Unterlagen nicht per E-Mail, sondern per Fax schickt. An das Geräusch beim Empfangen oder Absenden kann ich mich immer noch gut erinnern. Es war ähnlich wie bei den ersten analogen Modems.

Wie bitte? Heute wissen die Kids nicht mehr, was ein Fax ist. Irgendein Ding aus dem Mittelalter vielleicht. Genauso wie eine Videokassette oder ein Tonband. Und ich bezweifle, ob sie sich nach diesen etwas chaotischen Erklärungen das Gerät wirklich vorstellen können. Ok, es ist wie ein sehr großes Festnetztelefon. Aber dann kommt die Frage: Und was ist bitte ein Festnetztelefon?

Ich weiß nicht, warum ich mein Faxgerät bei all den Umzügen immer mitgenommen habe. Irgendwann habe ich es tief in einem Schrank verstaut – unter einem Berg von Dingen, die man nicht wirklich braucht. Und für viele Jahre vergessen. Bis zum letzten Montag.

Der russische Raketenangriff auf Lemberg, der sich am Dienstag noch einmal wiederholte, hat zum Glück – anders als in Kiew – keine Opfer gefordert. Wir saßen nur den ganzen Tag ohne Strom, ohne Internet und ohne Mobilfunknetz. Ok, noch vor dreißig Jahren gab es die beiden letzten Dinge gar nicht. Und vor 130 Jahren gab es in vielen Teilen der Welt auch keinen Strom. Kein Grund zur Panik eigentlich, zumal draußen fast sommerliche Temperaturen herrschten. Die russische Führung ist längst für ihr schlechtes Timing bekannt.

Der Vorteil von einem kleinen Faxgerät ist, dass man es auch als Festnetztelefon benutzen kann. Es klingelt zwar ganz leise, aber immerhin klingelt es. Es hat ja auch einen ganz normalen Hörer und die Zifferntasten. Die Leitung funktioniert, wenn es keinen Strom gibt. Auch ein alter Telefonapparat mit Wahlscheibe ist eine gute Alternative. Nur: Wer hat so einen schon noch? Viele haben ihren Festnetzanschluss längst aufgekündigt. Wozu denn zahlen, wenn man heute sowieso fast nur mit dem Smartphone telefoniert? Und selbst wenn man noch einen Anschluss hat, benutzt man in der Regel ein Schnurlostelefon, das ohne Strom völlig nutzlos ist.

Nachdem man das Telefonkabel ins Faxgerät eingesteckt und den fröhlichen Piepston gehört hat, steht man von einem neuen Problem. Welche Nummer wählen? Man weiß zwar, dass einige Freunde und Bekannte Festnetz haben, ihre Nummern kennt man aber nicht mehr. Denn sie sind im Schnurlostelefon gespeichert, nicht im Smartphone. Das menschliche Hirn ist faul. Es merkt sich mache Dinge gar nicht, wenn es sie nicht braucht. Einmal eingetippt, abgespeichert, vergessen. Nach einer kurzen Gedächtnisübung konnten wir jedoch einige Rufnummern aus den Tiefen unserer Seele herausgraben. Anschließend war es eine Kombination aus Mundpropaganda und Schneeballprinzip.

Mit den Rufnummern, die man vor vielen Jahren öfter gewählt hat, funktioniert es am besten. Sie schlummern nämlich irgendwo in der hintersten Ecke des Kopfes. Manchmal können sich die Finger an die Bewegungen erinnern. Wie bei einem Musikstück, das man als Kind eingeübt hat. Vor allem, wenn es nicht aus Zwang, sondern aus Spaß geschah. Jahrzehntelang hat man es nicht gespielt. Dann versucht man es einmal und denkt, man habe keine Chance mehr. Doch nach einigen verzweifelten Versuchen geht es plötzlich wieder. Die Finger laufen wie von selbst über das Griffbrett der Gitarre oder die Klaviertasten. Wenn mal an einem Winterabend der Strom wieder ausfallen sollte, werden wir viel zu tun haben. Unsere Köpfe auch.

Lemberg, den 7. Oktober, nachmittags

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Es fühlt sich seltsam an, wieder einmal zu reisen. Besser gesagt – wieder einmal ins Ausland zu reisen. Und zwar nicht wegen der Ausreisegenehmigung, die in der Regel irgendwann am letzten Tag per E-Mail eintrudelt, als man die Hoffnung längst aufgegeben hat. Dann heißt es schnell zugreifen, das letzte Bahnticket ergattern, weitere Tickets besorgen, nun für die polnische Bahn, danach Flug, noch einmal Flug, schnell den Koffer packen, den Reisepass nicht vergessen und mitten in der Nacht während der Ausgangssperre losfahren. Hört sich zwar kompliziert an, ist aber im Grunde genommen ganz einfach.

„Manchmal wird eine Nation modern“, würde vielleicht Joseph Roth sagen. Er hat dies über die Ukrainer aus einem anderen Anlass tatsächlich geschrieben. Ukraine-Veranstaltungen gibt es heutzutage öfter. Auch Kriegstagebücher sind inzwischen in Mode gekommen. Ich darf nun aus meinem ein bisschen lesen, das ist der Anlass meiner Reise. Die Veranstaltung findet in Frankfurt am Main im Rahmen des Festivals „Politik im freien Theater“ statt. Sie hat zwei Titel: „Vom Kriege“ (Anspielung auf Clausewitz?) und „Ukraine in Europa“ (Anspielung auf was?).

Vor vielen, vielen Jahren brauchte man in der Sowjetunion immer eine Genehmigung, um aus dem Land rauszukommen, obwohl es keinen Krieg gab. Allerdings befand sich der Kommunismus immer im Krieg, auch wenn nicht immer geschossen wurde. Eigentlich ist der permanente Kriegszustand ein unabdingbares Merkmal eines kommunistischen Regimes. Eines faschistischen und imperialistischen übrigens auch.

Also musste man eine Ausreisegenehmigung beantragen. Egal, ob es sich um einen Besuch bei nahen Verwandten im Ausland oder eine Dienstreise im Auftrag eines sozialistischen Unternehmens handelte. Egal, ob es sich um einen Mann, eine Frau oder ein Kind handelte. Ein Teil der Familie musste immer daheim bleiben, sozusagen als Geisel. Damit niemand auf die Idee käme abzuhauen. Der KGB hatte das letzte Wort. Da konnte es schon passieren, dass der Antrag mit der perfiden Formulierung „Es besteht keine zwingende Notwendigkeit für die Reise“ abgelehnt wurde. Der sowjetische Geheimdienst wusste besser, ob der Besuch bei einer alten Tante in der Tschechoslowakei zwingend notwendig war. Die kommunistischen Behörden wussten ja immer ganz genau, was für ihre Bürger besser war. Mir blieb allerdings das ganze Prozedere erspart, da ich die UdSSR nie verlassen habe. Am Ende war es die Sowjetunion, die uns für immer verließ. Nun durfte man frei reisen. Ein kleiner Mann in Dresden fand damals keinen Gefallen daran.

Es ist in Ordnung, dass heutzutage ukrainische Männer im wehrpflichtigen Alter das Land nicht ohne Genehmigung verlassen dürfen. Mein seltsames Gefühl hat nichts damit zu tun. Es ist vor allem die Kluft, die derzeit unüberwindbar erscheint. Die Kluft zwischen zwei Welten – der Welt im Krieg und der Welt im Frieden.

Im Zug nach Przemysl sind fast ausschließlich Frauen unterwegs. Frauen mit Kindern und Frauen ohne Kinder. Ein paar ältere Männer über sechzig. Ein paar junge Ausländer, die zusammen mit ihren Freundinnen reisen. Es könnte sich um einen Ausflug der Fakultät für Slawistik irgendeiner Provinzuniversität handeln, die bisher keine Männerquote eingeführt hat. Aber es ist kein Ausflug. Mein Waggon kommt aus Odessa, von dort, wo es immer wieder russischen Beschuss gibt. Diese Frauen und Kinder fliehen vom Krieg.

Es ist warm, sauber und gemütlich im Waggon. Der Wagen ist neu, das System alt. Es sind Viererabteile mit weich gepolsterten Liegen. Wir reisen zu fünft. Als ich zugestiegen bin, waren bereits drei Frauen und ein kleines Kind im Abteil; es teilte die Liege mit seiner Mutter. Genau in solchen Waggons hat die ukrainische Eisenbahn in den ersten Kriegstagen Menschen evakuiert. Damals saßen fünfzehn oder sechzehn Personen in jedem Abteil, sie waren teilweise mehr als 30 Stunden unterwegs. Ich versuche mir vorzustellen, wie in meinem Abteil sechzehn Personen mitsamt Gepäck Platz gefunden haben. Das gelingt mir nicht so richtig. Ich kann auf meiner Liege die Beine strecken und versinke für eine Dreiviertelstunde im Halbschlaf.

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Was danach kommt, ist eher trivial. Grenzübergang, Passkontrolle, der Zug steht lange, fährt schließlich wieder, bald sind wir in Przemysl, noch einmal die Passkontrolle, nun auf der polnischen Seite. Es sind keine chaotischen Zustände mehr, wie man sie in den ersten Wochen beobachten konnte. Die Helfer sind aber immer noch da, erklären alles auf Ukrainisch. Warmer Tee und Brötchen. Man sagt, irgendwo würden kostenlos polnische SIM-Karten mit Startguthaben verteilt. Wir sind in einer anderen Welt angekommen. Dort, wo es keinen Krieg gibt. Nein, falsch. Hier gibt es immerhin einen halben Krieg.

Ein anderer Zug, einige Frauen aus unserem Waggon fahren weiter, andere, schon länger in Polen, gesellen sich dazu. Es gibt sogar ein paar polnische Mitreisende, beinahe hat man den Eindruck, dass sie sich verirrt haben müssen und in den falschen Zug gesprungen sind. Nach etwa einer Stunde sind wir in Rzeszow. Der Regen, der während der Fahrt eingesetzt hat, wird immer stärker. Ich steige aus. Die Frauen fahren weiter.

Lemberg, den 29. September, nachmittags

In einem alten Witz wird eine Geschichte von Eltern und ihrem Sohn erzählt. Der Sohn spricht nicht. Er hat seit seiner Geburt noch kein einziges Wort gesagt. Langsam wächst er heran, die Eltern kümmern sich liebevoll um ihr Kind. Sie haben den Kleinen bereits allen möglichen Ärzten gezeigt. Niemand konnte helfen. Also gehen sie davon aus, dass er stumm ist. Eines Tages, der Sohn ist schon sechzehn, sitzen alle in der Küche und löffeln ihre Suppe. Plötzlich sagt der Junge: „Die Suppe ist zu kalt.“ Die Eltern fallen fast von ihren Stühlen vor Überraschung. „Hast Du was gesagt, mein Lieber?“ – „Die Suppe ist zu kalt“, sagt der Junge noch einmal. „Du kannst nun sprechen!“ – „Das konnte ich schon immer.“ – „Und warum hast Du über die Jahre nichts gesagt?“ – „Na ja, bisher war alles in Ordnung.“

Mir kam dieser Witz in Erinnerung, als das Fernsehen junge russische Männer zeigte, wie sie in Zehntausenden vor der Mobilmachung über die Grenze nach Georgien oder nach Kasachstan fliehen. Vielleicht ist es besser so. Zumindest werden sie nicht in der Ukraine kämpfen und hier mit großer Wahrscheinlichkeit sterben. Das Problem ist nur, dass für sie früher alles in Ordnung war. Es war alles in Ordnung, als Russland die Ukraine überfallen hat. Als die russischen Soldaten Zivilisten gefoltert, Frauen vergewaltigt und Familien getötet haben. Es war für sie offenbar in Ordnung, wie sich aus der imperialen Nostalgie heraus ein faschistischer Staat entwickelt hat.

Vielleicht empfinden nicht wenige von ihnen selbst eine Art imperiale Nostalgie. Zumindest eine leichte. Für manche wäre es vielleicht sogar in Ordnung, die Ukrainer zu töten. Nur sterben wollen sie nicht. Es ist eine Flucht aus Instinkt, nicht aus Überzeugung. Es ist kein Kampf gegen das Regime. Dafür ist es schon zu spät. Die Grenze, bis wann man noch etwas gegen die aufkommende Diktatur unternehmen kann und vor allem muss, ist unscharf und flüchtig. Alle haben sie verpasst. Die russische Gesellschaft. Die westliche Politik. Vielleicht wollte man sie gar nicht sehen. Vielleicht haben die meisten nur die Augen verschlossen. Nicht zum ersten Mal. Beim Aufstieg des Nationalsozialismus war es genauso.

Was für groteske Parallelwelten: Hier die ukrainischen Frauen und Kindern, die vor der russischen Soldateska flüchten, weil ihre Häuser und Städte zerbombt sind. Da die jungen russischen Männer, die aus Angst vor einem wahnsinnigen Diktator fliehen, um nicht von ihm in den Krieg geschickt zu werden.

Junge russische Männer beim Überqueren der Grenze nach Georgien am 23. September
Junge russische Männer beim Überqueren der Grenze nach Georgien am 23. September
Quelle: AP/Shakh Aivazov

Nicht alle wollen fliehen. Nicht alle können fliehen. Die Krim-Tataren wollten ihre Heimat nicht verlassen. Für sie wäre es wie eine zweite Deportation gewesen, nach den Schrecken der Stalinschen Zwangsumsiedlung von 1944, als das gesamte Volk in Viehwaggons nach Zentralasien abtransportiert wurde. Nicht weniger als 100.000 haben die unmenschlichen Bedingungen während des Transports nicht überlebt. Zurückkehren durften die Überlebenden nur nach dem Zerfall der Sowjetunion, in die unabhängige Ukraine. Nach der russischen Annexion vor 2014 mussten sie ein neues Trauma und massenhafte Verfolgungen erleiden.

Nun werden die Männer eingezogen. Für sie gibt es keine Chance mehr, von der Krim zu fliehen. Die im Februar 2014 gegründete Krim-SOS, eine Initiative, die sich vor allem um die Krim-Flüchtlinge kümmert und die Situation auf der Halbinsel aufmerksam beobachtet, veröffentlichte neulich Zahlen. Etwa 90 Prozent der Mobilisierten auf der Krim sind Krim-Tataren, dabei machen sie nur 15 Prozent der dortigen Bevölkerung aus. Es riecht schon wieder nach Genozid. Für Russland ist es nur ein weiterer Teil seiner unmenschlichen Strategie.

Lemberg, den 26. September, abends

Ich habe ein ziemlich unbelastetes Verhältnis zu Brücken. Wie die meisten Menschen. Oft merkt man es gar nicht, wenn man über eine Brücke fährt, besonders wenn man es zum tausendsten Mal macht. Manche Konstruktionen behält man dagegen etwas länger in Erinnerung, zum Beispiel wegen eines atemberaubenden Panoramas. Oder aus persönlichen Gründen.

Vor einer Ewigkeit war ich in einem Zug unterwegs, der auf einer Brücke in den Karpaten entgleiste. Nicht der gesamte Zug, nur ein Waggon. Jemand hatte rechtzeitig die Notbremse gezogen. Irgendwann während der drei oder vier Stunden, die wir auf der Brücke in einer leichten Schieflage verbrachten, kam das Gerücht auf, dass uns alle ein Eisenbahner gerettet hatte, der zufällig in unserem Wagen auf einer Urlaubsreise war. Damit war die Geschichte filmreif. Zumindest hätte Alfred Hitchcock die Sequenz so gedreht, dass dem Zuschauer das Blut in den Adern gefrieren würde. Bei uns ging das Abenteuer weniger romantisch und lebensbedrohlich aus – mit Müh und Not wurde der Wagen wieder zurück auf die Schienen gesetzt, und wir fuhren langsam weiter. Diese kleine Panne passierte ungefähr zur gleichen Zeit, als der Zug des Kommunismus zu entgleisen begann. Da halfen keine Bremsen mehr.

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Auch an einige andere Brücken kann ich mich gut erinnern. Etliche Male kletterten wir mit einem Kamerateam hoch, um besonders schöne Aufnahmen zu machen. Das ist der Grund, warum Kameraleute diese Bauwerke so lieben und bereit sind, einiges zu riskieren. In den Friedenszeiten ging man damit eher entspannt um. Für ein paar Freaks, die im beißenden Wind auf einer hohen Brücke mit der Kamera herumstanden, interessierte sich wirklich niemand. Auf jeden Fall wurden wir nie festgenommen.

Nach 2014 wurde man etwas nervöser, aber das Leben ging für die meisten Menschen und Brücken weiter. In diesem Februar änderte sich alles. Die Brücken waren keine einfachen Verkehrswege mehr, sondern strategische Objekte. Jeder, der sich zu lange dort aufhielte, würde sofort suspekt erscheinen.

Die zerstörte Brücke von Irpin, die zu einer Gedenkstätte für die Kriegsopfer im ganzen Land geworden ist.
Die zerstörte Brücke von Irpin, die zu einer Gedenkstätte für die Kriegsopfer im ganzen Land geworden ist.
Quelle: Carol Guzy/ZUMA Press Wire/dpa

Ein paar Wochen nach dem Kriegsanfang, als man sich nicht mehr nur für die Nachrichten interessierte, sondern allmählich anfing, sich in der Welt umzuschauen, stellte ich fest, dass die meisten Museen Lembergs wieder geöffnet haben. Nur eines nicht: „Das Territorium des Terrors“. Ausgerechnet das Museum, das die Verbrechen der nationalsozialistischen Besatzung und des Stalinismus thematisiert. Es befindet sich direkt hinter dem Eingang zum ehemaligen Getto, das im November 1941 von den Deutschen eingerichtet worden war. Und genau dort, wo sich ab 1944 das sowjetische Durchgangsgefängnis befand. 1955, als der Terror nach Stalins Tod abflaute, wurde das Gefängnis aufgelöst und in ein Krankenhaus umfunktioniert. Nach dem Zerfall der Sowjetunion herrschte auf dem Gelände zunächst ein Chaos mit undurchschaubarem Geflecht aus privaten Mietern und Firmen. Erst vor etwa acht Jahren fing die Stadt an, dort ein Museum einzurichten.

Ich konnte lange nicht verstehen, warum „Das Territorium des Terrors“ geschlossen hat. Immer wieder habe ich auf der Website überprüft, ob sich was geändert hat. Nein, es hat sich nichts geändert. Bis heute nicht. Da findet man nur der Satz, dass wir uns nach dem Sieg wiedersehen werden. Was war los? Waren etwa alle Mitarbeiter ins Ausland geflüchtet? Gab es keine Besucher? Das durfte ja nicht der Grund gewesen sein. Eines Tages schoss mir plötzlich der Gedanke durch den Kopf: Das Museum liegt direkt an einer Eisenbahnbrücke. Und von den Gleisen, die über einen Damm führen, wird es nur von einer Mauer getrennt. Die Brücken führen halt ihr eigenes Leben im Krieg.

Lemberg, den 22. September, nachmittags

Das Wetter in der zweiten Septemberhälfte ist fast immer wunderschön. Es ist warm und sonnig, die ersten Bäume fangen an, sich herbstlich einzufärben. Gelb und Rot mischen sich immer stärker zum Grün, bis eines Tages der Park in den Strahlen der Morgensonne golden leuchtet. So muss es auch vor 83 Jahren gewesen sein.

Am 22. September 1939 kapitulierte die polnische Garnison von Lemberg. Sowjetische Truppen nahmen die Stadt kampflos ein. Die Wehrmacht, die bereits seit rund einer Woche Lemberg vom Westen belagerte, zog sich zurück. Der symbolische Zufall wollte, dass deutsche und sowjetische Soldaten am selben Tag eine gemeinsame Siegesparade in Brest-Litowsk abhielten.

