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Kultur „Club Zero“

So gefährlich ist bewusste Ernährung

Redakteurin im Feuilleton
Essen sie oder tun sie nur so? Essen sie oder tun sie nur so?
Essen sie oder tun sie nur so?
Quelle: Festival de Cannes 2023
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Immer mehr Jugendliche überdenken ihre Ernährungsgewohnheiten. Bewusstes Essen liegt im Trend. Doch was passiert, wenn aus „langsamer“ und „weniger“ irgendwann „gar nicht mehr“ wird? Jessica Hausners „Club Zero“ zeigt eine sehr reale Bedrohung.

Haben Sie schon angefangen, nachhaltig zu essen? Falls nicht, können Sie jederzeit damit anfangen. Es erfordert nur etwas Übung. Und Durchhaltevermögen. Aber vor allem: Glauben. Probieren Sie es so: Sie schneiden sich ein kleines Stück von einer Kartoffel ab. Ein ganz kleines. Am besten halbieren Sie das, was Sie für klein halten, noch einmal. Dann führen Sie die Gabel in Zeitlupe an Ihren Mund heran. Dort halten Sie inne, riechen intensiv daran, schauen es sich genau an.

Es gibt in diesem Moment nur Sie und die Kartoffel. Dann nehmen Sie das Stück in Ihren Mund und kauen ausführlich darauf herum. Schließlich schlucken Sie. So machen Sie das ein paar Mal, irgendwann, etwa wenn Sie eine kleine Kartoffel vollständig verspeist haben, sind Sie satt. Denn wer langsamer isst, isst weniger. Davon profitieren dann Ihr Geist, Ihr Körper und nicht zuletzt die Umwelt.

So lautet die wichtigste Lektion, die in Jessica Hausners Cannes-Wettbewerbsfilm „Club Zero“ die neue Lehrerin für bewusste Ernährung (Mia Wasikowska) in einer Privatschule verbreitet. Sie heißt Frau Nowak und damit bizarrerweise genauso wie die von Leonie Benesch gespielte Lehrerin in Ilker Çataks „Das Lehrerzimmer“, das kürzlich mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet wurde. „Nowak“ heißt „der Neue“.

Wie aus einer anderen Welt: Frau Nowak (Mia Wasikowska)
Wie aus einer anderen Welt: Frau Nowak (Mia Wasikowska)
Quelle: Festival de Cannes 2023

Auch optisch ähneln sich die beiden Nowaks: blonde, karge, strenge Gesichter. Die Kameraführung mit ihren starren, präzise arrangierten Frontaleinstellung wird in beiden Institutionenthrillern von einem unheimlichen Soundtrack begleitet. Da hört es mit den Gemeinsamkeiten dann aber auch schon auf. „Club Zero“ ist bunter, knalliger, aufgedrehter. Ein Konzeptfilm mehr als ein Charakterfilm.

Anders als man es aus den meisten Darstellungen über Abnehmcamps wie Ulrich Seidls „Paradies: Hoffnung“ kennt, ertönt in „Club Zero“ keine einzige Trillerpfeife. Stattdessen erklärt Frau Nowak ruhig und geduldig ihr Konzept, sodass die Schüler von allein einsehen, dass Essen ihnen nicht guttut. Irgendwann sind die Kinder, die Frau Nowak wie eine Heilige verehren, so weit, in den exklusiven Club Zero einzutreten. Dessen Mitglieder nehmen gar keine Nahrung mehr zu sich. Dafür wird ihnen das ewige Leben in Aussicht gestellt.

In Zeiten des Überflusses entsteht ein wachsendes Interesse an Entsagungsbewegungen. Netflix brachte im vergangenen Jahr das Historiendrama „The Wonder“ mit Florence Pugh in der Rolle einer berühmten Hungerkünstlerin heraus. Auch hier erscheint das Religiöse allgegenwärtig, es spiegelt sich in der Musik und in den allegorischen Bildern. Die letzte Szene zeigt eine Abendmahl-Konstellation aus Eltern, in deren Mitte eine Schülerin sitzt und sagt: „Ihr müsst glauben.“

Hausners surreales Psychodrama gehört zu den Favoriten im diesjährigen Rennen um die Goldene Palme. Scharf, lustig und überdreht rückt sie die entsetzen Blicke der Eltern in den Fokus. Blicke des Grauens auf das Töchterchen im pinken Kinderbett, wo es im Schneidersitz ihr soeben vor den Eltern Erbrochenes konzentriert wieder auflöffelt und aufisst. Blicke auf eine geschlossene Tür, hinter der das Kind maschinenartige Monologe über Klima, Kapitalismus und Erleuchtung hält. Blicke auf den Sohn, der immer blasser und dünner wird, weil er den Braten der Mutter, den er immer so liebte, nicht mehr anrührt.

Ernährungskult mit Sektenstruktur
Ernährungskult mit Sektenstruktur
Quelle: Festival de Cannes 2023

Ein grandioses Kostüm- und Setdesign leuchtet die Unterschiede der jeweiligen Elternhäuser konsequent aus. Da ist der Junge mit alleinerziehender Mutter, der auf ein Vollstipendium angewiesen ist, weil er die Schule sonst nicht bezahlen könnte. Schlechte Noten in bewusster Ernährung könnten das Stipendium gefährden. Da ist der begabte Balletttänzer, dessen Eltern nach Afrika ausgewandert sind und mit ihm selbst an Heiligabend nur kurz skypen, und ihm immer wieder davon abraten, sie in den nächsten Jahren zu besuchen – wegen des Klimas. Da ist die Tochter aus reichem Elternhaus mit Bediensteter, die jede Mahlzeit auf dem Silbertablett serviert. Ihre Mutter, die selbst zum diätetischen Zuckerverzicht neigt, zeigt das vergleichsweise größte Verständnis für den Entsagungsimpuls ihrer Tochter.

Was will sie uns sagen?

Bleibt allein die Frage: Was will uns die Österreicherin Jessica Hausner damit sagen? Soll man ihren Film als warnende Satire auf Verschwörungstheorien, Sekten und Gurus verstehen? Oder gar auf Religionen, die mehrwöchige Fastenzeiten vorschreiben? Auf scheinbar progressive Erziehungs- und Lehrmethoden? Auf Ernährungstrends von Veganismus über Mono- bis zur Paleo-Diät? Auf den jugendlichen Schlankheitswahn? Auf den in der Generation Z verbreiteten Glauben an die Kraft von Manifestation, also die Macht positiver Gedanken, die selbst basale Fakten wie die Notwendigkeit der Nahrungszunahme außer Kraft zu setzen vermögen? Oder, noch allgemeiner, auf die Kluft, die so oft zwischen Eltern und ihren pubertierenden Kindern herrscht, und die kein noch so gutgemeinter Verständnisversuch überwinden kann?

Die Interpretationsmöglichkeiten scheinen grenzenlos. Beim nach diesem Film jetzt erst recht eingenommenen Abendessen in Cannes mit Schauspielern, Regisseuren und Journalisten, erkennen einige in der weitgreifenden Parabelhaftigkeit von „Club Zero“ eine Schwäche, andere eine Stärke. Vielleicht kann man der Askese nur mit Überfluss begegnen. Auf den Tischen türmen sich die Buffalo-Pizzen, Steaks und Pommes.

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