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Pop Peter Gabriel

Ein Superstar? Man weiß es nicht

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Peter Gabriel: Sein Auftritt in der Berliner Waldbühne ist das erste von fünf Konzerten in Deutschland Peter Gabriel: Sein Auftritt in der Berliner Waldbühne ist das erste von fünf Konzerten in Deutschland
Peter Gabriel: Sein Konzert in der Berliner Waldbühne ist das erste von fünf in Deutschland
Quelle: dpa/Hannes P Albert
Während alle Welt auf Peter Gabriels neues Album wartet, gibt er schon mal eine Reihe großer Konzerte. In der Berliner Waldbühne geht der 73-jährige Musiker ein gewaltiges Wagnis ein.

In meinem Bücherregal steht seit vielen, vielen Jahren eine Originalausgabe von John Keats´ „The Lamia“. Es ist das Geschenk, dass ich Peter Gabriel machen werde, sollte ich ihn jemals zu einem Interview treffen.

Es geht bei solchen Idolbegegnungen auf professioneller Ebene ja immer darum, zu zeigen, dass man nicht einfach nur der drölfte Musikschreiber ist, der durch den Interview-Marathon geschleust wird und Fragen abspult – andererseits darf man sich auch nicht als stalkender Nerd zeigen, der mit irgendwelchem obskuren Nebenwissen punkten möchte: „Die Pfundnoten, die als Promo-Gimmick für 1973 für ‚Selling England by the Pound‘ verteilt wurden, bezogen sich offensichtlich auf eine Kampagne der Labour-Party. Sind sie Sozialdemokrat und wie bewerten sie die Arbeit der britischen Regierung?“

Also, so in der Art. Sollte man vermeiden.

Und, ohnehin: „Never meet your heroes“.

Gabriel kommt auf die Bühne in einem seltsamen orangefarbenen Anzug, den auch alle Techniker tragen. Er redet, während er sich aus dem Overall schält, sehr viel. Sehr, sehr viel. Und auf Deutsch. Dann setzt er sich an das Piano und singt „Jetzt kommt die Flut“, den großen Song seines ersten Soloalbums, den er mit Robert Fripp geschrieben hat – und dieser Moment ist so überwältigend und großartig, dass man weiß, man wird ihm alles verzeihen, was später noch kommen mag. Mein Freund Laurence, aus London angereist, verdrückt eine Träne. Er sagt, jetzt könnte man ja eigentlich auch nach Hause gehen.

Die Hälfte seiner Setlist sind neue Songs

In der Berliner Waldbühne, Ort von brutalem Proto-Rock (Stones, 1965) bis zu netter Familiensommernacht (Collins, 1990) aber kehrt nach dem überraschenden Ausbruch bald wieder Routine ein, die jenes Zirkusses, der in der Aufführungsangelegenheit Gabriel seit gut einer Woche in Europa unterwegs ist.

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22 Stücke umfasst die Setlist, die Hälfte davon sind neue Songs. Bislang ungehört, ungetestet, jungfräulich. Das muss man sich erst einmal trauen. Wo Künstler derselben Kategorie eher vorsichtig ihre Setlist vor allem aus erprobten Standards beschreiten, mehr Hits als sonst was spielen, setzt Gabriel, der Unberechenbare, auf Gegenseitiges.

Wer auch immer da ist und auf die Hits der Achtziger wartet (und auch die kommen zur Aufführung), muss sich in Geduld üben. Erst am Ende des ersten Sets hört man „Sledgehammer“, den Über-Song, die Maxi-Single, die Tanznummer.

Tada-Tada-Tata-Ta-Ta-Ta und so weiter. Gabriel mag und lebt diese Musik, er war ja kein Fan des kopforientierten Progressive Rock, sondern hat ihn erfunden. Dieser düstere Soul, das ist der Sound, aus dem er seine Ideen gesaugt hat.

War stellenweise irritiert: das Publikum in der Berliner Waldbühne
War stellenweise irritiert: das Publikum in der Berliner Waldbühne
Quelle: dpa/Hannes P Albert
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Natürlich wartet der Großteil des Publikums auf die Smash-Hits des Konsens-Albums „So“. Aber so einfach macht der Künstler es seinem Publikum nicht. Wir hören „Red Rain“ und „Don´t give up“, auch „Big Time“, all die späten Klassiker der dritten Karriere des ehemaligen Genesis-Frontmanns.