Fünf Tage zuvor marschierte die Rote Armee in Ostpolen ein. Die Zerstückelung Polens wurde im geheimen Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 besiegelt. Nun waren Hitler und Stalin Verbündete. Der Weg zum Zweiten Weltkrieg war frei. Die zwei Diktatoren beschlossen einvernehmlich, Europa unter sich aufzuteilen. Stalin begrüßte das schnelle Vorrücken der Wehrmacht in Polen. Die damals ostpolnischen Gebiete, heute die Westukraine und Westbelarus, fielen an die Sowjetunion.

Die Lemberger Garnison hat mit dem sowjetischen Kommando eine ehrenhafte Kapitulation ausgehandelt. Es ist schwer zu sagen, ob die polnischen Truppen an die Vereinbarungen geglaubt haben. Auf jeden Fall haben die Sowjets ihr Wort sofort gebrochen: Die Offiziere sind nicht wie vereinbart freigelassen, sondern ins Lager nach Starobilsk in der Region Luhansk geschickt worden. Ein halbes Jahr später wurden sie vom NKWD ermordet.

Der Horror nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in der Westukraine, in Westbelarus und etwas später in den baltischen Staaten ist bis heute Teil der kollektiven Erinnerung in diesen Regionen. In seinem Buch „Katyn 1940“ beschreibt der langjährige Polen-Korrespondent der „Süddeutschen Zeitung“ Thomas Urban die darauffolgenden Ereignisse so:

„Am 22. Oktober, also fünf Wochen nach dem Einmarsch der Roten Armee, fanden in den besetzten Gebieten Wahlen zu den regionalen Räten, den Sowjets, statt. In den Wahllokalen standen die Offiziere der sowjetischen Geheimpolizei NKWD. Mehr als 90 Prozent der Stimmen entfielen auf die Befürworter eines Anschlusses der Gebiete an die Sowjetunion. Die Sowjets verabschiedeten bei ihren ersten Sitzungen entsprechende Gesuche, am 1. November 1939 entsprach der Oberste Sowjet in Moskau den Bitten. Die Einwohner wurden umgehend zu Sowjetbürgern erklärt. Damit unterlagen die Männer der Wehrpflicht, rund 150.000 mussten in den Baubataillonen der Roten Armee Zwangsarbeit leisten.“ Für die Annexion und die darauffolgende Integration hat die sowjetische Propaganda den Begriff „Der goldene September von 1939“ erfunden.

Ehrenmal der Sowjetarmee in Lemberg
Ehrenmal der Sowjetarmee in Lemberg
Quelle: pa/akg-images/Florian Profitlich

Es folgten willkürliche Verhaftungen und unmenschliche Folter, Enteignungen der „Klassenfeinde“, Verstaatlichung sämtlicher Betriebe und Zwangskollektivierung der Landwirtschaft. Mindestens eine Million Menschen aus den annektierten Gebieten wurden nach Sibirien, Kasachstan oder an den Polarkreis deportiert. Betroffen waren Haus- und Fabrikbesitzer, Lehrer und Ärzte, Anwälte und Bauern, Polen wie Ukrainer sowie jeder, der sich der neuen Diktatur zu widersetzen versuchte. Selbstverständlich einschließlich seiner Familie und nicht selten auch ferner Verwandter. Zehntausende haben den wochenlangen Transport nicht überlebt. Hunderttausende sind in den Lagern gestorben. Die Überlebenden wurden nach Stalins Tod amnestiert und durften nach und nach zurückkehren, allerdings nicht immer direkt in ihre Heimatregion. Und viele wurden noch lange Jahre danach vom KGB heimlich beobachtet.

Beim deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 waren die Gefängnisse in Lemberg und in Galizien überfüllt. Wie es in einer Diktatur üblich ist, saßen neben ein paar Dutzend Kriminellen tausende unschuldige Menschen in den Zellen. Bei ihrer chaotischen Flucht hatten die sowjetischen Behörden keine Zeit und keine Lust, sich um die politischen Gefangenen zu kümmern. Aber sie wollten keine Zeugen ihrer Verbrechen hinterlassen. Das „Problem“ hat man auf traditionelle bolschewistische Weise „gelöst“ – die Insassen wurden ermordet. Man hat sich nicht mal die allzu große Mühe gemacht, die Menschen einzeln zu erschießen. Meistens hat man einfach mehrere Handgranaten in die engen Gefängniszellen geworfen. So endete der Horror der ersten sowjetischen Besatzung. Nun folgte der Horror der deutschen.

In diesem Jahr ist es kalt und regnerisch im September. Man würde schon gerne die Heizung anwerfen, wenn man nicht wüsste, dass man mit Gas sparsam umgehen sollte. Die Sonnenstrahlen können die dicken, schweren Wolken kaum durchdringen. Dieser September hat sich eindeutig für verschiedene Töne von Grau entschieden. Das Wetter erinnert gar nicht an 1939. Die Zeiten ändern sich.

Für Russland offenbar nicht. Denn das, was Moskau nun in den besetzten Gebieten praktiziert, ist genau das gleiche, was es schon immer gemacht hat: Morden, Foltern, Entführen, Deportieren und Einschüchtern. Es sind die „Big Five“ der russischen Taktik. Etwas anderes kennt man dort nicht. Für etwas anderes reicht die Fantasie nicht. Oder doch: nun droht man der ganzen Welt mit Atomwaffen. Aber auch das ist nicht ganz neu. Es ist nur ein weiterer Beweis dafür, dass sich der moralische Zerfall des Regimes unaufhaltsam fortsetzt.

Lemberg, den 17. September, vormittags

Seit einigen Tagen gibt es ein neues Symbol für den Horror der russischen Besatzung. Oder besser gesagt: Ein weiteres Symbol. Eigentlich sind es zwei – Isjum und Balaklija. Diese beiden Namen sind nun ein Inbegriff für die Gräueltaten der russischen Armee, genauso wie Butscha oder Irpin. Wieder sind es Morde an Zivilisten, Massengräber, verstümmelte Leichen von Menschen, die offenbar gefoltert worden sind, Berichte von Überlebenden über Folter mit elektrischem Strom, willkürliche Festnahmen und unmenschliche Haftbedingungen. Traditionelle Plünderungen erscheinen dabei fast nebensächlich.

Es ist wieder ein Schock, aber keine Überraschung mehr. Nach bald sieben Monaten Krieg stumpfen die Gefühle ab. Man verspürt nicht mal eine kurzfristige Lähmung durch Entsetzen. Es läuft einem nicht heiß und kalt den Rücken herunter. Es bleiben nur unendliches Mitleid mit den Opfern sowie Wut und Abscheu gegen die Täter, diese Monster in menschlicher Gestalt, bei denen kaum noch etwas Menschliches geblieben ist.

Ukrainische und internationale Ermittlerteams sind vor Ort, exhumieren die Leichen, dokumentieren die Verbrechen. Bald werden westliche Politiker nach Balaklija und Isjum reisen. Journalisten aus aller Weilt waren schon da. Werden sie begreifen, dass sie gerade eine Zeitreise gemacht haben? Eine Zeitreise ins Mittelalter. Damals war die Folter ein wichtiges Instrument zur Durchsetzung des Glaubens. In diesem Sinne ist Russland – auch in seinem Hass gegen die ganze demokratische Welt – tief im Mittelalter stecken geblieben. Nur dass es ein Mittelalter mit modernen Waffen ist. Keine besonders gute Verbindung. Bei den militanten Islamisten ist es nicht anders, sie verfügen immerhin nicht über so viele Waffen.

Ukraine-Krieg - Isjum
Die Gräber von Isjum, 15. September 2022
Quelle: dpa/Evgeniy Maloletka

Ich weiß nicht mehr, ob das kurze, mit einem Smartphone aufgenommene wackelige Video aus Balaklija oder aus Isjum stammt. Es zeigt ein improvisiertes Gefängnis in einem öffentlichen Gebäude. Mehrere Zellen, in den Türen ausgeschnittene Löcher zur Beobachtung von Gefangenen, die wegen Platzmangel nur in Schichten schliefen. Daneben ein Raum voller Ikonen und Kerzen.

In einem der früheren Einträge habe ich die russische Armee als Armee der Mörder, Vergewaltiger und Plünderer bezeichnet. Man muss diese Definition erweitern. Es ist auch eine Armee der Folterer und Verbrecher. Wobei das letztere nicht nur die verübten Kriegsverbrechen bedeutet, sondern auch eine ganz banale Bedeutung hat. Inzwischen heuert man in russischen Gefängnissen und Strafkolonien verurteile Verbrecher als Kanonenfutter an, indem man ihnen spätere Begnadigung verspricht. Dass die Männer geschwächt sind und überhaupt keine militärische Ausbildung bekommen, spielt gar keine Rolle. Sie melden sich trotzdem gerne, weil, wie die russische Menschenrechtlerin Olga Romanowa sagt, jeder Ort auf der Welt besser ist, als ein russisches Gefängnis. Sie berichtet auch darüber, dass in einem Gefängnis im Gebiet Saratow sogar ein wegen Kannibalismus verurteilter Strafgefangener angeheuert wurde. Das Mittelalter scheint nicht der tiefste Punkt zu sein. Offenbar kann man auch noch viel tiefer fallen.

Lemberg, den 13. September, abends

Der Rasen war grün und gepflegt. Die zwei Tore des Fußballplatzes sahen etwas verwaist aus, waren aber neu gestrichen. Auf einer der beiden Längsseiten stand eine kleine Zuschauertribüne. Die hölzernen Sitzbänke waren zwar alt, aber auch sie waren neu gestrichen. Man hatte sich offenbar gut vorbereitet. Auch der Wettergott hat sich gut vorbereitet: Es war sonnig, jedoch überhaupt nicht zu heiß. Ein wunderbarer, schöner Spätsommertag. Irgendwo musste auch ein Fahnenmast in den Himmel ragen – man kann sich ein Stadion ohne einen Fahnenmast kaum vorstellen. Selbst bei einem Zweitligisten einer Regionalliga nicht. Aber der Fahnenmast ist mir nicht in Erinnerung geblieben. Die ukrainische Hymne dagegen schon.

Es gab nicht viele Menschen auf der Tribüne. Die meisten standen am Rande des Spielfeldes mit den Taschenkameras in der Hand. Smartphones waren damals noch eine Seltenheit, so dass man bei feierlichen Anlässen und wichtigen Events immer daran denken musste, die Taschenkamera nicht zu vergessen. Die Protagonisten reihten sich längs der Seitenlinie auf. Alles war bereit, die Anspannung wuchs. Ein ganz besonderes Gefühl der Vorfreude hing in der Luft. Nun konnten die feierlichen Ansprachen beginnen.

Heute liegt das Stadion in Brody ziemlich im Stadtzentrum. Vom imposanten Gebäude des städtischen Gymnasiums ist es wirklich nur ein Katzensprung. Man muss nur durch ein paar verwinkelte Gässchen laufen, und schon ist man nach wenigen Minuten da. Ich glaube aber nicht, dass die Fußballfans tatsächlich diesen Weg nehmen. Vielleicht nur einige wenige. Es können in Brody sowieso nicht viele Menschen der eigenen Mannschaft bei den Heimspielen die Daumen drücken. Zudem sie nicht besonders erfolgreich zu sein scheint. In dieser Saison liegt der Verein in der zweiten Regionalliga weit abgeschlagen mit zwei anderen Teams auf dem geteilten zweiten Rang. Man könnte auch sagen: auf dem geteilten letzten. Denn es spielen nur vier Mannschaften in der Gruppe.

Allerdings ist das Stadion ein relativ junges Beispiel für die Nutzung des Grundstücks inmitten von Brody. Es wurde dort erst nach dem Zweiten Weltkrieg gebaut. Vor mehreren hundert Jahren, als das Gelände noch ein Vorort von Brody war, kaufte die jüdische Gemeinde das Grundstück auf und richtete darauf einen Friedhof ein. Dieser alte jüdische Friedhof wurde im Laufe der Zeit erweitert, Begräbnisse fanden dort noch bis Anfang der 1830er-Jahre statt. Dann ordnete die österreichische Verwaltung aus hygienischen Gründen die Anlage eines neuen jüdischen Friedhofs weit außerhalb der Stadt an. Der alte wurde zwar nicht mehr benutzt, überlebte jedoch den Rest des 19. Jahrhunderts, den Ersten Weltkrieg, den Zerfall der Donaumonarchie, die turbulente polnische Herrschaft der Zwischenkriegszeit, den Beginn des Zweiten Weltkriegs und die Zerstückelung Polens durch den Hitler-Stalin-Pakt – aber die Nazi-Besatzung in den Jahren 1941 bis 44 überstand der alte Friedhof nicht mehr.

Verlorene galizische Welt: Jüdischer Markt in Brody, um 1910
Verlorene galizische Welt: Jüdischer Markt in Brody, um 1910
Quelle: Getty Images/brandstaetter images/Hulton Archive

Joseph Roth, der 1913 nach der Abitur Brody verließ, nach einem kurzen Intermezzo in Lemberg bald in Wien landete, später zwischen Berlin, Wien und Paris pendelte, als Korrespondent in vielen europäischen Ländern unterwegs war und Ende Januar 1933 ins französische Exil ging, erlebte die Zerstörung des Friedhofs in seiner Geburtsstadt nicht mehr.

Auch den Beginn des Zweiten Weltkriegs erlebte Roth nicht und starb, finanziell und gesundheitlich am Ende, im Mai 1939 in Paris. Seine Welt lag zu diesem Zeitpunkt genauso in Trümmern, wie die seines Freundes Stefan Zweig, der sich kaum drei Jahre später im brasilianischen Petrópolis das Leben nahm.

Die Nazis hatten den Friedhof in Brody geschändet und zerstört, die traurigen Reste waren aber noch da, als die Sowjets beschlossen, ihn komplett plattzumachen und auf dem Gelände ein Stadion zu errichten. Eigentlich war es kein Einzelfall. Ein ähnliches Schicksal hatte jüdische Friedhöfe auch in anderen galizischen Städten ereilt. Überall wurden sie von den Deutschen größtenteils schwer beschädigt hinterlassen. Überall haben die Sowjets die Friedhöfe plattgemacht und die Erinnerung ausradiert. Nur der neue Verwendungszweck variierte: In Iwano-Frankiwsk entstand auf dem Gelände eine kleine Parkanlage mit Fahrgeschäften und einem Teich, in Lemberg – ein großer Markt. In Brody war es eben ein Stadion.

Als ich mich zufällig in den Nullerjahren in diesem Stadion einfand, erlebte ich die Szene am Anfang des Textes. Irgendwann ertönte die Nationalhymne. Aber es gab kein Fußballspiel an diesem Tag, dem 1. September 2009. Es waren genau siebzig Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges. Allerdings war es auch keine Gedenkfeier. Das Gymnasium in Brody feierte den Schulanfang. An der Seitenlinie am Spielfeld standen Erstklässler mit fröhlichen und unbekümmerten Gesichtern. Wahrscheinlich wusste kaum jemand, welche Geheimnisse der Rasen verbarg. Man hat darüber viel zu lange nicht gesprochen.

Lemberg, den 9. September, abends

Ich war mehrmals in Brody. Noch öfter bin ich an Brody vorbeigefahren – die Landesstraße von Lemberg nach Kiew führt zwar nicht direkt über Brody, verläuft aber in der Nähe von diesem heute wie früher recht verschlafenen Städtchen. Selbst Züge, die über die Nordroute die galizische Metropole mit der ukrainischen Hauptstadt verbinden, fahren über Brody. Also musste mir aus meinem früheren Leben zumindest der dortige Bahnhof in Erinnerung geblieben sein. Ist er aber nicht. Für mich war Brody lange Zeit nur ein Punkt auf der Landkarte, ein Ort, an dem man vorbeifährt. Über Joseph Roth wussten wir damals nichts. Weder in der Schule noch an der Uni hat uns jemand von diesem genialen Schriftsteller erzählt, der dort 1894 geboren wurde.

Brody ist vor allem wegen drei historischen Tatsachen bekannt. Seit Jahrhunderten war das Städtchen als Eigentum polnischer Magnaten mehrheitlich von jüdischer Bevölkerung besiedelt. Auch wenn ihr Anteil in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei rund 80 Prozent lag, und vor dem Ersten Weltkrieg immer noch zwei Drittel der Stadtbewohner jüdisch waren, ist dies kein Alleinstellungsmerkmal für Brody. Viele Städte in Galizien waren jüdisch geprägt.

Seit Ende des 18. Jahrhunderts war Brody eine Grenz- und Garnisonstadt – die letzte auf dem Gebiet der Habsburger Monarchie vor der Grenze zum Russischen Reich. Eine Zeit lang war es – damals eine Freihandelszone – sogar der wichtigste Umschlagplatz für die Kolonialwaren, die über Russland nach Österreich gelangten. Und wie es oft bei den Grenzstädten so ist – ein Schmugglerparadies. Auch hier gab es also Konkurrenz.

Ich kann mich erinnern, wie wir einmal in der Gegend nach der alten österreichisch-russischen Grenze gesucht haben. Niemand konnte uns dabei wirklich helfen. Alle wussten ungefähr Bescheid, aber keiner so richtig. An einer Tankstelle in der Nähe riet man uns, am aufgegebenen Imbiss zu suchen. Die Bude sollte genau an der alten Grenze stehen. Man sah dem Häuschen an, dass die Eigentümer es seit Jahren verlassen hatten. Die österreichisch-russische Grenze war offenbar kein kulturelles Highlight für Lkw-Fahrer. Vielleicht war aber nur das Essen im Imbiss nicht gut genug. Wir liefen noch ein wenig im benachbarten Wäldchen hin und her, stießen auf einen großen Stein, auf dem wohl früher etwas drauf gestanden hatte. Entziffern konnte man die Inschrift nicht mehr, und dass es ein alter Grenzstein hätte sein können, war ziemlich unwahrscheinlich. Wir fuhren zurück nach Hause.

Und da bleibt aber noch Joseph Roth, der berühmteste Sohn der Stadt. Vor allem seinetwegen pilgern die Kulturtouristen aus dem deutschsprachigen Raum nach Brody. Und wohl wegen des alten und womöglich größten erhaltenen jüdischen Friedhofs in Osteuropa, der in Stadtnähe liegt. Auf den ersten Blick erinnert nicht viel an Joseph Roth in Brody: das ehemalige Kronprinz-Rudolf-Gymnasium, das heute immer noch als Gymnasium fungiert. Eine Büste des Schriftstellers vor dem gelb gestrichenen und renovierten Schulgebäude. Ein kleines Museum darin, eigentlich ein winziges Zimmerchen. Einige Häuser in der ehemaligen Goldgasse, die bis heute auf Ukrainisch ihren jahrhundertealten Namen beibehalten hat. Die Ruine der Großen Synagoge. Und einige Figuren, denen man manchmal auf den Straßen des Städtchens begegnet, und die so aussehen, als wären sie direkt den Romanen des berühmten Österreichers entsprungen.

Ein Denkmal vor dem Gymnasium von Brody erinnert an Joseph Roth und vier andere ukrainische Persönlichkeiten
Ein Denkmal vor dem Gymnasium von Brody erinnert an Joseph Roth und vier andere ukrainische Persönlichkeiten
Quelle: Eddie Gerald/Alamy Stock Photo

Es ist vor allem die literarische Verschleierung der Stadt durch Joseph Roth, die Brody so interessant macht. Es sind die Häuser und die Viertel, die in seinen Romanen immer wieder vorkommen – ob in „Radetzkymarsch“, in „Die Kapuzinergruft“ oder in „Das falsche Gewicht“. Es sind seine Romanfiguren, die so traurig, verloren in der Zeit, oft deprimiert und deprimierend, aber immer lebendig erscheinen. Und es sind seine Beschreibungen, die uns heute noch faszinieren. Joseph Roth hat Brody oft beschrieben und die Stadt so gut wie nie bei ihrem richtigen Namen genannt. Manchmal gab er ihr irgendwelche Fantasienamen, anderswo gar keinen, wie in diesem Zitat aus seinem 1927 erschienenen Essay „Juden auf Wanderschaft“: „Die kleine Stadt liegt mitten im Flachland, von keinem Berg, von keinem Wald, keinem Fluss begrenzt. Sie läuft in die Ebene aus. Sie fängt mit kleinen Hütten an und hört mit ihnen auf. Die Häuser lösen die Hütten ab. Da beginnen die Straßen”. Ein zeitloses Bild. So könnte man Brody auch heute noch beschreiben.

Lemberg, den 5. September, abends

Brandenburg ist schön. Das Land hat viel zu bieten – wunderbare Landschaften, herrliche Seen, sagenhafte Wälder, königliche Schlösser, prächtige Villen und Brücken für den Agentenaustausch. Auch der neue Flughafen mag schön sein. Ganz genau weiß ich es allerdings nicht, weil wir uns verfehlt haben. Der Flughafen hat es nicht geschafft, vor Corona zu öffnen; ich habe es nicht geschafft, nach dem Ausbruch der Pandemie nach Berlin zu kommen. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass ich dort lande, solange der Krieg dauert. Das ist allerdings Nebensache.

Auch viele Schulbücher in Brandenburg sind bestimmt ganz schön. Manche sind jedoch ganz schön problematisch. Wie die „Politische Bildung“ für die Sekundarstufe I, erschienen 2017 im Bamberger Verlag C. C. Buchner (Band 2 für die Jahrgangsstufen 9/10). Auf einer Karikatur im Abschnitt „Der Ukraine-Konflikt“ zerren Uncle Sam und ein Bär ein armes Mädchen im gelben T-Shirt und blauem Rock auseinander. Die Kleine hat zwei Zöpfe – als Zeichen von Unschuld und Naivität. Auf der Schulter des böse aussehenden Amerikaners sitzt ein grüner Papagei mit zwei Buchstaben auf der Brust: EU. Der Bär sieht auch nicht gerade freundlich aus. Beide murmeln etwas über das Selbstbestimmungsrecht.

Diese absurde geopolitische Darstellung, in der einem Land und einem Volk das Recht auf eigene Entscheidungen aberkannt wird, ist aber noch halb so schlimm. Im Stil platter Klischees sollen die Schülerinnen und Schüler erfahren, dass die Ukraine ein gespaltenes Land ist und dass die Russisch sprechende Mehrheit im Osten pro-russisch ist, der Ukrainisch sprechende Westen dagegen pro-westlich. Beide Landesteile auf einer kleinen schematischen Karte sehen übrigens ungefähr gleich groß aus. Ökonomisch geht es um die „Angebote der rivalisierenden Wirtschaftsblöcke“. Im Jahr 2013 verlangt die Europäische Union für den Abschluss eines Assoziierungsabkommens „demokratische Fortschritte und Rechtsstaatlichkeit“. Die von Russland vorangetriebene Zollunion ist dagegen „nicht an politische Bedingungen geknüpft“. Es klingt so, als wären die Autoren überzeugt, dass Russland seinen Nachbarn immer und ewig wohlgesinnt war und niemals auf die Idee gekommen wäre, sie zu erpressen.

Und dann geht es selbstverständlich noch ums Gas. Eine Landkarte Europas zeigt die „Hauptgasleitungen“, viele davon führen über die Ukraine. Die Nord Stream ist darauf nicht eingezeichnet, obwohl der erste Strang schon vor 2013 in Betrieb war.

Auch nach dem Euromaidan wird es nicht besser. In der Chronik auf den nächsten Seiten wird die Annexion der Krim als „Aufstand auf der südukrainischen Halbinsel“ dargestellt, auch die russischen Marionetten in der Ostukraine werden als „Aufständische“ bezeichnet.

Mutter und Kind in Lemberg, Ende August
Mutter und Kind in Lemberg, Ende August
Quelle: AFP/YURIY DYACHYSHYN

Es ist nicht nur so, dass im Jahr 2022, nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, all diese Formulierungen surreal und bizarr anmuten. Es ist nicht nur grotesk, dass der Verlag es nicht geschafft hat, diese paar Seiten neu zu schreiben. Als das Schulbuch 2017 erschien, muss es sich genauso surreal, bizarr und grotesk angefühlt haben. Eigentlich hätte man ein solches Buch auch in Moskau herausgeben können – es passt wunderbar zum russischen Narrativ.

Es bleibt nur zu hoffen, dass die Teenager ihre Schulbücher weitgehend ignorieren und ihre Kenntnisse über die Welt nicht im Unterricht bekommen. Oder dass die Lehrerinnen und Lehrer dieses Buch nicht benutzen. Allerdings liest man auf der Webseite des Verlags: „geeignet für Berlin, Brandenburg“. Also gut. Keine weiteren Fragen. Oder doch nur diese eine: Gedenkt man etwa auch ukrainische Flüchtlingskinder nach diesem Schulbuch zu unterrichten?

Lemberg, den 1. September, nachmittags

Ende August beginnt die große Völkerwanderung. Die Sommerhitze ist vorüber. Familien kommen aus dem Urlaub zurück, Studierende schleppen schwere Taschen in ihre Wohnheime und Mietwohnungen. Überall sind Hektik und Rastlosigkeit zu spüren. Die Straßenbahnen bimmeln, die Autos hupen. Etwas Wundersames, ein Zauber liegt in der Luft. Es ist wie vor Weihnachten oder Silvester, nur dass diesmal keine Adventskalender, Geschenke und Sekt gekauft werden, sondern Schulranzen, Bleistifte und Hefte. Am letzten Sommertag explodieren die Preise für einen Blumenstrauß wie für eine Taxifahrt beim Sturzregen. Am nächsten Morgen steht die ganze Stadt im Stau. Der Kollaps hat einen Namen: Schulbeginn.

Der deutsch-spanische Journalist Juan Moreno hat einmal in einer Kolumne behauptet, dass Karl Marx nie auf die Idee gekommen wäre, den Kommunismus zu erfinden, wenn er im Zeitalter des Automobils gelebt hätte. Denn das oft extrem individualistische Verhalten der Autofahrer widerspreche grundsätzlich der Idee einer glücklichen Zukunft ohne Privateigentum. Ich vermute sogar, dass die Autofahrer beziehungsweise der unausrottbare Wunsch des Menschen, eine kleine „Mobilie“ auf vier Rädern zu besitzen, einen wesentlichen Beitrag zum Untergang aller Arbeiter-und-Bauern-Staaten dieser Welt geleistet haben.

Etwas Ähnliches wie über den Urvater der kommunistischen Ideologie könnte man auch über den Mann sagen, der lange Sommerferien für Schüler und einen einheitlichen Schulanfang am 1. September erfunden hat. Dass es eine Frau hätte sein können, ist im Hinblick auf die historische Epoche eher unwahrscheinlich. Schade eigentlich, denn so wäre die Regel womöglich etwas flexibler ausgefallen.

Als in den meisten europäischen Ländern im Laufe des 19. Jahrhunderts die allgemeine Schulpflicht eingeführt wurde, waren die langen Sommerferien eher als eine Notlösung gedacht. Sonst wären die Bauernkinder, die im Sommer den Eltern bei den landwirtschaftlichen Arbeiten helfen mussten, dem Unterricht ferngeblieben. In der Sowjetunion hat sich diese Tradition als äußerst lebendig erwiesen. Sie hat nicht nur Lenin und Stalin, sondern auch alle nachfolgenden Parteisekretäre und sogar den Zerfall des sowjetischen Imperiums überlebt.

Drei Monate Schulferien waren für junge Eltern ein Horror. Wohin mit dem Kind im Grundschulalter? Wer Verwandte auf dem Lande hatte, konnte das Mädel oder den Bub dorthin verfrachten. Ansonsten hatte man ein Problem. Damals wusste noch niemand, dass es Corona gibt. Manchmal halfen die Großeltern aus, wenn sie nicht mehr arbeiteten. Oft mussten der Papa und die Mama den Urlaub zeitversetzt nehmen. So konnte das Kind die Ferien einen Monat mit der Oma, den zweiten mit dem Vater und den dritten schließlich mit der Mutter genießen. Ansonsten gab es nicht viele Alternativen. Die Glücklicheren hatten ältere Geschwister. Die Unglücklicheren mussten ins Pionierlager. Oder umgekehrt. Dann sahen sich alle am 1. September in der Schule wieder.

In diesem Jahr ist es anders. Nicht alle Kinder werden wieder zusammenkommen. Hunderte sind von russischen Raketen getötet worden. Hunderttausende sind geflüchtet und in der Westukraine gelandet. Andere sind mit ihren Familien über ganz Europa verstreut. Manche Schulen sind zerbombt worden. In anderen ist der Präsenzunterricht aus Sicherheitsgründen gar nicht möglich. In den besetzten Gebieten fangen die Okkupanten indessen an, ukrainische Schulbücher zu beschlagnahmen und die „Putinsche“ Geschichte zu unterrichten. In Mariupol haben die Schulen am ersten Schultag gar nicht geöffnet. Sonst hätte man dort den Kindern eingebläut, dass es keine ukrainische Nation gibt.

Ein elfjähriger Junge vor einem zerstörten Gebäude in Kramatorsk, in dem er früher Training hatte.
Ein elfjähriger Junge vor einem zerstörten Gebäude in Kramatorsk, in dem er früher Training hatte.
Quelle: AP/David Goldman

Dass am 1. September nicht nur das Schuljahr beginnt, sondern auch der Zweite Weltkrieg angefangen hat, mag ein Zufall sein. Trotzdem begegnen sich beide Fakten immer wieder. Aber das ist eine neue Geschichte, die bei einer anderen Gelegenheit erzählt werden muss.

Lemberg, den 29. August, abends

Ihr Heimatdorf in der Nähe von Kiew hat sie ganz selten verlassen. Nach nur vier Klassen musste sie die Schule aufgeben. Möglicherweise war es wegen ihrer schweren Krankheit – Maria litt an Poliomyelitis. Für ein junges Mädchen auf dem Lande waren die Zeiten sowieso nicht gerade günstig. Zunächst der Erste Weltkrieg, dann der bolschewistische Umsturz in Russland, der in einen blutigen Bürgerkrieg ausartete. In der Ukraine, die gerade ihre Unabhängigkeit verkündet hatte, war es eine besonders brutale Erfahrung. Innerhalb von nur zwei Jahren wechselte die Macht in Kiew nicht weniger als fünfzehnmal, wie der britische Historiker Norman Davies schreibt.

Doch für Revolutionen interessierte sich Maria nicht, und schon bald entdeckte sie ihre Begeisterung für die Malerei. In den 1930er-Jahren kam die Parteiführung in Moskau auf die Idee, dass professionelle Künstler im Kommunismus überflüssig sein werden, weil jeder Mensch selbst Kunst schaffen wird. Plötzlich waren Naturtalente aus der tiefen Provinz in Mode. Es war ein Glücksfall für Maria, die einige Jahre an der neugegründeten Schule für Volkskünstler in Kiew studieren konnte.

Maria Prymatschenko (1908-1997) gilt als Ikone der ukrainischen naiven Kunst. Während der Weltausstellung in Paris im Jahr 1937 sollten ihre Bilder Pablo Picasso beeindruckt haben. Manchmal wird sie mit Henri Rousseau oder dem Georgier Niko Pirosmani verglichen. Aber ihre Bilder stehen nicht in der Tradition irgendeines anderen Künstlers – sie sind ganz einzigartig.

Ihre Traumwelt besteht aus Blumen, Tieren und Fabelwesen, die seit Generationen Kinder und Erwachsene faszinieren. Ein gelber Haifisch mit grünen Flossen trägt eine grüne Krone auf dem Kopf, eine dreiköpfige Schlange hat sieben Beine, eine Krabbe zwar richtigerweise zehn, jedes davon ist aber mit einem roten Vogelkopf statt Schere ausgestattet. Und auch dieser wirkt aus einer gewissen Entfernung wie eine Fantasieblume. Ihr Bestiarium ist voller Löwen und Tiger, Bären und Elefanten, Affen und Hasen, Kühe und Wölfe. Manche sehen nett und spaßig aus, andere bedrohlich und düster. Und alle werden von raum- und bildfüllenden Blumen umgeben. Als hätte die Künstlerin Angst vor Leere. Oder davor, dass ein Fabelwesen sonst aus dem Bild fliehen würde. Nur die böse aussehende Kuh, der Schlangen aus den Ohren wachsen und die den Atomkrieg symbolisiert, erscheint auf schwarzem Hintergrund ohne Blumen.

Menschen sieht man dagegen kaum auf Prymatschenkos Bildern, nur Tiere haben manchmal menschliche Gesichter. Die intensiven Farbkontraste – meistens arbeitete die Künstlerin mit Gouache – sind wie geschaffen für Kinderbücher, Zeichentrickfilme und Briefmarken.

„Verflucht sei dieser Atomkrieg!“ heißt dieses Gemälde von Maria Prymatschenko von 1978
„Verflucht sei dieser Atomkrieg!“ heißt dieses Gemälde von Maria Prymatschenko von 1978
Quelle: Marija Prymatschenko

Für ihre Bilder erfand Maria Prymatschenko Unterschriften, die manchmal wie Märchen, Sprichwörter oder kurze Erzählungen wirken. Und manche klingen heute hochaktuell. „Eine Turmkrähe fliegt herum, sucht nach seinem Mann, aber der ist nirgendwo zu finden. Sein Körper ist über die ganze Ukraine verstreut. Es werden Blumen wachsen, die Kinder werden sie pflücken und an die Gräber tragen. Und mein Grab ist in den Himmel aufgestiegen.“ Das gelbe Gefieder des Fantasievogels wird von blauen Blattornamenten geschmückt, die roten Kreise an den Stängeln erinnern an die Mohnblumen, und der runde Schwanz könnte einem Pfau gehören.

Maria Prymatschenko ist in diesem Krieg zu einer symbolischen Figur geworden. Ihr Heimatdorf Bolotnia wurde besetzt; ein kleines Museum in der Nachbarschaft, das einige ihrer Bilder zeigte, ist ausgebrannt. Zwei andere Bilder wurden für mehrere Hunderttausend Euro versteigert, die Erlöse an eine Kulturstiftung und an die ukrainische Armee gespendet.

Als vor wenigen Wochen in Lemberg eine große Prymatschenko-Ausstellung eröffnet wurde, standen die Besucher Schlange. Vor dem Krieg hätte es wahrscheinlich keine Schlange gegeben. Zumindest keine so große: Damals haben nicht so viele Menschen die Kunst als Therapie benötigt.

Lemberg, den 25. August, abends

Der Mensch braucht Symbole, an denen er sich festklammern kann. So funktioniert das menschliche Hirn, das permanent nach Ankern sucht. Symbole helfen, die eigenen Gedanken oder das gesellschaftliche Zusammenleben zu organisieren. Nationalflaggen, Landeshymnen und Briefmarken gehören längst zu unabdingbaren Attributen jeder Nation.

Nicht selten treten Symbole in Form von Zahlen auf, insbesondere wenn damit ein Datum gebildet wird. Wir begehen Nationalfeiertage und Gründungstage, erinnern an den Anfang und das Ende der Kriege, an Geburts- und Todestage von bekannten Persönlichkeiten, feiern Firmenjubiläen und Familienfeste. Dabei hat der Begriff „Jubiläum“ schon längst eine höchst inflationäre Entwicklung durchgemacht. Als 1300 Papst Bonifatius VIII. zum ersten Mal ein annus jubilaeus, also ein „Jubeljahr“ ausrief und allen Pilgern, die nach Rom kamen, einen vollständigen Ablass gewährte, sollte das nächste erst in hundert Jahren kommen. Doch bald wurde die Wartezeit auf fünfzig Jahre verringert, noch wenig später auf dreiunddreißig und am Ende des 15. Jahrhunderts waren es nur noch fünfundzwanzig.

Heute feiert man ein Jubiläum bei jeder mehr oder weniger runden Zahl – es reicht, wenn am Ende eine Fünf oder eine Null steht. Das gilt selbst für Hochzeitstage, auch wenn für einige davon besondere Begriffe wie „goldene“ oder „diamantene“ Hochzeit verwendet werden.

In vielen Religionen der Welt spielt die Zahlensymbolik eine große Bedeutung. Es sei hier nur an die Dreifaltigkeit, die sieben Tage der Schöpfung oder die zwölf Apostel im Christentum, an die 99 Namen von Allah im Islam oder an die acht Arme von Vishnu erinnert. Für Fußballfans ist das magische Symbol die Zahl elf, in der sich nicht nur eine Mannschaft auf dem Spielfeld manifestiert, sondern auch der Punkt, von dem das oft spielentscheidende Tor geschossen wird.

In anderen Fällen wie bei den Glücks- und Unglückszahlen handelt es sich um kulturell bedingten Aberglauben. Viele Airlines haben in ihren Flugzeugen keine Sitzreihe mit der Nummer 13. In Israel gilt sie dagegen als Glückszahl. Die Chinesen meiden die Vier, weil ihre Aussprache an das Wort „sterben“ erinnert. In Thailand bringt die Neun Glück, in Japan steht die Zahl für den Tod.

Auf der privaten Ebene funktioniert es nicht anders. Wer hat sich schon nicht vorgenommen, im neuen Jahr ein besserer Mensch zu werden, ab dem nächsten Monat mit dem Rauchen aufzuhören oder vom nächsten Montag an auf Alkohol zu verzichten? Und später immer wieder neu versucht, um besser zu scheitern?

Dieser Aberglaube liegt in der Natur des Menschen und ist meistens total harmlos. Gefährlich wird er nur, wenn er bei Sadisten oder Psychopathen zu einer obsessiven Fiktion wird. Oder wenn ihn manche Staaten und Diktatoren für ihre Geschichtssymbolik instrumentalisieren. So kostete im November 1943 die Befreiung Kiews durch die sowjetischen Truppen hunderttausenden von Rotarmisten das Leben, weil Stalin die Stadt unbedingt zum Jahrestag der Oktoberrevolution einnehmen wollte.

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Das gesamte Sowjetleben war von einem absurden Datumsfetischismus gekennzeichnet. Ständig musste man zu diversen Jahrestagen irgendwelche Pläne erfüllen und übererfüllen. Die meisten Zahlen führten allerdings schon längst ein Eigenleben und existierten nur noch auf dem Papier. Trotzdem musste sich jeder an diesem Ritual der Augenwischerei beteiligen. Was am Ende offenbar niemanden ernsthaft störte.

In anderen Fällen ging es darum, die Erinnerung der eroberten Völker auszulöschen. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt marschierten die sowjetischen Truppen im September 1939 in Lemberg ein. Die Besatzer benannten bald die „Trzeciego Maja“ (3.-Mai-Straße), die so zu Ehren der polnischen Verfassung von 1791 hieß, in die 17.-September-Straße um – nach dem Tag ihres Einmarsches in Galizien. Dabei ging es den Sowjets darum, auf besonders perfide Weise zu verdeutlichen, dass es keinen polnischen Staat mehr gab.

Eine Drohne trägt eine große Nationalflagge vor das ukrainische Mutterland-Denkmal in Kiew
Zum Unabhängigkeitstag: Eine Drohne trägt eine große Nationalflagge vor das ukrainische Mutterland-Denkmal in Kiew
Quelle: Evgeniy Maloletka/AP/dpa

Es stand seit langem fest, dass sich Russland zum ukrainischen Unabhängigkeitstag etwas besonders Niederträchtiges einfallen lassen würde. So kam es auch. Den ganzen Tag heulten im ganzen Land Sirenen, in Saporizhzha insgesamt vierzehn Stunden lang, in Dnipro dreizehn, in Charkiw elf. Meistens imitierten russische Flugzeuge Raketenangriffe. Fast zweihundertmal.

Leider nicht immer. Die Tagesbilanz: fünfundzwanzig tote Zivilisten beim Raketenangriff auf eine Eisenbahnstation in der Nähe von Dnipro, darunter zwei Kinder. Und 31 Verletzte, ausgerechnet am 31. Unabhängigkeitstag. Einige werden darin eine Zahlensymbolik entdecken. Für andere hat damit nur der siebte Kriegsmonat angefangen.