Aber der Kern sind die Songs des unveröffentlichten und undatierten Neulings „i/o“, dessen Songs gabrielesque-verspielt bislang solitär zu jedem Vollmond veröffentlicht wurden. Die Reise ging dabei vom düster-melancholischen „Panopticum“ über das fast funkige „Olive Tree“ bis zum wunderbaren „And still“, gewidmet seiner Mutter und einer der schönsten Gabriel-Songs. All das hört man in der Waldbühne zum ersten Mal live.

Dieser Mut muss respektiert werden

Der Mut, diese Songs zuerst auf die Bühne statt auf Tonträger zu bringen, muss unbedingt respektiert werden. Das Open-Air-Publikum von Berlin, mehrheitlich per Polo und mit Polo angereist, um einen angenehmen Abend zu erleben, war erwartungsgemäß irritiert. Den Bier-Schänken im wohl schönsten Amphitheater Deutschlands mag das in die Karten gespielt haben: Wer sich nicht auf dieses filigrane Spiel von Alt und Neu, Heftig und Leise, Bauch und Kopf einlassen konnte oder wollte, hatte irrsinnig viel Zeit zur Verpflegungsbeschaffung.

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Ja, sicher. Zugegeben! Gabriel-Konzerte haben seit den mittleren Neunzigerjahren den Hang zur gepflegten Langeweile auf sehr hohem Niveau. Die Kombination aus Soul, Ethno, Funk, vermischt mit Echos aus Gabriels vermeintlicher musikalischer Ur-Heimat – dem Progressive Rock – ist jenseits der Tanzbarkeit anstrengend und erfordert Konzentration. Mehr als die Hälfte des Sets, ja zwei Drittel der ersten Konzerte seit gut einem Jahrzehnt derart zur Disposition zu stellen, ist ein gewaltiges Wagnis. Gabriel geht es ein.

Er hat, 73 Jahre alt, ohnehin nichts mehr zu gewinnen oder zu verlieren. Er ist, was er ist. Vielleicht mag er mitbekommen haben, dass „Solsbury Hill“ mehr Applaus bekommen hat als „Sledgehammer“ oder „Big Time“. Oder aber er zieht einfach sein Ding durch, bewusst vorsichtig zögernd-zauderlich eingeleitet, lange Text auf Deutsch. Das hat den Charme der Königstein-Übertragungen seiner Lyrics für die deutschen Alben: „Krieg muss man schwänzen. Spiel ohne Grenzen“.

Peter Gabriel (l.) und seine Musiker auf der Bühne
Peter Gabriel (l.) und seine Musiker auf der Bühne
Quelle: dpa/Hannes P Albert

Und so ist der ganze Abend ein Vexierspiel. Super-sympathisch und dennoch distanziert ist dieser Gabriel. Mal ist er von seiner eigenen Musik fast selbst überraschter Tänzer, dann wieder ganz zurückgezogen, einsam, melancholisch hinter seinem Piano. Ein Superstar? Man weiß es nicht. Weil man merkt, dass er es auch nicht weiß. Collins, ja. Der hat‘s draufgehabt, in jeder Sekunde. Der Kasper vom Dienst.

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Gabriel dagegen: Der Mann, der „Supper‘s Ready“ schrieb und „Musical Box“? Dieser Schlacks, den sie in den Bühnenhimmel hievten, während er das Neue Jerusalem besang? Steppenwolf und Glasperlenspiel vereint und vertont, in meiner kleinen, feinen Blase von Musiksnobs. Kommen Sie jetzt bitte nicht mit den Klippschülern von den Stones oder der Boyband, die sich die Beatles nannte! Wir reden von Genesis!

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Und doch ist er so fremd.

Alles, was es zu wissen gibt, liegt in Gabriels Musik

Bei aller Liebe und noch all den Jahrzehnten der intensivsten Auseinandersetzung bleibt Peter Gabriel ein Rätsel, ein Enigma. Die Erstausgabe von Keats bleibt bei mir. Ein Gespräch ist nicht notwendig, es förderte keinen Gewinn. Alles, was es zu wissen gibt, liegt in Gabriels Musik, auf der Bühne und in seinen Worten ebendort. Es gibt keinen Erklärungsbedarf, der darüber hinaus gehen würde. Never meet your heroes.

„L‘Ange Gabriel“ – der Engel Gabriel – ist der Titel eines der berühmtesten Bootlegs (Montreal 1974) aus seiner Genesis-Zeit. Wer Gabriel auf dieser Tour sieht, dem geht diese seltsame Überhöhung nicht mehr aus dem Kopf.

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