Lemberg, den 22. August, nachmittags

In einer Radiosendung beschwert sich ein russischer Korrespondent über die Weigerung der Ukrainer, mit der neu installierten Verwaltung im ukrainischen Süden zu kooperieren. Am Anfang habe die Bevölkerung alles total sabotiert. Beispielsweise habe der Direktor eines städtischen Betriebs irgendwelche elektronische Steuergeräte kaputt gemacht. Ersatz dafür gebe es keinen.

Der Moderator will seinem Kollegen gar nicht länger zuhören. Er klinkt sich mit einer Zwischenfrage in den Bericht ein. Ob der Mann erschossen worden sei, will er wissen. Nein, er sei geflüchtet, lautet die Antwort. Das ist schade, sagt der Moderator. Und was ist mit den Angehörigen? Konnte man zumindest die Angehörigen fassen? Am anderen Ende der Leitung herrscht Stille. Es sieht nicht nach einer technischen Störung aus. Vielmehr scheint es, dass die Frage nach der Geiselnahme der Familienmitglieder selbst den Kollegen am Telefon zumindest für einen Augenblick sprachlos gemacht hat. Dabei ist dieser selbst ein hasserfüllter Propagandist mit Verbindungen in die russische Neonazi-Szene und hat mehrmals zur Bombardierung der ukrainischen Städte aufgerufen, wie der ukrainische Journalist und Blogger Denys Kasanskyj auf seinem YouTube-Kanal kommentiert.

Als der Moderator schließlich erfährt, dass man es nicht mehr geschafft hat, kann man ein richtiges Bedauern in seiner Stimme hören. Das Schlimmste sei aber, plaudert der Korrespondent munter weiter, dass die Hälfte der ukrainischen Lehrkräfte sich geweigert hat, im neuen Schuljahr, das am 1. September beginnt, zur Arbeit zu gehen. Sie wollen stattdessen den Kindern im Internet ukrainische Sprache und Geschichte unterrichten. Sowohl über die Sprache als auch über die Geschichte macht der Mann selbstverständlich abschätzige Bemerkungen. Er ist nur unschlüssig, ob man die Lehrerinnen und Lehrer dafür nicht doch umbringen sollte. Nun gibt sich der Moderator großzügig. Nein, töten sollte man sie nicht, man müsste sich aber etwas einfallen lassen. Zum Beispiel, den Lehrern ihre Geldkarten abnehmen und sie dazu zwingen, das Plastik zu fressen. Oder die Menschen aus ihren Wohnungen zu werfen. Irgendwas im Sinne unseres guten alten Gulag, meint der Mann im Studio. Sie wollen einen Gulag? Dann bekommen sie einen! Er schwärmt von einem kleinen lokalen Gulag unter der sengenden Sonne in der Steppe – „für ukrainische Lehrer, die es noch nicht gelernt haben, unsere wunderschöne Heimat zu lieben“.

Zerstörte Gebäude in Kostjantyniwka im Gebiet Donezk.
Zerstörte Gebäude in Kostjantyniwka im Gebiet Donezk.
Quelle: Nariman El-Mofty/AP/dpa

Es fällt nicht leicht, ein passendes Wort zur Beschreibung dieses Dialogs zu finden. Abscheulich? Ekelhaft? Widerwärtig? Hasserfüllt? Oder ist jede Bezeichnung zu schwach, weil ein solcher Wortwechsel unbeschreiblich ist? Es ist der Abgrund. Ein noch tieferer Fall ist nicht mehr möglich.

Es war kein marginaler Radiosender in irgendeiner tiefen russischen Provinz. Es war kein staatlicher Propagandasender, wo die Moderatoren ihren Hass auf das Publikum täglich ausspucken. Es war eine Morgensendung im Radio von Komsomolskaja Prawda, einer privaten Holding, die eine der auflagenstärksten russischen Zeitungen herausgibt.

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Das alles wundert längst nicht mehr. Es sei denn, man ist immer noch davon überzeugt, dass es allein Putins Krieg ist. Es wäre nur interessant zu wissen, wann die beiden Gesprächspartner zuletzt als Touristen ein europäisches Land besucht haben. Und ob sie weiterhin im Besitz eines EU-Touristenvisums sind.

Lemberg, den 18. August, nachmittags

Mitte August laufen bereits die hektischen Vorbereitungen auf das neue Schuljahr. In diesem Jahr laufen vor allem heftige Diskussionen darüber. Die Hauptfrage: Präsenz- oder Online-Unterricht? Die Corona-Pandemie und der Krieg haben inzwischen bei allen zu einer gewissen Online-Müdigkeit geführt. Allerdings weiß niemand, wie sicher die Kinder in den Schulen sein werden. Manch einem Philosophen könnte hier gleich „Schrödingers Katze“ vorschweben. Tatsächlich kann in einigen Städten und Regionen, die täglich unter Beschuss stehen, von Präsenzunterricht keine Rede sein. In anderen wäre er vielleicht denkbar. Zumindest theoretisch. Doch Praxis und Theorie sind zwei verschiedene Stiefel.

Ein Schutzbunker ist ein absolutes Muss. Und zwar ein renovierter und ordentlich eingerichteter Raum mit Wasser- und Kanalisationsanschluss, guter Beleuchtung und drahtlosem Internet. So lauten die Mindestanforderungen des Bildungsministeriums. Und es dürfen nur so viele Schüler im Unterricht sein, dass sie beim Luftalarm in den Bunker hineinpassen. Es ist logisch und verständlich. Und es ist das Ende des Traums vom Präsenzunterricht. Denn es ist klar, dass alle Schüler niemals in einen Schulkeller hineinpassen, selbst wenn die Schule einen hat.

Immerhin verfügen die Gebäude aus vorsowjetischer Zeit meist über tiefe Kellerräume, die ausreichend Schutz bieten könnten. Bei den neueren Schulen ist es in der Regel nicht der Fall. Sie müssten dann die städtischen Schutzbunker nutzen. Vorgeschrieben ist, dass diese maximal 100 Meter vom Schulgebäude entfernt sein dürfen. Wieder einmal Ende der Veranstaltung.

Die Liste der Anforderungen ist lang. Die Beamten produzieren gerne lange Listen. Manchmal ergibt es womöglich Sinn. Meistens sieht die Realität anders aus. Und der Krieg kann einem sowieso jeden Augenblick einen Strich durch die Rechnung machen.
Der wichtigste Punkt ist, dass die Eltern dem Präsenzunterricht zustimmen müssen. Ja, er wäre besonders für die Erstklässler wichtig. Aber die Eltern müssen von den Schutzräumen überzeugt sein. Das Bildungsministerium setzt sich massiv für den Präsenzunterricht ein. Der Bildungsbeauftragte der Regierung hat Zweifel. Es werden Umfragen veröffentlicht. Die Resultate fallen erwartungsgemäß unterschiedlich aus. Die Zahlen erinnern an eine Durchschnittstemperatur in einem Krankenhaus. Eine bekannte Lehrerin sagte mir, ihre Schule wird die Entscheidung am 31. August treffen, einen Tag vor dem Schulbeginn. Das dürfte die Eltern nicht begeistern.

Ich ironisiere nicht. Es ist wirklich eine äußerst schwierige Entscheidung für alle in einer Situation, wo ein russischer Raketenangriff überall und jederzeit möglich ist. In einer Situation, wo es unter Umständen um Leben oder Tod gehen kann. Was für eine absurde Welt, in der unsere Kinder nicht mal normal in die Schule gehen können. Sie werden diese Zeiten auf jeden Fall nicht so schnell vergessen. Russische Raketen und zerstörte Häuser malen sie schon seit Monaten.

Also bleibt nur noch Humor. Offenbar hilft er in vielen schwierigen Lebenssituationen. Einem Gag zufolge, der mittlerweile in den sozialen Netzwerken kursiert, könnte eine mögliche Kurzanweisung für Lehrer beim Luftalarm während des Unterrichts so lauten: 1. Das Fenster aufmachen; 2. Eine Stinger-Flugabwehrrakete auf die Schulter nehmen; 3. Die feindliche Rakete abschießen; 4. Das Fenster schließen; 5. Den Unterricht fortsetzen.

Lemberg, den 15. August, abends

Die Zeit der Abibälle ist längst vorüber. Sie finden im Juni statt. In den normalen Zeiten bleiben davon schöne Erinnerungen und ein paar Graffiti an der Schulmauer oder auf dem Asphalt im Schulhof. In diesem Jahr wird es ein Video aus Charkiw sein. Ein Tanz auf dem Sportplatz mit den Ruinen einer Schule im Hintergrund. Alle Mädchen sind in Schwarz gekleidet. Die Jungen tragen schwarze Hosen und weiße Hemden. Es sind nur neun Jugendliche – sechs Mädels und drei Jungs. Weniger als ein Drittel der Schulklasse. Die anderen sind entweder ins Ausland oder in die westlichen Regionen des Landes geflüchtet.

Das Schulgebäude ist vollständig ausgebrannt, in den ersten Kriegstagen haben sich dort Soldaten einer russischen Spezialeinheit nach einem gescheiterten Vorstoß verschanzt. Es ist vielleicht das erste Schulgebäude, das Bekanntschaft mit der „russischen Welt“ gemacht hat. Nun steht es als eine gespenstische, verkohlte Ruine ohne Dach und Fenster da. Nur an einem schmalen Streifen leuchten die Farben Gelb und Weiß, als hätte jemand gerade diesen Teil neu gestrichen.

Vor den Gebäuderesten steht ein gepanzerter Mannschaftstransporter, daneben eine Gruppe ukrainischer Soldaten. Es sieht so aus, als würden sie die jungen Leute beschützen. Dabei sehen manche Kämpfer nicht viel älter als die Schüler aus. Der unheimliche Eindruck wird von einem rot umrahmten weißen Basketballbrett verstärkt. Es scheint völlig intakt zu sein, sogar das Netz am Korb ist unbeschädigt geblieben. Der gesamte Sportplatz sieht so aus, als könnte dort gleich ein Spiel stattfinden. Die weißen Markierungen auf dem Asphalt sind gut erkennbar. Eine asphaltierte Laufbahn. Ein paar Sportgeräte. Direkt nebenan ein Spielplatz für die Erstklässler. Alles bereit für die Schüler, die es hier nicht geben wird. Zumindest nicht bald. Die letzten tanzen nun einen Walzer.

Eigentlich heißt es nur so, weil bei den Abibällen immer ein Walzer getanzt wird. Diesmal ist es kein echter Walzer. Es ist ein Song von Jerry Heil, unter diesem Künstlernamen versteckt sich die ukrainische Sängerin und Videobloggerin Jana Schemajewa. „Sie können das Glück zerbomben, sie können den Traum erschießen, doch den Willen abzutöten, gelingt ihnen nicht“. Die zwei ukrainischen Wörter „Щастя“ und „Мрія“ klingen hier besonders symbolisch. Denn sie bedeuten nicht nur „Glück“ und „Traum“, sondern sind gleichzeitig Eigennamen. Schtschastja ist eine Stadt in der Region Luhansk, die stark umkämpft war und derzeit von russischen Truppen besetzt ist; „Mrija“ ist der Name der Antonow 225, des größten Transportflugzeugs der Welt, das in den ersten Tagen des russischen Überfalls auf ihrem Heimatflughafen in Hostomel in der Nähe von Kiew zerstört wurde.

Ein zerstörtes Wohngebäude in Charkiw
Ein zerstörtes Wohngebäude in Charkiw
Quelle: AP

Die Schüler gehen in das Schulgebäude hinein. „Es war ein Horror“, sagt ein Junge, der aus dem Fenster seiner Wohnung beobachtete, wie die Schule brannte. Die sechs Mädchen bilden einen kleinen Kreis. Dieselbe Musik, etwas unbeholfene Bewegungen. Vielleicht, weil sie vor der Kamera tanzen. Oder weil der Fußboden mit Steinen und Splittern bedeckt ist. Am Ende macht man noch ein Gruppenfoto mit den Soldaten. Es sind nur die Mädels, die sich zum Foto aufstellen. Schwarze Kleider, weiße Turnschuhe. Als Zeichen der Trauer und der Hoffnung zugleich.

Lemberg, den 12. August, nachmittags

Es ist eine sehr einfache Installation. Ein würfelähnliches metallenes Gerüst. Drei oder vier Würfel auf der Westseite des Marktplatzes, direkt am Rathaus. Schräg gegenüber ein immer gut besuchtes Bierlokal. Ein paar angezündete Kerzen. Weiße Blumen auf dem Kopfsteinpflaster. An dünnen Schnüren hängen dutzende Papierblätter. Es sind symbolische Universitätsdiplome, die nicht mehr ausgehändigt werden können. Ihre Empfänger sind tot, gefallen in den bald sechs Monaten seit dem russischen Überfall. Manche mit der Waffe in der Hand, andere durch russischen Raketenbeschuss.

Einige werden namentlich genannt, für andere wurden „Sammeldiplome“ ausgestellt. Studenten, die beim Einschlag einer russischen Rakete im Einkaufszentrum von Krementschuk getötet wurden. Studierende, die beim Beschuss in Sewerodonezk ums Leben gekommen sind. Junge Leute aus Charkiw, Tschernihiw, Mariupol, Berdjansk, Mykolajiw, Butscha, Winnyzja, Riwne, Lwiw. … Die gesamte Geografie des Landes. Ein Panorama ukrainischer Hochschulen.

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Es gibt Statistiken über getötete Kinder. Die neuesten offiziellen Zahlen: 361 Tote. Ich habe keine Statistiken über getötete Studierenden gefunden. Keine Zahlen über verschollene Studentinnen und Studenten. Keine Informationen über zukünftige Bachelors und Magister, die gefangengenommen wurden. Über Jungen und Mädchen, die in den besetzten Gebieten geblieben sind und ihr Studium nicht fortsetzen können. Man kann nicht zu allen Gruppen und Untergruppen Statistiken führen. Vielleicht wird später jemand den gefallenen Studenten ein Gedicht widmen. Ein Buch schreiben. Eine Doktorarbeit. Heute, am internationalen Jugendtag, ist es nur eine kleine Aktion Lemberger Studenten.

Ein Raketenkrater in der Nähe einer zerstörten Schule in Charkiw
Ein Raketenkrater in der Nähe einer zerstörten Schule in Charkiw
Quelle: AFP

Dunkle Wolken ziehen auf, gleich wird es regnen. Das Wasser wird das Gedruckte auflösen und das Papier zerstören. Genauso wie der Krieg unsere Träume zerstört. Allerdings gibt es mit diesem Vergleich ein Problem: Er klingt viel zu sentimental.

Lemberg, den 9. August, abends

Vielleicht ist es manchmal schwierig, zwischen Täter und Opfer zu unterscheiden. In der Regel aber nicht. Es war nicht etwa die malaysische MH17-Maschine, welche die russischen Stellungen angegriffen hat, sondern umgekehrt: Sie wurde von einer russischen Rakete abgeschossen. Und übrigens war es von Anfang an klar, dass es eine russische Rakete war. Für dieses Verbrechen – genauso wie für den Einmarsch in Georgien im August 2008 oder für die Annexion der Krim und den angezettelten Krieg im Donbas – wurde Moskau nicht wirklich zur Verantwortung gezogen. Jedes Mal hat eine schwache Reaktion neue Verbrechen provoziert. Es ist erstaunlich, mit welcher Regelmäßigkeit sich dieses Muster wiederholt.

Mit dem Massenmord im Lager in Oleniwka, wo über fünfzig ukrainische Gefangene getötet und mehr als siebzig verwundet wurden (wie viele es sind, weiß man nicht wirklich, man kann ja die Angaben nicht verifizieren), wird es nicht anders sein. Auch hier war es sogleich klar, dass nicht die Ukrainer HIMARS-Raketen auf das Lager abgeschossen haben, wie die russische Seite behauptet. Mittlerweile gibt es immer mehr Beweise dafür, dass im Gebäude vorsätzlich eine Explosion herbeigeführt wurde. Auch hier wird sich die russische Version, es handle sich um einen ukrainischen Angriff, als glatte Lüge erweisen.

Kann jemand überhaupt ein Beispiel nennen für eine Darstellung Moskaus, die korrekt gewesen wäre und nicht nur als Täuschungsmanöver gedacht? Inzwischen ist es eigentlich irrelevant, was Russland behauptet. Es sei denn, man kann aus der Behauptung das Gegenteil schlussfolgern. Moskau hat das Orwellsche Neusprech zum neuen Standard der Kommunikation erhoben. Der Satz „Russland behauptet, dass …“ muss man eigentlich als „Russland lügt, dass …“ lesen. Es wäre nicht verkehrt, die vom Verbrecherregime in Moskau produzierten Versionen auf diese Weise einzuleiten. Dass dies ein wirksamer Schutz gegen die Propaganda sein könnte, habe ich bereits vor einigen Monaten geschrieben.

Es geht also um Glaubwürdigkeit. Auch bei den internationalen Organisationen geht es genau darum. Sowie um eine klare und scharfe Reaktion. Das Fehlen einer Reaktion bedeutet, dass man seine Glaubwürdigkeit verspielt. Umso mehr, als man gleichzeitig einen höchst umstrittenen Bericht veröffentlicht. Wie dies zuletzt die Amnesty International gemacht hat.

Auf der Website von Amnesty habe ich keine Meldung über den Massenmord in Oleniwka gefunden. Ich habe es sogar mit der Suchfunktion probiert. Der Computer spukte eine einzige Meldung vom 17. Mai aus, in der darauf hingewiesen wurde, dass „die Rechte der ukrainischen Kriegsgefangenen von Asowstal respektiert werden müssen“. Das klingt heute wie Hohn.

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Als letzte Meldung steht heute auf der Amnesty-Webseite immer noch ein Bericht vom 4. August darüber, dass die Taktik der ukrainischen Armee Zivilisten in Gefahr bringe. Selten hat ein Bericht einer internationalen Organisation so viel Empörung ausgelöst. Amnesty beschuldigt die ukrainischen Streitkräfte, dass sie in einigen Fällen ihre Positionen in der Nähe von Wohngebieten oder in öffentlichen Einrichtungen bezogen und dabei die Zivilbevölkerung nicht zur Evakuierung aufgefordert haben. Zumindest sei Amnesty nichts darüber bekannt gewesen.

Irgendwie wird man den Eindruck nicht los, dass es eine pervertierte Logik ist. Als wäre nicht klar, dass es die russischen Invasoren sind, die ukrainische Zivilbevölkerung in Gefahr bringen. Seit Monaten rufen die Regierung in Kiew und die regionalen Verwaltungen die Bewohner auf, umkämpfte Gebiete zu verlassen. Seit Monaten riskieren freiwillige Helfer ihr Leben, um Menschen zu evakuieren. Das dürfte doch auch Amnesty International bekannt gewesen sein.

Noch realitätsferner sind die implizierten Empfehlungen an die Soldaten, aus Feldern oder aus Wäldern zurückzuschießen. Als hätten die ukrainischen Streitkräfte die Wahl, wo sie ihre Verteidigungspositionen beziehen, wenn die russische Armee eine Stadt angreift.

Es werden einige Zeugenaussagen aus verschiedenen Regionen angeführt. Wie viele Menschen befragt worden sind und wie genau die Recherchen ausgesehen haben, ist nicht klar. Es ist zudem bekannt geworden, dass einige Zeugen in russischen Filtrationslagern oder in Gefängnissen interviewt worden sind, wo sie offenbar unter Druck gestanden haben. Solche Aussagen dürfen generell nicht verwertet werden, betonen die Experten. (Anmerkung der Redaktion: Amnesty International hat in einer Stellungnahme vom 10. August bestritten, Interviews „in russischen Gefängnissen oder ‚Filtrationslagern‘ oder in von Russland kontrollierten Gebieten“ geführt zu haben. Entsprechende Behauptungen entbehrten jeder Grundlage: „Die Amnesty-Expert*innen haben alle Zeug*innen, deren Aussagen in Vorbereitung auf die Pressemitteilung verwendet wurden, in von der Ukraine kontrollierten Gebieten selbst befragt. Alle Zeug*innenaussagen wurden uns freiwillig und unter sicheren Bedingungen zur Verfügung gestellt.“ )

Der britische Anwalt Wayne Jordash attestiert dem Bericht gravierende Mängel: „Die AI-Methodik berücksichtigt kaum den für jede vernünftige Sichtweise wichtigen militärischen oder humanitären Kontext.“ Für ihn sind die Schlussfolgerungen von AI „Anekdoten und Spekulationen unter dem Deckmantel realer Fakten und Verstöße.“ Die britische „Times“ geht noch weiter und bezeichnet die AI als Putins Propagandisten.

Es ist bemerkenswert, dass der Bericht gegen den Widerstand der ukrainischen Amnesty International durchgesetzt wurde: Sie hat sich geweigert, daran mitzuarbeiten. Die Leiterin der ukrainischen AI trat nach der Veröffentlichung zurück und schrieb auf Facebook, dass alle ihre Bemühungen an einer „bürokratischen Mauer“ zerschellt sind.

Ein zerstörtes Gebäude in Toretsk. Ein russischer Angriff tötete hier an einer Bushaltestelle am 4. August acht Menschen.
Ein zerstörtes Gebäude in Toretsk. Ein russischer Angriff tötete hier an einer Bushaltestelle am 4. August acht Menschen.
Quelle: Bulent KILIC / AFP

Nun bedauert die AI den durch ihren Bericht verursachten Kummer und betont, dass sie die russischen Verbrechen nicht relativiere. Doch genau dies ist bereits passiert. Es ist kein Zufall, dass sich die russische Botschaft in London darüber gefreut hat. Es ist genau dieselbe Botschaft, die nach dem Massenmord in Oleniwka getwittert hat, dass die Soldaten des Asow-Regiments der ukrainischen Nationalgarde, die das Hüttenwerk Asowstal in Mariupol wochenlang verteidigt haben, einen demütigenden Tod durch den Strang verdienen.

Wie viele andere große internationale Organisationen ist Amnesty International zu einem bürokratischen Monster geworden. Doch die Weigerung, eine klare Linie zwischen dem Angreifer und dem Angegriffenen zu ziehen, hat andere Gründe als Zweifel und Bürokratie. Es ist genau das, was sich der Aggressor wünscht – eine Relativierung eigener Verbrechen, ein verschwommenes Bild, eine Grauzone, in der alles möglich erscheint.

Lemberg, den 5. August, abends

Ich bin dem Leser noch eine romantische Eisenbahngeschichte schuldig. Selbstverständlich kann nicht jede Reise auf ratternden Rädern als romantisch bezeichnet werden. Das gängige Klischee empfiehlt einen unendlich langen Streifzug durch eine weite osteuropäische Landschaft inklusive intimer Gespräche und ausgiebigem Alkoholkonsum. Der Zug muss langsam sein und immer wieder anhalten. Irgendwie verträgt sich die Romantik nicht mit der Geschwindigkeit. Ich habe noch nie gehört, dass eine Fahrt mit einem Shinkansen oder einem ICE als romantisch bezeichnet wurde.

Auch kommt es dabei nicht unbedingt auf die Dauer an. Ich erinnere mich immer wieder an die Geschichte, wie ein Freund von mir, um seiner Schwester irgendwo in Niedersachsen zum Geburtstag zu gratulieren, an einem Morgen am Hamburger Hauptbahnhof in den Zug einstieg. Er ahnte nicht, dass ihn an diesem Tag eine Irrfahrt durch die halbe Bundesrepublik erwartete – als Folge von unzähligen Umleitungen, Bauarbeiten-an-der-Strecke, Weichenstörungen, Bäumen-auf-den-Gleisen und sonstigen Naturkatastrophen. Als er sich am frühen Abend wieder in Hamburg einfand (immerhin an einem anderen Bahnhof), gab er schließlich auf. Für die Beschreibung dieser Reise verwendete er viele Wörter, aber das Wort „romantisch“ kam dabei nicht vor.

Eine Reise in einem alten Waggon, der von einer Dampflok gezogen wird, klingt schon eher nach Romantik. Sie ist aber in der Europäischen Union nicht mehr möglich. Zum Glück für die Dampfspezialisten gibt es auf dem Kontinent immer noch EU-freie Flecken. Eigentlich müssen alle Fans solcher Reisen zu den Gegnern der EU-Erweiterung zählen.

Wenn man schon mit einer Dampflok unterwegs ist, dann gehören auch Fotos und Videos dazu. Selbstverständlich reicht es nicht, ein paar Bilder aus dem Fenster oder an dem einen oder anderen Bahnhof zu schießen. Also findet man eine schöne Stelle an der Strecke, der Zug hält an, alle steigen aus, die Lok fährt zurück, verschwindet hinter einer Kurve, alle bringen sich mit ihren Kameras in Position. Dann ertönt ein langer Pfiff und die Lok fährt pfeifend an, den weißen Dampf in den blauen ukrainischen Himmel spukend.

Der Ablauf wiederholt sich mehrmals am Tag, vor einer leicht veränderten Naturkulisse als Hintergrund. Alle in unserem bunt zusammengewürfelten internationalen Trupp machten fleißig mit. Nur eine Gruppe von älteren Engländern nicht. Wie sich später herausstellte, hatten sie sich den Ausflug als eine romantische Städtereise vorgestellt. Auf jeden Fall wurde ihnen dieses Abenteuer von einem Reisebüro irgendwo auf den Britischen Inseln so empfohlen.

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Es war alles dabei. Liebevoll restaurierte alte sowjetische Dampfloks und DDR-Waggons, atemberaubende Panoramen in den Karpaten, wo die Österreicher vor über 150 Jahren die tiefen Täler zu überbrücken und die ersten Bergpässe zu erklimmen begannen. Die Schmalspurbahn irgendwo in der Zentralukraine, die einst für die zahlreichen Zuckerfabriken der Gegend als Zubringer gedient hatte und nach deren Schließung nur noch die Bauern aus den herumliegenden Dörfern einsammelte und in die nächstgelegene Kleinstadt fuhr. Die Männer und Frauen betrachteten uns wohl als die größte Attraktion des Jahres. Ein Bahnmuseum, von unermüdlichen Enthusiasten aufgebaut. Das Ostereimuseum in Kolomyja, einer Stadt in den Vorkarpaten, deren Namen bereits Leopold von Sacher-Masoch in „Don Juan von Kolomea“ verewigt hatte. Die 1866 veröffentlichte Novelle begründete übrigens den Ruhm des zu seinen Lebzeiten ziemlich populären Autors im deutschsprachigen Raum. Der Begriff „Masochismus“ kam erst später dazu.

Man könnte denken, dass zumindest diese Reise nichts mit dem Krieg zu tun hat. Weit verfehlt. Eine in der Nähe der Strecke abgeschossene russische Rakete. Ein zerstörter Bahn-Trafo. Ein Raketenangriff auf einen Tunnel. Überall sind die Narben verstreut. Sie werden lange nicht heilen. Fast wie bei den echten Romantikern.

Lemberg, den 3. August, abends

Die Menschen sehnen sich immer nach etwas Romantischem. Zumindest von Zeit zu Zeit. Ich meine damit nicht unbedingt die Kunst, die Literatur oder die Musik der Romantik, sondern viel banalere Dinge. Wer hat schon nicht von einer romantischen Hochzeit (zum Beispiel in einer mittelalterlichen Ritterburg), einem romantischen Urlaub (selbstverständlich in einem Inselparadies) oder einer romantischen Schiffsreise (über einen unendlichen Ozean bei leichter Brise) geträumt? Meistens begnügt man sich allerdings mit einem romantischen Sonnenuntergang. Man könnte fast meinen, es sei Geschmacksache. Na ja. Wenn es nicht ein großes Land gäbe, wo viele Bürger es besonders romantisch finden, unabhängige Nachbarstaaten zu überfallen und unschuldige Menschen umzubringen.

Sucht man nach einem Begriff, der besonders eng mit Romantik verknüpft ist, fällt einem vielleicht nicht sofort die ideale Antwort ein: die Eisenbahn. Sie ist nicht etwa besonders romantisch, weil man mit einem Zug zu den Flamingos reisen kann. Auch nicht, weil es im SWR eine Sendung gibt, die „Eisenbahn-Romantik“ heißt. (Früher konnte man im Nachtprogramm der ARD sogar die schönsten Bahnstrecken Deutschlands aus der Führerstand-Perspektive miterleben. Ungefähr gegen vier Uhr morgens als bildungsschwangere Alternative zum Schafezählen.) Und schon gar nicht wegen der Modelleisenbahnen, die über die faszinierende Eigenschaft verfügen, Kind und Mann zu verzaubern.

Nein, tatsächlich sind die ersten Eisenbahnstrecken historisch in der Zeit entstanden, als die Spätromantik in der Kultur zu ihrer Hochform auflief. Man könnte behaupten, dass die pechschwarze, dampf- und feuerspeiende Lok, dieser Beelzebub auf Schienen, eine Ausgeburt der romantischen Epoche und eine Inkarnation romantischer Fantasien war.

Zugleich aber hat die Eisenbahn die Fortbewegung der Menschen und den Warentransport revolutioniert. Sie hat den Aufmarsch von Truppen extrem beschleunigt und dadurch einen totalen Krieg erst möglich gemacht. Zum ersten Mal hat die Eisenbahn eine entscheidende Rolle bei der Schlacht von Sedan im Jahr 1870 gespielt. Da war die Epoche der Romantik längst vorüber.

Ein Junge in Zugbegleiteruniform wartet auf die Abfahrt der Kindereisenbahn, die ihren Betrieb auf der Bahnstrecke im Kiewer Syretskyi-Park wieder aufgenommen hat.
Ein Junge in Zugbegleiteruniform wartet auf die Abfahrt der Kindereisenbahn, die ihren Betrieb auf der Bahnstrecke im Kiewer Syretskyi-Park wieder aufgenommen hat.
Quelle: Natacha Pisarenko/AP/dpa

Auch heute ist es nicht anders. Russland versorgt seine Truppen in der Ukraine vor allem per Bahn. Für Panzer gibt es keine andere Möglichkeit aus Sibirien in den Donbass zu gelangen als über die Schiene. Zumindest, wenn es um viele Panzer geht. Also freut man sich immer, wenn im ukrainischen Süden die Partisanen einen russischen Zug mit Militärgerät und Munition in die Luft jagen oder wenn die ukrainische Artillerie eine Eisenbahnbrücke zerstört.

Worauf will ich damit eigentlich hinaus? Es ist ein ziemlich seltsames Gefühl. Egal, worüber man schreibt, man kommt nicht um den Krieg herum. Derzeit ist es einfach unmöglich, einen Text ohne Bezug zum Krieg zu schreiben. Als würde man im Schlaf das Wort „Liebe“ an die Tafel schreiben und beim Aufwachen entdecken, dass dort „Tod“ steht. Es ist schwer zu sagen, wann sich das ändert. In einem Monat? In einem Jahr? In einer Generation? Es gibt einfach keine Antwort darauf.

Lemberg, den 1. August, abends

Es gilt eine Faustregel: Je tiefer die Provinz, desto bizarrer die Namen. Nehmen wir zum Beispiel Hotels. Einmal habe ich in einem Haus namens „Flamingo“ übernachtet. Es war nicht etwa in Afrika oder in Südamerika. Es muss irgendwo in der Zentralukraine gewesen sein. Ich weiß gar nicht mehr, wie das Städtchen geheißen hat, aber das Neonschild mit dem exotischen Vogel, der sich irgendwie in dieses Kaff verirrt hatte, habe ich immer noch gut in Erinnerung. Es war im Oktober, und im Herbst können die Nächte in diesen Breiten schon recht unangenehm frisch sein. Vor allem in Hotels mit Fantasienamen in kleinen Provinznestern. So auch in diesem Fall. Unsere Herberge war ziemlich unwirtlich. Es lief kein warmes Wasser aus der Dusche. Die Heizung lief selbstverständlich auch nicht. Im Zimmer war es saukalt. Die Wände im Zimmer waren rosa. Draußen war das zwei- oder dreistöckige Gebäude auch rosa. Außer auf dem Neonschild habe ich keine Flamingos in der Gegend gesehen.

Hier sind wir an dem Punkt angelangt, wo die Geschichte verschiedene Fortsetzungen nehmen kann. Fast wie bei Jorge Luis Borges’ „Garten der Pfade, die sich verzweigen“. Oder in einem Kinderbuch, in dem man sich für unterschiedliche Varianten entscheiden kann. Wählt man die Variante A, soll man auf der Seite X weiterlesen. Bei der Variante B setzt sich die Story auf der Seite Y fort. Wenn einem das Ende der Geschichte nicht gefällt, weil die Hauptfigur zum Beispiel einen Schiffbruch erleidet, kann man neu anfangen und einen anderen Pfad nehmen. Bis man schließlich die Übersicht verloren hat. Fast wie beim Schach.

Die erste Geschichte, die ich hier erzählen könnte, handelt von Flamingos. Sie sind zwar nicht in diesem Städtchen, aber zuletzt doch regelmäßig im ukrainischen Süden gesichtet worden. Etwa am Tylihul-Liman zwischen Odessa und Mykolajiw. Vor einigen Jahren wurde sogar berichtet, dass einige Rosaflamingos am Sywaschsee in der Region Cherson genistet hatten. Dass die anmutigen Vögel in diesem Jahr dort erneut auftauchen, ist eher unwahrscheinlich. Jeder weiß, warum. Somit landet man wieder schnell beim Thema Krieg.

Es gibt sie nicht nur im Zoo von Mykolajiw: Flamingos.
Es gibt sie nicht nur im Zoo von Mykolajiw: Flamingos.
Quelle: pa/dpa/Le Pictorium Agency via ZUMA/Gilles Bader

Die andere Möglichkeit wäre, eine Eisenbahngeschichte zu erzählen. Doch wenn man heute über die Bahn nachdenkt, kommen einem vor allem Evakuierungszüge in den Sinn. Somit landet man schnell bei einem Psychotherapeuten. Eine schwierige Wahl also. Und trotzdem – auch wenn es auf den ersten Blick weniger romantisch klingen mag, ist mir eine Eisenbahngeschichte lieber. Dann also los.

Diese Story fängt zwar nicht im Hotel „Flamingo“ an, hat aber etwas damit zu tun. Denn echte Eisenbahnfans können solche Lappalien wie kaltes Wasser oder rosa Wände kaum aus der Fassung bringen. Sie konzentrieren sich immer auf das Wichtigste: auf die Eisenbahn. Das werde ich auch tun müssen. In der nächsten Folge.

Lemberg, den 30. Juli, abends

„Eigentlich kann jeder bei der Artillerie dienen“, sagt Jurij. Er war nur ein paar Tage in Lemberg, nach monatelangem Einsatz im Osten. Ihre Einheit wurde zur kurzen Erholung von der Front abgezogen. Wir wollten uns unbedingt treffen. Am Sonntag sollte er bereits wieder in einem Feldlager irgendwo in der Nähe von Kiew sein, wo sich seine Kameraden nach den schweren Kämpfen ausruhten. Als ich ihn gestern am frühen Morgen anrief, war er bereits dabei, die Sachen zu packen und das Bahnticket auszudrucken. Er wurde einen Tag früher zurückbeordert. Wir hatten Zeit, solange seine Waschmaschine lief.

In der Schule war Jurij ein gutmütiger Junge, kurzsichtig, ein bisschen chaotisch. Ein unabhängiger Geist. Etwas trotzig, er regte sich immer wieder auf. Reagierte sensibel auf jegliches Unrecht. Irgendwann schenkten ihm die Eltern eine Hobbykamera, die er nunmehr bei allen Klassenfahrten dabei hatte. Die Aufnahmen waren schwarz-weiß, grobkörnig, die Figuren bewegten sich ruckartig. Selbstverständlich gab es keinen Ton. Alles in allem erinnerten seine Chroniken an die Anfänge der Kinoindustrie. Inklusive ratternder Geräusche der Kamera. Er wäre der letzte Mann gewesen, dem man eine militärische Laufbahn zugedacht hätte. Seine Bewegungen waren etwas unkoordiniert, beim obligatorischen Marschieren im Wehrkundeunterricht fiel er immer wieder aus dem Schritt und konnte die Arme mit den Beinen schlecht synchronisieren. Kurzum, kein geeigneter Kandidat für Militärparaden.

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Nach unserer Schulzeit sahen wir uns ziemlich selten. Jurij studierte etwas Technisches an der TU. Elektrotechnik oder Wärmetechnik vielleicht, ich weiß es nicht genau. Vom Militärunterricht wurde er wegen seiner Sehschwäche befreit. Als Soldat war er für die Sowjetunion untauglich und galt nunmehr als nicht wehrpflichtig. Nachdem Russland 2014 den Krieg im Donbass angezettelt hatte, ließ sich Jurij an beiden Augen operieren und meldete sich freiwillig. Er unterschrieb einen Vertrag und landete bei der Artillerie. Bediente nunmehr eine Panzerhaubitze „Akazie“ sowjetischer Bauart. „Die Munition wiegt etwa 40 Kilo. Da musst du schon genug Körperkraft mitbringen, um die schweren Sprenggranaten zu stemmen. Sonst ist alles einfach“, sagt er am Telefon, während die Waschmaschine seine Uniform ausspült.

Nach paar Jahren verließ Jurij den Dienst und kehrte als Reservist zum zivilen Leben zurück. Am 24. Februar rissen ihn die russischen Raketen aus dem Schlaf. Bereits wenige Tage später war er wieder an der Front. Und wieder im Osten. Seine Einheit war bei Popasna und Bachmut im Einsatz, dort, wo einige der schwersten Kämpfe stattfanden. „Eigentlich ist es bei der Artillerie weniger gefährlich, wir sind doch mehrere Kilometer von der Frontlinie entfernt.“ Trotzdem gab es auch bei seiner Einheit Tote. Allerdings ist es kein Vergleich zur Infanterie. Vor dem Mut dieser Soldaten kann sich Jurij nur verneigen. „Leider konnten wir sie nicht immer gut genug unterstützen. Wir hatten kaum noch Munition.“ Manchmal feuerte ihre Haubitze nur fünf oder sechs Granaten am Tag. Normalerweise kann sie so viele Schüsse innerhalb einer Minute abgeben. Doch inzwischen sind die sowjetischen 152-mm-Geschosse rar geworden. In der Waschmaschine läuft bereits das Schleuderprogramm.

Erst in den letzten Wochen habe sich die Situation verbessert. Ob die nachgelieferte Munition aus Polen, Bulgarien oder einem anderen ehemaligen Ostblockstaat kam, war Jurij egal. Hauptsache, bei den früheren sowjetischen Satelliten gab es noch Altbestände auf Lager. Ganz ohne Brille kommt Jurij selbst nach der OP nicht aus. Wie alle Brillenträger hat er bei Nacht manchmal Orientierungsprobleme. „Es geht schon, es ist halt schwer, weil du die Taschenlampe nicht benutzen darfst.“ Nun ist die Waschmaschine fertig. Jurij hat keine Zeit mehr, wir müssen uns verabschieden. Wir haben es gestern nicht geschafft, ein Bier zusammen zu trinken. Wir werden es unbedingt nachholen. Nach dem Sieg.

Lemberg, den 27. Juli, abends

Derzeit berichten die Medien nur noch selten über Mariupol. Wenn überhaupt, dann sind es eher Geschichten von Menschen, denen die Flucht aus dem Inferno gelungen ist. Wie der Familie eines achtjährigen Jegor, der in seinem Tagebuch geschrieben hat: „Zwei Hunde, die Großmutter Galja und meine geliebte Stadt Mariupol sind tot.“ Darüber, wie es den Menschen in der fast vollständig zerstörten Stadt unter russischer Besatzung heute geht, erfährt man selten. Journalisten gibt es dort keine, die russischen Propagandamedien haben mit dem Journalismus genauso viel gemeinsam wie ein Meerschweinchen mit Meer. In den sozialen Netzwerken sind die Menschen extrem vorsichtig, um sich, ihre Angehörigen und ihre Freunde nicht zu gefährden. Kritik über die Lage kann man sich kaum erlauben. Die Namen tauchen selten auf. Trotzdem kann man manchmal ein Gefühl bekommen, wie das Leben in Mariupol aussieht.

Das zerstörte Asow-Stahlwerk
Das zerstörte Asow-Stahlwerk
Quelle: pa/dpa/TASS/Valentin Sprinchak

Nelli schreibt immer wieder Tweets über ihre Stadt, postet Fotos, manchmal auch kurze Videos. Die breiten, grünen Kronen der Bäume versperren den Blick auf die Häuserruinen. Manchmal füllt ein zerstörtes Hochhaus den ganzen Computerbildschirm. „Ich weiß nicht, wie dieses Syndrom heißt“, twittert sie heute. „Ich schäme mich, es laut zu sagen, aber wenn ich auf die zerstörten Häuser schaue, verspüre ich keine Emotionen. Überhaupt keine.“ Bei einem kleinen Spaziergang am Vortag sah sie einen gepanzerten Mannschaftstransportwagen voller Tschetschenen. Er fuhr Richtung Süden, oben wehte eine tschetschenische Flagge. Es muss eine unheimliche Begegnung gewesen sein.

In den ersten Tagen nach dem Kriegsbeginn twitterte Nelli zunächst regelmäßig, der letzte Tweet war vom 2. März. Es regnete in Mariupol, ein dichter Nebel lag über der Stadt. Auf dem Foto konnte man ukrainische Flagge erkennen. Dann war Nelli weg, für mehrere Monate. Erst Ende Juni meldete sie sich auf Twitter wieder: „Wir haben überlebt. Unsere Katze auch. Überlebt in der Hölle mit Blick auf Asow-Stahl“. „Hölle“ ist das Wort, das in ihren Tweets immer wieder vorkommt. Ihr Haus bebte, als russische Flugzeuge Angriffe auf das Hüttenwerk flogen. Monatelang. Nachdem die Bombardierungen aufgehört hatten, qualmte Asow-Stahl noch lange weiter. Erst am 19. Juli schrieb Nelli, dass es nicht mehr qualme.

Civilians form long queues for payouts in war-torn Mariupol as construction works continue
Eine Katze in Mariupol, Juli 2022
Quelle: pa/AA/Stringer

Auf einem Foto sieht die Stadt beim Sonnenuntergang fast idyllisch aus. Wenn man die zerstörten Häuser nicht sieht. Denn das Leben gebe es nur noch in einem Stadtteil – zwischen der Schule Nummer 65 und dem Taras-Park. Und bei den vielen Fotos, die Nelli twittert, fällt einem aufmerksamen Beobachter noch etwas auf. Man sieht keine Vögel darauf. Es wäre mir bestimmt nicht aufgefallen, wenn Nelli einmal nicht getwittert hätte: „Schickt uns weiße Tauben“. Denn es gibt keine weißen Tauben in Mariupol mehr. Es gibt überhaupt kaum noch Tauben in der Stadt. Die Vögel wurden gefangen und aufgegessen, als es gar nichts mehr zu essen gab. Der Grund, warum die weißen Tauben völlig ausgerottet wurden, ist übrigens ganz simpel. Nein, ihr Fleisch schmeckt nicht besser. Man kann sie halt im Dunkeln besser sehen.

Lemberg, den 25. Juli, abends

Sie waren jung, frech, ehrgeizig, voller Energie und bestens vernetzt. Manche wuchsen im Ausland oder in den großräumigen Wohnungen im Zentrum Moskaus auf. Es waren Kinder der sowjetischen Elite – der Parteifunktionäre, der Chefredakteure, der Diplomaten. Sie waren die goldene sowjetische Jugend. Das Journalistik-Studium an der Lomonossow-Universität, vor allem an deren internationalen Abteilung, eröffnete ihnen beste Karrierechancen. Die Perestroika-Zeit eröffnete ihnen nie dagewesene Möglichkeiten. Manche wollten tatsächlich die Welt verändern. Andere zumindest die Medien.

Eine Attrappe, die einen russischen Soldaten darstellt, in der Nähe der Frontlinie bei Charkiw
Eine Attrappe, die einen russischen Soldaten darstellt, in der Nähe der Frontlinie bei Charkiw
Quelle: dpa/Evgeniy Maloletka

Am Anfang waren viele erfolgreich. Sie kannten keine Tabuthemen. So ging es nicht sehr lange zu, bald kehrten die Tabus zurück und wurden immer mehr. Manche – wie Anna Politkowskaja – bezahlten ihre journalistische Courage mit dem Leben. Andere sahen mit an, wie ihr Glaube an Meinungsfreiheit schwand und unabhängige Medien in Russland mundtot gemacht wurden. Einige entschieden sich, das Land zu verlassen, andere blieben und verstummten. Oder machten mit. Es war die Tragödie einer ganzen Generation der Perestroika-Journalisten.

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Wladimir Jakowlew war einer von ihnen. Sein Vater Jegor, ein bekannter sowjetischer Journalist, arbeitete unter anderem für die auf Auslandspropaganda ausgerichtete Medien wie die Nachrichtenagentur APN oder die Zeitung „Moskowskije Nowosti“. Das Perestroika-Kind Wladimir war Mitbegründer und langjähriger Chefredakteur der Tageszeitung „Kommersant“, die er Ende der 1990er Jahre an Boris Beresowki verkaufte. Schließlich gelangten die Zeitung und der gleichnamige Verlag in die Hände des Kreml-nahen Oligarchen Alischer Usmanow. Jakowlew, der in den Nullerjahren noch die Zeitschrift „Snob“ gründete und wenig später aus dem Projekt ausstieg, wanderte schließlich nach Israel aus.

Heute erzählt Wladimir Jakowlew, der den russischen Überfall auf die Ukraine öffentlich als Kriegsverbrechen bezeichnet hat, viel von den Propagandatechniken, die der KGB den jungen Journalisten in den frühen 1980er Jahren eingebläut hat. Damals waren sie als Kriegspropaganda gemeint und wurden den Studierenden unter großer Geheimhaltung beigebracht. Heute sieht sich Russland im Krieg gegen die gesamte demokratische Welt und wendet diese Techniken offen und in immer größerem Ausmaß seit Jahren an. Vor allem gegen die eigene Bevölkerung.

Angriffe ohne Ende
Angriffe ohne Ende
Quelle: REUTERS

Einige Techniken der Desinformation sind laut Jakowlew besonders verbreitet. Bei der als „Fauler Fisch“ bezeichneten Methode werden zum Beispiel immer wieder schmutzige und absolut falsche Anschuldigungen gegen eine Person lanciert. Wenn sich die angegriffene Person dagegen wehrt, bleibt das Thema eine Zeit lang im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Die Medien berichten darüber, der „Gestank“ wird immer stärker.

Bei der Technik der „Großen Lüge“ wird eine Behauptung über etwas absolut Schreckliches oder Monströses aufgestellt. Die Idee dahinten: Je größer die Lüge, desto eher wird man sie glauben. Die Methode des „Offensichtlichen“ stützt sich auf verschiedene Meinungsumfragen, die beweisen sollen, dass es in der Bevölkerung zu einem bestimmten Thema eine klare Mehrheit gibt. Ob die Ergebnisse der jeweiligen Umfrage jeglichen Bezug zur Realität haben, ist dabei irrelevant. „Der unbekannte Held“ spielt dagegen mit nationalen Gefühlen - die eigene Armee, selbst wenn sie in ein fremdes Land einmarschiert, macht dies, um dieses Land und seine Bevölkerung zu „befreien“, nicht um es zu erobern. Es gibt eben keine Eroberungsarmeen.

Neulich hat Jakowlews erstes „Kind“, die Zeitung „Kommersant“, unter Berufung auf einen russischen Parlamentsausschuss über vermeintliche geheime Experimente an ukrainischen Soldaten berichtet. Die Blutproben hätten gezeigt, dass Ukrainer infolge dieser Experimente in „grausame Bestien“ verwandelt worden wären. Man muss nicht lange raten, welche Propagandatechnik dabei angewendet worden ist.

Lemberg, den 23. Juli, nachmittags

In unserem Viertel gibt es viele Hunde, auch wenn Lemberg keine Hundehauptstadt des Landes ist. Kleine Hunde, große Hunde. Langhaarige und kurzhaarige. Alte und junge. Rassige Hunde und Mischlinge. Herrenlose Hunde. Hunde an der Leine und frei laufende Hunde. Hunde auf der Straße und im Park. Sie alle haben eins gemeinsam. Die Straßenkatzen können sie nicht leiden und halten diese Tiere für total überflüssig. Selbst Plüschhunde in den Armen von fröhlichen oder traurigen Kleinkindern mögen sie nicht wirklich.
Ein Hund diszipliniert. Allein schon dadurch, dass man ihn morgens und abends ausführen muss. Im Regen und beim Glatteis. Das bringt Ordnung in ein Leben, das aus den Fugen zu geraten droht.

Alaskan Malamute
Plötzlich ist ein Alaskischer Malamute der neue Nachbar
Quelle: Getty Images/500px Plus/Sarah Arthur/500px

Es gibt unzählige Geschichten, wie ein Hund Menschenleben gerettet hat. Ich meine es hier nicht wörtlich, wie Hunde immer wieder Opfer in den Haustrümmern nach einem Erdbeben oder Verschüttete von einer Schneelawine aufspüren. Es geht eher darum, wie sie Menschen nach einer schweren Herz-OP oder nach dem Verlust von Liebsten helfen, wieder auf die Beine zu kommen. Bei Depressionszuständen raten die Ärzte, sich einen Hund anzuschaffen. Dann hat man keine Ruhe mehr. Man muss sich halt bewegen.

Man kann es auch anders formulieren: Ein disziplinierter Mensch braucht einen Hund. Damit er seine Diszipliniertheit weiter praktizieren und perfektionieren kann. Kein Wunder, dass Thomas Mann, der sich immer vormittags ab neun Uhr für drei Stunden dem Schreiben widmete, mehrere Hunde in seinem Leben hatte. Einem davon, dem Mischling namens Bauschan, hat er in seiner Erzählung „Herr und Hund“ sogar ein literarisches Denkmal gesetzt. Allerdings gibt es in der Weltliteratur auch viel bekanntere Hunde. Und viel größere. Wie der Hund von Baskerville.

King Arthur ist auch riesengroß, kommt aber nicht aus Dartmoor, sondern aus Charkiw. Seit einigen Wochen ist er unser Nachbar. Es ist ein ziemlich langer Name für einen Hund, selbst für einen riesengroßen und alten. Denn er ist etwa so alt wie ein Mensch mit siebzig. Womöglich wird er in seiner Familie - die Eltern haben eine etwa acht- oder neunjährige Tochter - nur als King oder als Arthur gerufen, wer weiß. Der schwarz-weiß-graue Alaskische Malamute ist ein Flüchtlingshund. Es ist schwer zu sagen, wen der ständige Beschuss Charkiws stärker traumatisiert hat – das kleine Mädchen oder den großen Hund. Die Familie ist nach Lemberg geflüchtet und hat sich in eine Wohnung im Haus schräg gegenüber eingemietet.

So viel Platz wie in Charkiw haben sie hier nicht. Dort nannten sie ein Einfamilienhaus ihr Eigen. Hier leben sie in einer engen Wohnung. Also kriegt King Arthur nur noch Hundefutter. In Charkiw hat er sich vom Fleisch ernährt. Als meine Frau vor paar Tagen die Dame fragte, ob ihr Haus in Charkiw noch ganz stünde, lautete die etwas resignierte Antwort: „Ja, gestern war es noch ganz.“ Es fühlte sich an, als hätte sie von einem fernen Stern gesprochen, dessen Licht uns erst nach Jahren erreicht. Während der gesamten Unterhaltung stand King Arthur ganz ruhig da und wartete geduldig. Als meine Frau ihn streichelte, hob er den Kopf und schaute sie ernst an. Es war der weise Blick eines alten Mannes. Ich meine: eines alten Hundes.

Lemberg, den 21. Juli, abends

Albert Einstein wird folgendes Zitat zugeschrieben: „Werde ich mit meiner Relativitätstheorie recht behalten, werden die Deutschen sagen, ich sei Deutscher, die Franzosen, ich sei Europäer und die Amerikaner, ich sei Weltbürger. Erweist sich meine Theorie als falsch, werden die Amerikaner sagen, ich sei Europäer, die Franzosen, ich sei Deutscher und die Deutschen, ich sei Jude.” Mit Musikern und anderen Emigranten, die nach dem Ersten Weltkrieg heimatlos geworden sind, passiert nicht selten das Gleiche. Und zwar ganz unabhängig vom Erfolg. Und abgesehen davon, dass Einstein den zitierten Satz womöglich nie wörtlich gesagt hat.

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Die Antwort auf die Frage nach der Nationalität unseres Protagonisten variiert, je nach Quelle. Und je nach Interpretation. Wie und ob er selbst seine nationale Identität je definiert hat, ist nicht überliefert. Der Mann wird mal als ukrainischer Komponist bezeichnet, mal als russischer. Manchmal als russisch-ukrainischer. Seltener als ukrainisch-österreichischer. Meistens jedoch als ukrainischer Komponist und Pianist polnischer Herkunft. Manche Kritiker nennen ihn einen ukrainischen Rachmaninow. Das wird heute den Ukrainern nicht besonders gefallen. Andere halten ihn für den letzten Romantiker. Das klingt für eine Nation, die sich derzeit im Krieg gegen einen brutalen Aggressor verteidigen muss, viel schmeichelhafter. Dennoch ist dieser Romantiker bereits kurz nach seinem Tod in Vergessenheit geraten – zu Unrecht. Sein Name: Serhij (Sergei) Bortkiewicz.

Der Komponist wurde 1877 in Charkiw geboren, das damals zum Russischen Reich gehörte. Die Schreibweise des Namens verrät seine polnische Herkunft. Sein Vater war kleinadeliger Abstammung und besaß in der Umgebung etwas Land, eine Brennerei und eine Glasmanufaktur. Seine Mutter war bekannte Pianistin und Mitbegründerin der Charkiwer Musikschule. Die Familie wohnte in Charkiw unter einer recht vornehmen Adresse, in der Sumska, die damals wie heute die Hauptstraße der Stadt war.

Solidarität mit der Ukraine
An einem Haussmann-Palais: Solidarität mit der Ukraine
Quelle: Getty Images/Johnny Maroun

Bortkiewicz studierte an den Konservatorien in Sankt Petersburg und Leipzig, arbeitete anschließend in Berlin. Nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges wurden er und seine Frau als russische Staatsbürger in Deutschland zunächst interniert, dann deportiert; auf Umwegen fanden sie sich später in Charkiw wieder. Als die Bolschewiken 1919 seine Heimatstadt eroberten, verstaatlichten sie das Familienhaus in der Sumska und die Brennerei, plünderten das Landgut und benannten die Hauptstraße Charkiws bald darauf um: nach dem kurz zuvor erschossenen deutschen Kommunisten Karl Liebknecht. Bortkiewiczs Mutter starb in den Wirren des Bürgerkriegs an Typhus, ihm selbst gelang zusammen mit seiner Frau die Flucht nach Konstantinopel, wo er im November 1920 völlig mittellos an Land ging. Zwanzig Monate später kam das Ehepaar schließlich nach Österreich und ließ sich in Wien nieder, das von nun an – mit Ausnahme eines fünfjährigen Berliner Intermezzos zwischen 1928 und 1933 – zu Bortkiewiczs Wahlheimat wurde. Seit 1925 österreichischer Staatsbürger, starb er 1952, sieben Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, in Wien – in derselben Stadt, in die er kurz nach dem Ersten gekommen war.

In Wien traf er auch Paul Wittgenstein, dessen Lebensgeschichte viel besser bekannt ist. Der ältere Bruder des Philosophen Ludwig Wittgenstein war dabei, eine vielversprechende Karriere als Pianist zu machen, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Nicht mal einen Monat an der Front, wurde er in der Nähe von Zamość im heutigen Ostpolen am rechten Arm verwundet. Der Arm wurde amputiert, und Paul geriet in russische Gefangenschaft, aus der er im Dezember 1915 wieder frei kam. Die Laufbahn eines Konzertpianisten schien zu Ende zu sein. Aber er gab nicht auf und beschloss weiterzumachen. Paul übte wie verrückt, arrangierte Werke von vielen Komponisten für die linke Hand und gab bei zeitgenössischen Komponisten Werke in Auftrag.

Paul Wittgenstein
Paul Wittgenstein im Jahr 1926
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Benjamin Britten, Erich Korngold, Richard Strauss, Maurice Ravel, Sergei Prokofjew oder Paul Hindemith – alle schrieben Klavierstücke für ihn. Auch Serhij Bortkiewicz. Paul sicherte sich exklusive Rechte. Er konnte seine Auftragnehmer gut bezahlen. Wie alle Wittgensteins war er ein steinreicher Mann. Genauer gesagt, wie fast alle. Ludwig, der Philosoph, verzichtete auf seinen Anteil des Familienvermögens.

Serhij Bortkiewicz und Paul Wittgenstein hatten vielleicht nicht sehr viel gemeinsam außer ihrem Geburtsjahr. Doch ihre Schicksale zeichnen sich durch eine unglaubliche Willenskraft aus und sie weisen gewisse Parallelen auf. Bei beiden hinterließ der Krieg ein schweres Trauma. Der eine hat durch den bolschewistischen Umsturz in Russland nach dem Ersten Weltkrieg seine gesicherte Existenz, sein Vermögen und seine Heimat verloren, blieb aber körperlich unversehrt. Der andere verlor im Krieg den rechten Arm, aber nicht sein Vermögen. Beide fingen neu an und verfolgten ihre späteren Karrieren mit einer bedingungslosen Hingabe, großem musikalischem Talent und viel künstlerischem Elan.

Zusammen traten sie jedoch nur ein einziges Mal auf – am 7. Mai 1928 dirigierte Bortkiewicz sein vier Jahre früher komponiertes Klavierkonzert Nr. 2 für die linke Hand im Großen Saal des Wiener Musikvereins. Am Klavier saß Maestro Wittgenstein höchstpersönlich. Das von ihm in Auftrag gegebene Konzert durfte ja sowieso kein anderer Pianist spielen. In den vergangenen Wochen haben sich Bortkiewicz und Wittgenstein in einem Lemberger Krankenhaus wieder getroffen. Gespielt wurden Auszüge aus dem Klavierkonzert Nr. 2. Die musikalische Matinee war der Beginn einer Reihe von Klavierkonzerten der Lemberger Philharmonie. Das Stück wurde gewählt, weil es exemplarisch die Schaffenskraft der Künstler symbolisiert, die vom Krieg traumatisiert oder verstümmelt wurden. Das sind viele Ukrainerinnen und Ukrainer auch. Einige werden heute in verschiedenen Krankenhäusern in Lemberg behandelt. Vielleicht wird die Musik auch für sie eine Art Therapie. So wie sie es ganz sicher für Bortkiewicz und Wittgenstein gewesen ist.

Lemberg, den 18. Juli, abends

Im Juli sind die Märkte voller Beeren. Denn der Juli scheint der Beerenmonat schlechthin zu sein. Himbeeren, Heidelbeeren, Brombeeren, Walderdbeeren, Rote Johannisbeeren, Schwarze Johannisbeeren ... Vielleicht habe ich etwas vergessen, ich bin kein echter Beerenspezialist. Nur die großen und saftigen Gartenerdbeeren gibt es im Juli nicht. Inzwischen haben alle Beeren etwas gemeinsam. Sie werden gezüchtet. Nur die Heidelbeere, die im Ukrainischen ihre schwarze Farbe bereits im Namen trägt, tanzt hier aus der Reihe. Denn Heidelbeeren werden gesammelt. Im Wald und am Waldrand. Die Kulturheidelbeere wird hier dagegen erst seit einigen Jahren im großen Stil gezüchtet und gilt nicht wirklich als Heidelbeere. Auch ihr Name hat im Ukrainischen mit ihrer viel schwärzeren Waldschwester nichts gemeinsam. Sprachlich legt man also einen großen Wert darauf, dass verschiedene Arten sauber auseinandergehalten werden.

Straßenverkauf in Kiew
Improvisierter Obststand in Kiew
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Dies ist auch bei der Wald- und Gartenbeere der Fall. Nur dass die Walderdbeere heute meistens ebenfalls aus dem Garten kommt. Für einen Deutschen stellt es im Grunde ein philosophisch unüberwindbares Sprachhindernis dar. Wie kann man etwas, was bereits in seinem Namen einen Hinweis auf sein natürliches Wachstumsareal führt, aber ganz woanders gezüchtet wird, eigentlich benennen? Eine Gartenwalderdbeere? Was für eine kuriose Frucht. Also musste man die Monatserdbeere erfinden. Das kann wiederum kein Nicht-Muttersprachler verstehen. Mir ist nicht bekannt, ob sich deutsche Philosophen mit diesem aberwitzigen Sprachproblem in der Vergangenheit beschäftigt haben.

Im Juli findet man Beeren überall. In den Supermärkten kauft man sie kaum, auch wenn sie dort schön verpackt sind und im künstlichen Licht der werbetechnisch optimal platzierten Spots verlockend aussehen. Auf den kleinen spontanen Straßenmärkten, die eigentlich nicht erlaubt sind, aber von der Polizei geduldet werden, gehören sie neben Gemüse und Kräutern zum festen Sortiment, auch wenn das Angebot eher bescheiden ist. Meistens sind es ein paar Frauen aus dem Umland, die auf den Gehsteigen hocken und Früchte aus ihren Kleingärten feilbieten. Oder ein altes Omachen, das am frühen Morgen ein paar Wurzeln Petersilie sowie einige Salatköpfe und Radieschenknollen aus ihrem Beet in der Vorstadt gezupft hat. Männern begegnet man in diesem spontanen Straßenverkauf nicht öfter als in der Fahrerkabine einer Straßenbahn.

Beeren im Privatverkauf: Typisch Ukraine
Beeren im Privatverkauf: Typisch Ukraine
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Allerdings lohnt sich diese Art Gemüsehandel nur für Gärtner ganz aus der Nähe. Lebt man weiter entfernt, muss man die Ware an einen Zwischenhändler verkaufen. Auf dem richtigen Markt gibt es viele davon. Hier geht es auch etwas geordneter zu. Und internationaler. Auf unserem Markt verkauft ein Aserbaidschaner Obst und Gemüse. Bei ihm ist es immer besonders laut. Seinen Verkaufsstand hat er gleich am Eingang, am strategisch wichtigsten Punkt aufgebaut. Der Umsatz ist höher, die Miete aber auch. Gleich gegenüber ist auch ein großer Obst- und Gemüsestand, den eine Mutter mit zwei Töchtern betreibt. Auch da ist viel los. Die Tageshändler sind eher im Marktinneren zu finden, wo die Plätze billiger sind. Manchmal stehen sie aber direkt im Eingang, wenn sie hoffen, ihren mit Heidelbeeren bis zum Rand gefüllten Eimer schnell loszuwerden. Denn ob Krieg oder nicht - sie gehen nicht nach Hause, bevor sie ihre Beeren verkauft haben.

Lemberg, den 15. Juli, abends

Mein Freund Pawlo ist ein Bergspezialist. Wir sind zusammen gewandert und Ski gefahren, als die Welt noch ganz ohne Mobiltelefone und GPS-Tracker ausgekommen ist. Einmal haben wir in den Alpen auf 3500 Meter Höhe vergessen, uns mit der Sonnencreme einzuschmieren, weil an diesem Tag hinter den dichten Wolken gar keine Sonne am Himmel zu sehen war. Ein für Alpen-Anfänger und Bewohner eines Landes, in dem die höchsten Berggipfel kaum über die Marke von 2.000 Meter hinausragen, recht typischer Fehler.

Dass Berge im Krieg zum unüberwindbaren Hindernis werden können, ist spätestens seit der Antike gut bekannt. Die sowjetische Armee hat es in Krieg in Afghanistan, der euphemistisch als „internationale Pflicht“ bezeichnet wurde, auf schmerzhafte Weise erfahren. Nach ihrem brutalen Überfall auf die Ukraine kämpfen die russischen Streitkräfte zwar nicht gegen die Berge, die man nur im Südwesten des Landes findet (nur vereinzelte Raketen haben in den ukrainischen Karpaten eingeschlagen). Sie haben aber trotzdem ihre liebe Not mit der Natur. Vor allem mit Flüssen. Und mit Brücken, die zu einem zivilisierten Fluss wie Ketchup zu einem Hotdog gehören.

Zerstörte Brücke im Ukraine-Krieg
Zerstörte Brücken blockieren den Vormarsch
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Denn die Brücken sind wichtige strategische Punkte, die im Krieg sogar eine Doppelfunktion haben – den eigenen Einheiten das Überqueren eines Hindernisses zu erleichtern, und es dem Gegner so schwer wie möglich zu machen. Vielleicht hatten viele in der Sowjetzeit gebauten Brücken eben aus diesem Grund eine ziemlich spezifische Bauform. Es gab nämlich vor einer Brücke nicht selten eine kleine Steigung, auf der anderen Seite senkte sich die Straße dagegen leicht bergab. Die Brücke sah wie ein kleiner Hügel aus. Warum man einige Brücken in dem paranoiden kommunistischen Reich so gebaut hat, ist mir ein Rätsel. Womöglich sollten Saboteure im Kriegsfall sich hinter der Brücke verstecken können oder der Feind die Orientierung verlieren, wenn er plötzlich in der Brückenauffahrt nichts anderes als den blauen Himmel vor Augen hatte. Es kann aber auch sein, dass es nur bautechnisch bedingt war.

Einmal war Pawlo diese Brückenbauart fast zum Verhängnis geworden. Vor vielen Jahren war er mit einem Kollegen auf einer Dienstreise in Rumänien, das damals noch gar kein EU-Mitgliedstaat war. Es war bereits eine dunkle, mondlose, schwüle Sommernacht, als sie auf dem Weg nach Hause einen kleinen Grenzübergang fernab der Hauptverkehrsadern passierten. Vor ihnen lag ein schnurgerader Abschnitt einer leeren Landstraße. Der kleine Skoda Fabia war kaum 90 km/h schnell, als sie vorne eine kleine Brücke sahen. In der Auffahrt schossen die Scheinwerfer ihre kalten, weißen Lichtkegel in den warmen, unendlich schwarzen Himmel. Erst auf der Brücke konnten die beiden sehen, dass die Straße direkt danach in einem 90-Grad-Winkel scharf nach rechts abbog. Sie hatten keine Chance und fuhren geradeaus ins Feld.

Das Auto war kaputt, die beiden kamen zum Glück mit leichten Blessuren davon. Mitten in der Nacht in einem gottvergessenen Mobilfunkloch gelang es ihnen irgendwie, die Polizei zu verständigen. Pawlo hatte nur eine Frage: Warum es denn auf der Straße gar kein Warnschild und kein Verkehrszeichen für Geschwindigkeitsbegrenzung gab? Der Polizist zuckte nur mit den Schultern: „Diese Brücke kennt hier doch jeder“. Am nächsten Tag holte ich Pawlo und seinen Kollegen ab.

Wäre die Geschichte heute irgendwo im Osten passiert, hätte man glauben können, dass es sich dabei nicht um eine schlichte Behördenschlamperei handelte, sondern um Vorbereitungen auf einen möglichen Ernstfall. Denn seit Ende Februar gibt es immer neue Brückengeschichten. Mal hört man von einem russischen Panzer, der zusammen mit einer Brücke ins Wasser fällt, weil die Bauern das Verkehrsschild, das über die Lastbegrenzung informieren sollte, vorsorglich abmontiert haben. Mal wird eine hastig errichtete Pontonbrücke zur tödlichen Falle für russische Soldaten. Mal staut sich eine feindliche Kolonne im ukrainischen Süden, weil sie offenbar von den vielen Bewässerungskanälen überrascht worden ist, und wird anschließend zur leichten Beute für die Artillerie. Gleich in den ersten Kriegstagen haben die ukrainischen Streitkräfte die wichtigsten Brücken nordwestlich von Kiew gesprengt und damit das weitere Vorrücken der „zweitgrößten Armee der Welt“ zum Stillstand gebracht.

Die Brücke, die Russland mit der Krim verbindet
Die Brücke, die Russland 2018 zur annektierten Krim gebaut hat
Quelle: picture alliance/dpa/Pool Sputnik Kremlin

Eigentlich sind Brücken für ein Doppelleben prädestiniert. Denn sie können genauso gut trennen wie verbinden. So hat die von Russland illegal errichtete Krim-Brücke den Hafen von Mariupol von der Welt abgetrennt. Ihre Lichthöhe ist absichtlich so niedrig gewählt worden, dass die großen Schiffe unter der Brücke nicht mehr durchkommen. Nun wird die russische Armee alle Hände voll zu tun haben, um dieses Bauwerk zu beschützen. Die Ukrainer hoffen dagegen, dass die Brücke bald das Schicksal des Kreuzers „Moskwa“ wiederholt. Dann wird man sie zum nationalen Unterwasserkulturerbe erklären können.

Lemberg, den 13. Juli, abends

In einem alten sowjetischen Witz streiten sich ein Amerikaner und ein Russe darüber, in welchem der beiden Länder – in den USA oder in der Sowjetunion – die Menschen mehr Meinungsfreiheit genießen. „Ich kann in Washington auf die Wiese vor das Weiße Haus treten und laut rufen, dass unser Präsident ein Trottel ist“, sagt der Ami. Der Russe lässt sich davon überhaupt nicht beeindrucken. „Das ist gar kein Problem. Ich kann auch auf den Roten Platz gehen und dort rufen, dass der amerikanische Präsident ein Trottel ist.“

In diesem Witz wird nicht nur die fehlende Meinungsfreiheit in der UdSSR ironisiert, hier werden auch Begriffe vertauscht, was zur Komik der Situation beiträgt. Doch dies ist nicht immer der Fall. Wenn es beim Argumentieren in einer Diskussion passiert, handelt es sich meistens um einen schwerwiegenden logischen Fehler, der zur Verwechslung von Ursache und Folge führt. Darüber hat schon Immanuel Kant geschrieben.

Genau solcher Fehler ist leider einer Gruppe von Intellektuellen unterlaufen, die Ende Juni in der „Zeit“ das Ende des Krieges in Europa (oder zumindest einen Waffenstillstand) fordern. Es mag sein, dass sie ihren Aufruf aus edlen Beweggründen verfasst haben und aus ganzem Herzen mit Ukrainerinnen und Ukrainern fühlen. Sie nennen am Anfang sogar ganz richtig den „brutalen russischen Angriffskrieg“ beim Namen. Die Schlussfolgerungen, die sie daraus direkt oder indirekt ziehen, sind jedoch höchst überraschend: Der Westen sollte seine Politik überdenken, Waffenlieferungen an die Ukraine einstellen und beide Seiten zurück an den Verhandlungstisch bringen. Worüber man verhandeln soll, wird leider nicht definiert. Und der Vorwurf, dass die internationale Gemeinschaft bisher nicht versucht hat zu verhandeln, klingt angesichts des intensiven Pilgerns europäischer Politiker nach Moskau und Gesprächen zwischen Russland und den USA äußerst seltsam.

Es ist erstaunlich, dass die Unterzeichner nicht an die Partei appellieren, die das internationale Recht brutal gebrochen und ein souveränes Land ohne jeglichen Grund angegriffen hat; nicht an die Partei, die jeden Tag Kriegsverbrechen verübt, Zivilisten und Kinder tötet, Menschen entführt und foltert, besetzte Gebiete plündert sowie die Welt mit einer möglichen Hungerkrise erpresst. Stattdessen wirft man dem Westen implizit vor, die Ukraine in ihrem ungleichen Kampf für Freiheit und Existenz zu unterstützen.

Man will die Folgen bekämpfen, nicht die Ursachen. Es ist eine gefährliche Verwechslung von Ursache und Wirkung. Hätten die Unterzeichner versucht, auf dem Roten Platz das Ende des Krieges zu fordern, wäre ihre Aktion nach keinen zwei Minuten vorbei gewesen. Die Polizei wäre sofort zur Stelle gewesen und hätte alle festgenommen. Es wäre wohl von westlichen Intellektuellen zu viel verlangt, einen solchen Protest zu wagen. Sie sind aber nicht auf die Idee gekommen, dass man einen Appell, den Krieg zu beenden, an Russland und an den russischen Präsidenten richten sollte. Wohlgemerkt mit etwas anderen Formulierungen. Schade, dass sie es bisher versäumt haben.

Lemberg, den 11. Juli, abends

Es war eine illustre Gesellschaft, die zu diesem Festmahl eingeladen wurde. Der Saal war feierlich dekoriert, die massiven Kronleuchter spendeten Licht. Die festlich gekleideten Gäste wurden von Bediensteten zu ihren Tischplätzen begleitet, die ihnen nach Rang und Würde zugeteilt wurden. In der gehobenen Atmosphäre der zeremoniellen Anspannung warteten alle gebannt auf die Tischrede des Hausherrn, der an diesem Tag die Hauptrede halten sollte. Es waren noch neunzehn Jahre bis zum großen Krieg, in den er sein Land stürzen wird.

Es war mucksmäuschenstill, als das Staatsoberhaupt seine Rede anfing. Er war sich der Wichtigkeit dieses Augenblickes bewusst. Es war eine inbrünstige Ansprache, die der Redner mit großer Leidenschaft vortrug. Er sprach von einem Tag des dankbaren Rückblickes, beschwor den patriotischen Geist, appellierte an die gesellschaftlichen Pflichten und legte ein Gelöbnis ab, seine Landsleute zu beschützen. Noch bevor der Redner das Glas auf das geliebte Vaterland erhob und dreimal „Hoch” ausrief, sagte er: „Überall in fernen Teilen der Erde wohnen Tausende unserer Landsleute ... An Sie, meine Herren, tritt die ernste Pflicht heran, mir zu helfen, dieses größere (...) Reich auch fest an unser heimisches zu gliedern“. Diese beschwingten Worte mussten für große Begeisterung unter den Anwesenden gesorgt haben.

Eigentlich kann man sich den russischen Präsidenten in dieser Rolle leicht vorstellen. Schließlich hat er bereits behauptet, dass Russlands Grenzen nirgendwo enden. Dieser „Witz“ passt beispielhaft zu dem in der russischen Gesellschaft weitverbreiteten Gedanken, dass Russland überall dort ist, wo es Russen gibt. Doch es war nicht Putin, auch wenn es zu ihm sehr wohl gepasst hätte. Dort, wo in den Klammern die Auslassungszeichen stehen, hat der Redner ein Beiwort verwendet, das sein Land bezeichnete. Es ging nicht um Russland. Es ging um das Deutsche Reich. Der Tischredner war Kaiser Wilhelm II., der seine Ansprache im Berliner Schloss am 18. Januar 1896 anlässlich des 25. Jubiläums der Reichsgründung hielt.

Lemberg, den 9. Juli, abends

Vielleicht waren „The Plastic People of the Universe“ nicht die beste Band der Welt. Auf jeden Fall haben die Kritiker selten über ihre Musik geschrieben. Von Frank Zappa und Velvet Underground stark beeinflusst, spielte die Band am Anfang psychedelischen Rock, dem sie später Elemente von Jazz und tschechischer Volksmusik beimischte. Gegründet im September 1968, kaum einen Monat nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“, galt sie als wichtigster Vertreter des tschechischen Undergrounds und als Symbol für den Widerstand gegen das kommunistische Regime.

Die Band Plastic People of the Universe
Widerstand durch Musik: Plastic People of the Universe
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Auch wenn ihre Songs nicht direkt politisch waren, hatten „The Plastic People of the Universe“ um den Bassisten Milan Hlavsa und den kanadischen Sänger Paul Wilson von Anfang an Probleme mit den Behörden, die ihnen bereits 1970 die Lizenz der Profimusiker entzogen. Nunmehr bestand ihr Equipment aus selbst gebastelten Verstärkern und geliehenen Instrumenten; ihre Auftritte wurden heimlich vorbereitet und fanden an abgelegenen Orten statt. 1976 wurde die Band verboten, ihre Mitglieder verhaftet, in den Staatsmedien verleumdet und zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen verurteilt. Paul Wilson, obwohl er die Plastics bereits 1972 verlassen hatte, wurde aus der Tschechoslowakei deportiert. Die berühmte Bürgerrechtsbewegung Charta 77 entstand zum Teil als Reaktion auf diese Verhaftungen und Verurteilungen.

Damals haben wir von den Plastics nichts gewusst. In der Sowjetunion wurde der Musikbetrieb noch stärker kontrolliert. Die nicht besonders zahlreichen Bands waren offiziell bei der örtlichen Philharmonie angestellt. Einige spielten in den seltenen Restaurants, zu denen die normalen Bürger kaum Zugang hatten. Das Repertoire musste vorher von der regionalen Parteizentrale abgesegnet werden; ein Blatt mit Auflistung der genehmigten Songs hing irgendwo an der Wand. Erlaubt waren pro Abend höchstens zwei Songs, die nicht auf dieser musikalischen Speisekarte standen. Manchmal wurden die Musiker von speziell angesetzten Agents Provocateurs dazu animiert, andere Stücke zu spielen. Wurde die Band dabei ertappt, versetzte man sie zur Strafe für einen Monat im Rahmen des sozialistischen Kulturbetriebs irgendwohin in die tiefste Provinz. Der Rebellengeist des Rock’n’Roll passte nicht zum Ideal einer glücklichen kommunistischen Zukunft im tristen sowjetischen Alltag.

Es war nicht einfach, an die Schallplatten westlicher Bands heranzukommen. Sie waren rar und begehrt. In der Regel wurden sie von ausländischen Touristen mitgebracht beziehungsweise von sowjetischen Sportlern oder Musikern bei ihren Auftritten in der feindlichen kapitalistischen Welt gekauft, nachdem sie dort die sportliche oder musikalische Ehre ihres sozialistischen Vaterlandes erfolgreich verteidigt hatten. Gehandelt wurden die Platten an sogenannten Musikbörsen, also auf dem Schwarzmarkt, von „Fartsowschtschiki“, wie damals illegale Händler westlicher Waren aller Art hießen. Jemand, der eine Aufnahme von Rolling Stones oder Pink Floyd in der Hand halten durfte, fühlte sich wie Micha Ehrenreich aus Leander Haußmanns „Sonnenallee“.

Bücher und Platten auf einem Flohmarkt in Lemberg
Bücher und Platten auf einem Flohmarkt in Lemberg
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Meistens bekam man die Platten nie zu Gesicht, man kopierte sie von einer anderen Kopie, die bereits aufs Band aufgenommen wurde. Man musste nur aufpassen, dass die Qualität der Tonbandaufnahme noch akzeptabel blieb. Dafür kopierte man am besten von der ersten Kopie weiter. Einmal unternahm ich sogar eine fast 100 km lange Reise mit einem tuckernden Regionalzug, um bei einem Bekannten irgendwelche Alben zu überspielen, die er vorher auf Tonkassetten direkt von Schallplatten aufgenommen hatte.

Ein noch größeres Problem waren die Songtexte. Oft kursierten sie als handgeschriebene Blätter oder Heftchen. Wenn die Kritzeleien lesbar waren, freute man sich besonders. Die Alternative war ein Versuch, den Text aus dem Song herauszuhören. Es war eine irre Übung im Englischen, das wir nicht wirklich konnten. Dabei kam dann manchmal heraus, dass Ian Anderson in einem Song von Jethro Tull über einen Mann sang, der junge Mädchen nicht mit böser Absicht (bad intent) anguckte, sondern sie beim Badminton beobachtete. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass es einfacher gewesen wäre, Keilschrift zu entziffern.

Viele Jahre später, als die Erinnerung an den Kommunismus für einige als böser Traum und für andere als romantische Nostalgie geblieben war, machte die Internet-Suche das Abschreiben von Texten endgültig obsolet. Die alten Rockikonen klangen nicht mehr ganz glaubwürdig und holten in den Ländern des ehemaligen Ostblocks nach, was früher undenkbar gewesen wäre. Ihre Live-Konzerte sorgten überall für grenzenlose Begeisterung der Musikfans. Einige Musiker hat es sogar auf den Roten Platz verschlagen, wo man bei manch einem Auftritt eines Rock-Dinosauriers sogar den damaligen wie heutigen russischen Präsidenten beobachten konnte. Unter echten Musikfans wirkten er und seine Entourage ziemlich deplatziert.

Milan Hlavsa, der Mitbegründer der „Plastic People of the Universe“, starb 2001 im Alter von nur 49 Jahren. Sonst hätte er sich ganz bestimmt auf die Seite der Ukraine in ihrem Kampf gegen den russischen Überfall geschlagen. Genau das haben zahlreiche andere Rockmusiker aus der ganzen Welt gemacht, die ihre Solidarität mit dem angegriffenen Land verkündet haben - von Paul McCartney bis Pink Floyd, von Elton John bis U2, von Metallica bis Scorpions. Nach Putinverstehern sucht man in dieser Gruppe vergeblich. Die alten Rock’n’Roller können offenbar zwischen Gut und Böse problemlos unterscheiden.

Lemberg, den 7. Juli, nachmittags

In der Geschichte der Menschheit spielen Flaggen und Fahnen eine wichtige Rolle. Bereits in der Zeit, als es noch keine Nationen gab, zogen die Truppen mit der königlichen Standarte in den Kampf. Im Zeitalter der Entdeckungen hisste man auf jeder neuentdeckten Insel, selbst wenn es ein unbewohnter Felsen war, die Nationalflagge.

In den Gegenden, die fürs Leben total ungeeignet waren, ging es genauso zu. Sonst hätte Robert Falcon Scott nie rechtzeitig erfahren, dass Roald Amundsen bereits vor ihm den Südpol erreicht hatte. Die Amerikaner stellten gleich bei der ersten Landung auf dem Mond die US-Flagge auf. Irgendwann kamen auch der Sport und allen voran die politischste aller Sportarten dazu. Es wäre ungerecht, den Fußball und seine Fans mit ihren Trikots in Nationalfarben, Fahnen und Fähnchen auf den Tribünen nicht zu erwähnen. Denn der Zusammenhang zwischen diesem Ballspiel mit 22 laufenden Figuren und dem Nationalstolz ist nicht zu bestreiten.

Ein heute veröffentlichtes knapp zweiminütiges Video zeigt drei Männer, wie sie eine blaugelbe ukrainische Staatsflagge befestigen. Die Aufnahmen sind vermutlich von einer Drohne gemacht worden. Am Anfang des Videos ist in der Mitte ein Krater zu sehen, offenbar von einem Raketeneinschlag. Ringsherum sind nur Ruinen, von den kleinen Gebäuden ist nichts mehr als Bauschutt übrig geblieben. Das Meer vor dem kleinen Kap ist ganz ruhig, die Sonne steht niedrig über dem Horizont. Das Video zeigt die Schlangeninsel am frühen Morgen.

Zwei Soldaten in voller Montur gehen vorsichtig einer nach dem anderen zu den Ruinen, holen sich zwei schwere Blöcke vom Haufen und stapfen zurück zur großen Flagge, die in einem starken Nordost flattert. Sie legen die Blöcke auf die Arme des Flaggenhalters, dann wiederholt sich die Szene noch einmal. Ende der Aufnahme. Mission erfüllt.

Für die Ukrainer ist es ein ganz wichtiger symbolischer Moment: Die Schlangeninsel, die von russischen Truppen über vier Monate lang besetzt war, ist wieder in ukrainischem Besitz. Zwar hat die russische Garnison bereits in der Nacht zum 30. Juni die Insel fluchtartig verlassen, aber ohne Flagge war das Eiland irgendwie noch nicht ganz ukrainisch. Ein paar Tage später hat ein Kampfhubschrauber die ukrainische Flagge über der Insel abgeworfen. Aber der letzte symbolische Schritt fehlte noch.

Auf der Schlangeninsel wird die ukrainische Fahne aufgestellt
Auf der Schlangeninsel wird die ukrainische Fahne aufgestellt
Quelle: dpa

Wie wichtig solche Symbole sind, bekräftigt die ziemlich riskante Aktion mit der Flagge. Denn an eine dauerhafte Präsenz auf der Insel ist im Moment noch nicht zu denken. Die Gefahr der russischen Raketeneinschläge ist nicht vorbei.

Trotzdem ist die Wirkung des gewagten Unterfangens für die Ukrainer fast mit der historischen Tat von Neil Armstrong und Buzz Aldrin vergleichbar. Vielleicht werden bald auch hier Verschwörungstheoretiker behaupten, dass es so was nie gegeben hat. In Russland sind ja heutzutage Verschwörungstheorien jeglicher Art besonders beliebt. Denn wenn man der russischen Propaganda folgt, hat sich die gesamte Welt längst gegen das arme Russland verschworen.

Lemberg, den 4. Juli, abends

„Wer interessiert sich schon in diesem Land für den Eiskunstlauf?“, sagt Daryna, während sie für mich ein Stück Kuchen mit Käse und Spinat in der Mikrowelle aufwärmt. Daryna kommt aus Nischyn, einer Stadt in der Region Tschernihiw im Nordosten der Ukraine. Nach Lemberg ist sie auf Umwegen gekommen. Es gab schwere Kämpfe bei Nischyn, die ukrainische Armee konnte hier ein weiteres Vordringen russischer Truppen stoppen. Auf der Flucht vor dem russischen Angriffskrieg kam Daryna zunächst nach Ternopil, dann nach Polen. Als die studierte Informatikerin einige Wochen später über ihre Rückkehr in ihr Heimatland, wenngleich nicht in ihre Heimatstadt, nachdachte, erreichte sie eine Nachricht von Serhij. Er war mit seinem Freund und Geschäftspartner Iwan in Lemberg gelandet und hatte vor, einen kleinen Imbiss zu eröffnen. Er fragte Daryna, ob sie mitmachen wolle. Sie sagte spontan zu.

Serhij ist ein Mathelehrer und Hobbykoch aus Irpin. Zuletzt arbeitete er mit Iwan, der in Borodjanka lebte, in einem Café in Butscha. Iwan jobbte als Barkeeper, Serhij buk Kuchen. Diese drei Ortsnamen sprechen Bände. Inzwischen muss man nicht mehr erklären, was in Irpin, Butscha oder Borodjanka passiert ist. Die ganze Welt weiß es, nur die Russen nicht.

Gleich am ersten Tag der russischen Invasion beschlossen die Jungs, aus der Region zu fliehen. Es war gerade der richtige Zeitpunkt. Einen Tag später hätte es schon nicht mehr geklappt. Der Weg führte sie wie viele andere Flüchtlinge aus unterschiedlichen Regionen des Landes nach Lemberg.

Serhijs Koch-Blog, den er vor dem Krieg auf YouTube führte, erfreute sich über zigtausende Follower. Daryna war eine davon, irgendwann verabredeten sie sich, in Kiew zu treffen. Da stellten sie fest, dass sie nicht nur eine Vorliebe fürs Kochen teilen, sondern auch eine Begeisterung für – Eiskunstlauf.

Heute sind nur Daryna und eine weitere Mitarbeiterin in der Imbissbude. Es herrscht nicht besonders viel Betrieb am frühen Abend. Daryna trägt ein rosafarbenes T-Shirt mit einem optimistischen Spruch: „Es könnte immer schlimmer laufen.“ Der Küchenraum ist klein, der Eingang führt über ein kleines Modegeschäft. Eine Kaffeemaschine, ein Kühlschrank, eine Mikrowelle, ein Waschbecken. Gebacken wird zu Hause, in der Mietwohnung.

Vor dem Imbiss halten ab und zu ein paar Passanten. „Hallo, Lemberg!“, heißt es unten auf einer schwarzen Tafel. „Serhij aus Irpin, Iwan aus Borodjanka, Daryna aus Nischyn begrüßen euch hinter diesem Fensterladen. Wir fangen hier ein neues Leben an. Wir machen das, was wir am besten können: Leckeres Essen zubereiten.“ Daneben ein kleiner Blumentopf. Auf der anderen Seite eine Spendenbox fürs Hundefutter.

„Wir gingen durch die Stadt und sahen auf einmal, dass eine Imbissbude zu vermieten war. Wir riefen an und erfuhren, dass die Eigentümer nach Polen geflüchtet waren“, erzählt Serhij ihre Geschichte in einem Video. „Wir hatten nicht mal genug Geld, um volle Miete zu bezahlen. Wir einigten uns darauf, dass wir den Rest aufbringen, wenn das Geschäft läuft.“ Nun läuft das Geschäft nicht schlecht. Die Hälfte des Gewinns wird an die ukrainische Armee gespendet. Bald wollen drei Partner einen zweiten Imbiss in der Nähe der Universität eröffnen. Er wird genauso heißen: „Kiit“.

So heißt nämlich Serhijs Kater. Mit einem Doppel-i, was so viel wie „Kaater“ bedeutet. So rief der junge Mann seinen Stubentiger, als er ganz klein war und Serhij noch keinen richtigen Namen für ihn ausgedacht hatte. Dabei blieb es auch. Nun ist er weg, der Imbiss soll eine Erinnerung an das Lieblingstier sein.

In der Lemberger Altstadt
In der Lemberger Altstadt
Quelle: picture alliance / pressefoto_korb/ Micha Korb

Seit paar Tagen sind beide Jungs nach Kiew gefahren. Vielleicht werden sie in der Gegend wieder nach Serhijs Kater suchen. Vor der Abreise setzte er ihn bei seinen Freunden in einer benachbarten Gemeinde ab. Als dort in der Nähe eine russische Rakete einschlug, flogen in der Wohnung die Fenster heraus. Der Kater verschwand in Panik und wurde nie mehr gesehen. Serhij gab die Suche nie auf, immer wieder fuhr er dahin, befragte die Nachbarn, zeigte Fotos. Bisher blieb die Suche ohne Erfolg.

Gleich neben dem Imbiss ist eine Straßenbahnhaltestelle, bis zum Rathaus sind es nicht einmal hundert Meter. Es ist eigentlich ein optimaler Standort. Doch vor zwei Monaten, in den ersten beiden Tagen nach der Eröffnung, gab es keine Besucher. Dann kam Serhij auf die Idee, ihre Geschichte auf der schwarzen Tafel niederzuschreiben. Jemand postete ein Foto in den sozialen Netzwerken. Am dritten oder vierten Tag standen die Menschen Schlange vor dem Imbiss. Innerhalb von wenigen Tagen stürzten sich alle ukrainischen Medien auf die Geschichte. Dann war der Rummel vorbei. So funktioniert das Mediengeschäft. Der Eiskunstlauf wurde in keinem Beitrag erwähnt.

Lemberg, den 1. Juli, abends

Eigentlich gibt es auf der Schlangeninsel keine Schlangen, nur Fledermäuse. Der Form nach hat das nur 0,2 Quadratkilometer kleine Eiland auch nichts mit dem Kriechtier der Unterordnung Serpentes zu tun. Manchmal passiert sowas bei geografischen Namen. In der Schweinebucht auf Kuba schwimmen ja auch keine Schweine. Der irreführende Name des kubanischen Meerbusens, der auf Spanisch Bahía de Cochinos heißt und durch eine gescheiterte, von CIA gestützte Invasion der Exilkubaner gegen das Castro-Regime im April 1961 weltbekannt wurde, geht auf eine sprachliche Verwechslung zurück. Auf Spanisch kann „cochino“ zwar tatsächlich ‘Schwein’ bedeuten, vor allem, wenn es sich um ein Schlachtschwein handelt. Aber auf Kuba bezeichnet man mit diesem Wort einen im westlichen Atlantik verbreiteten Korallenfisch, den sogenannten Königin-Drückerfisch. Es ist also nichts anderes als die Bucht der Drückerfische. Klingt nicht wirklich romantisch.

Hat es jedoch in der Schweinebucht wohl nie Schweine gegeben, wurden in den Gewässern vor der Schlangeninsel noch im 19. Jahrhundert Würfelnattern gesichtet, die an die hiesigen Küsten aus dem Donau-Delta herangeschwemmt wurden. Darüber berichtet auch schon manch ein antiker Autor. Laut einer altgriechischen Sage wurde hier Achilles begraben; die Meeresgöttin Thetis hat angeblich für ihren bei Troja gefallenen, beinahe unsterblichen Sohn die Insel extra aus der Tiefe gehoben.

Für die Griechen war die Insel, die in antiker Zeit wegen ihrer weißen Ufer ‚Leuke’, die Weiße, hieß, ein wichtiger Stützpunkt bei der Kolonisierung der nördlichen Schwarzmeerküste. Später gehörte das rund 20 km von der Donaumündung entfernte und längst nicht mehr weiße Eiland zum Römischen Reich, dann zu Byzanz und anschließend zum Osmanischen Reich. Ab 1788, nach dem Sieg der russischen Flotte über die Türken in der Schlacht bei Fidonisi, wie der damalige türkische Name der Insel lautete, fiel sie für einige Jahrzehnte an das Russische Reich. Mit der Niederlage im Krimkrieg (1853–1856) verlor Russland auch die Insel, die von nun an fast hundert Jahre lang zu Rumänien gehörte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ihr Schicksal durch ein geheimes Protokoll besiegelt. Kein Wunder, wenn man die Vorliebe Stalins für geheime Protokolle jeglicher Art in Betracht zieht. Die rumänische Regierung in Bukarest trat die Insel schweren Herzens an die Sowjetunion ab, ein Deal, von dem die Öffentlichkeit in Rumänien noch viele Jahre später nichts wusste. Nach dem Zerfall des sowjetischen Imperiums stritten Kiew und Bukarest einige Jahre über die Zugehörigkeit des Eilands, bis es 2003 in einem Grenzvertrag als ukrainisches Staatsgebiet anerkannt wurde. Die Nato-Mitgliedschaft war für Rumänien wichtiger als ein Konflikt mit dem Nachbarland um einen Meeresfelsen. Der Streit um den Kontinentalsockel war nicht mehr sehr spektakulär und wurde 2009 vom Internationalen Gerichtshof gelöst. Danach haben alle die Insel mit ihren Fledermäusen vergessen. Bis zum russischen Überfall auf die Ukraine.

Obwohl Russland die Schlangeninsel am ersten Tag der Invasion besetzen konnte, wurde sie zum markanten Symbol des ukrainischen Widerstands. Ohne jegliche Aussicht auf einen erfolgreichen Widerstand weigerte sich die ukrainische Garnison, ihre Waffen niederzulegen und sich zu ergeben. Der Funkspruch eines Soldaten, in dem er das russische Kriegsschiff aufforderte, sich zu verpissen, wurde weltberühmt. Die Insel selbst und der in ihrer Nähe von einer ukrainischen Rakete versenkte Kreuzer ‚Moskwa’, das Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte, wurden auf einer ukrainischen Briefmarke in millionenfacher Auflage verewigt.

In den vergangenen Monaten versenkte die ukrainische Armee immer wieder russische Versorgungsschiffe in den dortigen Gewässern und griff die auf der Insel stationierten russischen Truppen sowie ihr Militärgerät mit Raketen an. Die strategisch wichtige Insel hätte Russland die Kontrolle im nordwestlichen Teil des Schwarzen Meeres ermöglicht. Allerdings war es der russischen Marine nie gelungen, dort wirklich Fuß zu fassen. Gestern gab Russland schließlich das Eiland auf und zog seine dezimierten Truppen ab. Moskau versuchte das als „Zeichen des guten Willens“ zu verkaufen. Die Ukrainer griffen das Thema sofort auf. „Als Zeichen des guten Willens fiel ein russischer Hubschrauber in der Nähe der Insel vom Himmel. Möglicherweise wollte er nur an Bord des Kreuzers ‘Moskwa’ landen“, lautete ein sarkastischer Post des ukrainischen Militärkommandos Süd auf Facebook.
Wenn es so weitergeht, wird demnächst die russische Militärführung auch den Tod ihrer Soldaten in der Ukraine als „Zeichen des guten Willens“ bezeichnen. Die Ukrainer werden es nur begrüßen.

Lemberg, den 29. Juni, abends

Im Krieg hat der Allradantrieb Hochkonjunktur. Für Soldaten genauso wie für freiwillige Helfer. Es gibt ja keine Autobahnen in den Kampfgebieten. Oft gibt es dort gar keine Straßen. Man weiß nur, in welche Richtung man will. Ohne Allradantrieb geht also gar nichts. Eine verstärkte Bodenplatte und alle anderen möglichen Verstärkungen sind auch sehr wichtig. Und die Armee hat selbstverständlich Priorität.

Autos sind in den Frontgebieten ein Verbrauchsgut. Genauso wie Kraftstoff oder Munition. Sie gehen kaputt, explodieren auf Minen, bleiben in Gräben stecken, landen auf dem Dach. Man braucht ständig Nachschub. Immer wieder gibt es in den sozialen Netzwerken Aufrufe, für Autos zu spenden. Am meisten gefragt sind Geländewagen und Kleinbusse. Man fährt ja nicht jeden Tag im gepanzerten Mannschaftswagen hin und her. Es gibt auch andere Aufgaben.

Viele Ukrainer haben ihre Wagen der Armee gespendet. Doch ihre Möglichkeiten sind nicht unbegrenzt. Nun kommt die Hilfe aus dem Ausland. Man muss nicht lange raten, aus welchem Land die meisten Autos gebracht werden. Es ist Polen.

Witali fährt in den letzten Monaten öfter nach Polen. Seine Freunde haben schon mehrere Autos für die Überführung vorbereitet. Heute entlädt er einen Kleinbus. Es sind mehrere Kanister mit Treibstoff drin, sie werden an der Front dringend gebraucht. Vorerst kommen sie jedoch in eine Garage. Der Wagen muss zunächst in einer Werkstatt eine Tarnlackierung bekommen. Wenige Tage später wird er schon Richtung Osten unterwegs sein. „Oft helfen dir Menschen, die du gar nicht kennst. Es ist unglaublich, wie alles funktioniert. Die Solidarität ist einfach überwältigend.“

Ein von russischen Geschossen zerstörtes Auto im Donbass, Anfang Juni
Ein von russischen Geschossen zerstörtes Auto im Donbass, Anfang Juni
Quelle: Celestino Arce Lavin/ZUMA Press Wire/picture alliance

Mein Freund Ihor weiß es aus eigener Erfahrung. Sein Bruder, der eingezogen wurde und an der Front kämpft, bat ihn um einen Minibus. Ihor postete neulich einen Spendenaufruf. Innerhalb weniger Tage kam der notwendige Betrag zusammen. Seine Mutter und seine Freundin fuhren nach Polen und holten den Minibus ab. Bei der Tarnlackierung musste er nur für die Farbe aufkommen. Die Werkstatt weigerte sich, die vollen Kosten zu berechnen. Manchmal habe ich doch das Gefühl, dass wir in einer anderen, wunderbaren Welt leben.

Juri Durkot wurde für seine Übersetzungen der Werke von Serhij Zhadan – gemeinsam mit Sabine Stöhr – mit dem Brücke Berlin-Preis und dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.

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